Neue Sorbonne-Rede von Emmanuel Macron: Rettet Europa, damit es nicht stirbt

Frankreichs Präsident Macron ist ein Risiko eingegangen: Sechs Jahre nach seiner großen europapolitischen Rede sprach er wieder an der Sorbonne über Europa. Diesmal mit einer anderen Botschaft. Konnte er erneut überzeugen?

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Neue Sorbonne-Rede von Emmanuel Macron: Rettet Europa, damit es nicht stirbt

Remakes sind ein grundsätzlich schwieriges Genre – sie müssen sich immer am gelungenen Original messen lassen, an das sich alle auch nach Jahren noch gut erinnern. Das gilt für Kinofilme wie für politische Reden. Man kann davon ausgehen, dass Präsident Emmanuel Macron wusste, welches Risiko er mit einer Wiederauflage seiner berühmten Sorbonne-Rede aus dem September 2017 einging. Einige seiner Berater im Élysée sollen ihm davon abgeraten und ihn gewarnt haben, das könne nur schiefgehen.

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Aber Macron ist nicht nur ein Dickkopf, sondern auch angstfrei und so stand er am Donnerstagvormittag in genau demselben Amphitheater der Pariser Universität Sorbonne, in dem er 2017 seinen ersten flammenden Europa-Appell an die europäischen Nachbarn gerichtet hatte. Damals war er erst einige Monate im Amt, ein 39-jähriges Wunderkind, das es im Laufschritt in den Élysée geschafft hatte, obwohl es mit dem zähen Thema Europa seinen Wahlkampf bestritten hatte.

Macron hielt damals ein leidenschaftliches, mitreißendes Plädoyer für eine neue europäische Souveränität und Autonomie. Er war pausbäckiger als heute, unverbrauchter, unbekannter auch. Sein Optimismus und Tatendrang überraschte und beeindruckte eine europäische Öffentlichkeit. Bisher war man es nicht gewohnt, dass jemand eine Stunde und 38 Minuten lang über Europa reden konnte, ohne dass es langweilig wird.

Diese Übung galt es also noch einmal zu wiederholen, unter erschwerten Bedingungen. Nicht nur in Frankreich, auch in Europa hat sich nach sieben Jahren im Amt eine gewisse Macron-Müdigkeit eingestellt. Zudem warf die französische Opposition dem Präsidenten vor, er missbrauche sein Amt und den Ort der Sorbonne, um sich wider alle Regeln in den Europa-Wahlkampf einzumischen und der eigenen, glücklosen Spitzenkandidatin den Rücken zu stärken.

Valérie Hayer, die Kandidatin der Regierungspartei, liegt seit Wochen in Umfragen abgeschlagen auf Platz zwei. Je nach Umfrageinstitut trennen sie 14 bis 15 Prozentpunkte von dem Kandidaten des rechtspopulistischen »Rassemblement National«. Jordan Bardella, der ein Europa verspricht, in dem er die Regeln der EU neu verhandeln will, sobald sie Frankreich zum Nachteil gereichen, kommt mit seinem »Frankreich zuerst«-Kurs derzeit auf 31 Prozent.

Die Frage ist, ob sich historische Momente an historischen Orten wiederholen lassen. Und ob Macron die Europäer ein weiteres Mal würde überraschen oder beeindrucken können. Die Antwort lautet: Es gelang ihm. Nicht unbedingt, weil das, was er vorschlug, so überwältigend neu war. Sondern weil er eine überraschend kohärente, strukturierte Rede hielt, mit einem weit weniger optimistischen Grundton als 2017. Macron beschrieb an diesem Donnerstag ein Europa in Gefahr, einen Kontinent, der seine alten Konzepte überdenken und erneuern muss, wenn er überleben möchte.

