Bloß nichts ändern: Woran die Ampelregierung scheitert

bloß nichts ändern: woran die ampelregierung scheitert

Schon Fürst Giuseppe Tomasi di Lampedusa sagte: „Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern“

Es herrscht zu viel Stillstand im Land, darauf können sich in diesen Tagen die allermeisten verständigen, Streiks, Bauernproteste und wirtschaftliche Stagnation bieten ja auch bestes Anschauungsmaterial. Wenn gefragt wird, warum die Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP in Umfragen zusammen gerade noch auf 30 bis 35 Prozent der Stimmen kommen, dann läuft die Antwort meist darauf hinaus: Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner haben, weil sie sich durch Dauerstreit selbst blockieren, im Land zu wenig verändert, jedenfalls nicht an den richtigen Stellen.

„Wir brauchen so etwas, was man Agenda 2030 nennen könnte“, verlangte zuletzt etwa der Ökonom Clemens Fuest, Chef des Münchener ifo-Instituts, in Anklang an jene „Agenda 2010“, mit der ein Sozialdemokrat namens Gerhard Schröder einst das Sozialsystem umkrempelte. Etwas anders formulierte es Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger, er fordert schon seit Längerem von der Bundesregierung mehr „Mut zur Veränderung“.

An Wünschen nach mehr Tatkraft fehlt es auch von anderer Seite nicht. Die Klimakleber etwa wollen zwar nicht mehr kleben, sondern ins Europaparlament einziehen – aber eines ändert sich nicht: der Wunsch nach größtmöglicher Änderung der Klimapolitik.

Stillstand oder Übermaß an Veränderung?

Tatsächlich haben sich die drei Koalitionsparteien durch Streitereien zuletzt oft blockiert. Weil die einen die Wirtschaft durch staatliche Investitionen beleben wollen und die anderen im Gegenteil durch ein Zurückdrängen des Staates, geschieht im Zweifel keins von beidem. Vergünstigungen, die mit großem ­Aplomb verkündet wurden, fallen wenig später aufgrund von Finanznot aus. Und Kompromisse in der Europäischen Union, von den einen mühsam ausgehandelt, werden kurz darauf wieder kassiert.

Aber ist ein Zuviel an Stillstand wirklich die Ursache für den Verdruss? Oder in Wahrheit doch ein Übermaß an Veränderung?

Schließlich hat die Regierung die Bevölkerung in den ersten beiden Amtsjahren durchaus gehörig unter Stress gestellt – erst unfreiwillig, dann aus eigenem Entschluss. Zunächst einmal führte der russische Überfall auf die Ukraine im Fe­bruar 2022 ein Übermaß an Veränderung herbei. Steigende Energiekosten und generell höhere Preise waren die im Alltag spürbaren Folgen, ein neues Bedrohungsgefühl das Symptom der latent spürbaren Zeitenwende. Und das alles, nachdem bereits die Corona-Jahre an den Nerven der Leute gezerrt hatten.

Wendepunkt Heizungsgesetz

Den Absturz in der Popularität erlebte die Regierung jedenfalls nicht durch ein Zuwenig, sondern durch ein Zuviel an Aktivität. Die entscheidende Wende markierte im vorigen Frühjahr das berüchtigte Heizungsgesetz. Es war schlecht gemacht und noch schlechter kommuniziert, aber einiges spricht dafür, dass nicht nur die handwerklichen Mängel den Sturm der Entrüstung auslösten. Die Veränderung an sich schreckte die Leute auf, kaum dass sie sich vom ersten Schock über die Energiekrise erholt hatten.

Die zuvor bloß latente Sorge vor den Folgen von Krieg und Klimawandel drang auf einmal ganz konkret ins engste Lebensumfeld ein: ins eigene Heim. In einer Allensbach-Umfrage aus dem Mai befürwortete zwar eine große Mehrheit der Deutschen den Klimaschutz ganz allgemein. Allerdings lehnten 80 Prozent der Befragten das geplante Verbot neuer Öl- und Gasheizungen ab.