Er tat dies von Beginn an mit dramatischen Worten. »Unser Europa ist sterblich. Es kann sterben und ob es das tun wird, hängt von unseren Entscheidungen ab. Und die müssen wir jetzt treffen«, sagte er, sehr ernst, sehr besorgt. Das Europa von heute werde bedroht, es befinde sich an einem Wendepunkt. »Aber wir sind gegen das Risiko, dem wir ausgesetzt sind, nicht genügend gewappnet«, so Macron. »Wir sind zu langsam, nicht ehrgeizig genug.«

Um die Lage zu verändern, blieben vielleicht fünf, vielleicht zehn Jahre, »aber wahrscheinlich sind es eher fünf«. Ein fragiles Europa in einer veränderten, düsteren Welt – das war das Grundthema der 100 Minuten langen Rede. Macron sieht den alten Kontinent von mehreren Seiten bedroht. Geopolitisch und sicherheitspolitisch durch den russischen Angriff auf die Ukraine und den Rückstand der Europäer in der weltweiten Wiederaufrüstung.

Auf wirtschaftlicher Ebene sei die europäische Wettbewerbsfähigkeit bedroht, »weil andere sich nicht an die strengen Regeln halten, die wir uns selbst auferlegt haben«. Zudem sei man dabei, einen Kulturkampf zu verlieren: »Wir haben zu lange geglaubt, dass unser Modell unfehlbar ist. Aber nun erleben wir, dass unsere Demokratien kritisiert und unsere Werte infrage gestellt werden.«

Drei neue Herausforderungen gelte es zu bewältigen, so Macron, und natürlich hatte er Vorschläge mitgebracht, wie Europa das zuvor geschilderte, nahezu apokalyptische Szenario überleben und als gestärkte, souveräne Macht aus ihm hervorgehen könnte.

Dazu gehört für den französischen Präsidenten vor allem eine glaubwürdige, europäische Verteidigungsstrategie mit kompatiblen Waffensystemen, einer schnellen Eingreiftruppe, der nuklearen Abschreckung als zentrales Element und einer eigenen europäischen Rüstungsindustrie. Erneut wiederholte er seine Forderung, dafür gemeinsam Schulden aufzunehmen wie schon in der Pandemie.

Und Macron verteidigte seine Forderung nach »strategischer Ambiguität«, die er Ende Februar in Paris erstmals erhoben hatte, als er die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine nicht ausschließen wollte. In Berlin hatte Kanzler Olaf Scholz sich damals besonders laut von Macrons Vorschlag distanziert.

Auch in Wirtschaftsfragen forderte Macron neue Konzepte, das bisherige Wachstumsmodell müsse überdacht, die auf dem Kontinent bestehende Überreglementierung gestoppt werden. Man habe mit vielen Regelungen bis ins letzte Detail zu viele Wettbewerbsnachteile gegenüber ausländischen Konkurrenten geschaffen. Er forderte eine Verdoppelung der EU-Investitionsgelder und eine neue Kapitalmarktunion innerhalb von zwölf Monaten.

Und es gelte, einen Kulturkampf zu gewinnen. Angesichts der aufkommenden nationalistischen und populistischen Bewegungen müsse der Kontinent umso mehr seine humanistischen Werte verteidigen: »Denn es ist der Humanismus, der uns von den anderen unterscheidet«, so Macron.

Es gibt nicht viele europäische Politiker, die ihrem Publikum eine 100 Minuten lange Rede zu Europa zumuten und dabei den Bogen von Raketenabwehrsystemen über einen zukünftigen gemeinsamen, kohlenstofffreien Energiemarkt bis zu der digitalen Gefahr für europäische Kinder und Jugendliche spannen. Für die will Macron ein Digitalverbot unter 15 Jahren erwirken (»Weil man Kinder in diesem Alter auch nicht allein in den Dschungel schicken würde«). Sein Engagement für Europa ist vielleicht das konstanteste Element des Politikers Macron, der sich in anderen Bereichen weitaus wankelmütiger oder, je nach Interpretation, flexibler gezeigt hat.

Der französische Präsident wird mit seiner zweiten Sorbonne-Rede und ihren vielen Windungen und detailreichen Vorschlägen wahrscheinlich keinen Europa-Wahlkampf für seine Partei entscheiden können. Aber er hat demonstriert, dass auch ein Remake gelingen und wach rütteln kann. Nun liegt es am Rest Europas, darauf zu reagieren.

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