„Gesellschaftlich gibt es ein Gefühl der Ermüdung durch die vielen Krisen der zurückliegenden Jahre“, räumte Vizekanzler Habeck damals im Interview mit der F.A.S. selbst ein. „Diese Veränderung war mir zuerst nicht so klar, und vielleicht habe ich deshalb in der Situation nicht mehr alles richtig gemacht.“

Im ersten Jahr nach der Bundestagswahl ging die Sache gut, weil das Neue und Andere von außen kam, während deutsche Politiker mit dem Bewahren beschäftigt waren: Den Stopp der Gaslieferungen hatte Putin verursacht, jetzt sorgte der grüne Wirtschaftsminister dafür, dass der fossile Brennstoff von anderswo kam, und der Finanzminister von der FDP nahm kräftig Schulden auf, damit die Leute von den Kosten nicht so viel spürten.

Dinge wieder in Form bringen

Seit die Regierung wieder mehr agiert als reagiert, sinken ihre Beliebtheitswerte. Politische Entscheidungen gelten jetzt nicht mehr als notwendige Krisenreaktion, sondern als Änderungen um des Veränderns willen, als gleichsam ideologische Vorgaben einer selbst ernannten Fortschrittskoalition – ganz gleich, ob es nun um Heizungen geht oder um den Agrardiesel, um Einbürgerungen oder die vorsichtige Cannabis-Legalisierung. Dabei ist, bei allen einzelnen Fortschritten der zurückliegenden Jahrzehnte, den allermeisten der Glaube an einen umfassenden Fortschritt schon lange abhandengekommen.

Dabei ist die Idee eines Voranschreitens der Menschheit zu immer höheren Entwicklungsstufen, das man mit neuen Gesetzen entweder vorantreiben oder zumindest nachvollziehen muss, nur einer der möglichen Antriebe für Reformprozesse. Der andere liegt in einem zyklischen Bild von Geschichte: Gesellschaftliche Verhältnisse neigen zu Verfall und Degeneration. Von Zeit zu Zeit muss man die Dinge „re-formieren“, also im wörtlichen Sinn wieder in Form bringen. Für dieses konservative Verständnis von Reform steht der berühmte Satz, mit dem der sizilianische Fürst Giuseppe Tomasi di Lampedusa sein Eintreten für die revolutionäre Gründung des italienischen Nationalstaats begründet: „Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern.“

Von den Motiven sind allerdings die Wirkungen zu unterscheiden. Martin Luther beispielsweise wollte mit seiner großen Kirchenreform zu ursprünglichen Zuständen zurück – und schuf am Ende doch etwas völlig Neues, zum Preis von religiösem Streit und neuen Kriegen. Die preußischen Reformer des frühen 19. Jahrhunderts glaubten an den Fortschritt – und gaben damit zugleich ihren konservativen Widersachern neue Machtmittel an die Hand. Die bekamen nach dem Ende der napoleonischen Bedrohung wieder Oberwasser. Selten sind Reformen komplett gescheitert oder vollends gelungen. Nach einer Phase der Ernüchterung stellten sich die positiven Wirkungen heraus. Aber fast immer waren es andere, als die Reformer ursprünglich beabsichtigt hatten. In den komplexen Gesellschaften der Moderne gilt das mehr denn je.

Kein starkes Motiv für Veränderungen

Was sie alle brauchten, war ein allgemeines Krisenbewusstsein – im preußischen Fall ausgelöst durch die militärische Niederlage gegen das revolutionäre Frankreich, in Luthers Fall durch tatsächliche oder vermeintliche Missstände in der römischen Kirche. Mit diesem Bewusstsein ist es heute aber nicht so weit her. Zwar beurteilten nach den Zahlen der Forschungsgruppe Wahlen zuletzt nur noch 14 Prozent der Deutschen die Wirtschaftslage des Landes als gut. Fragt man aber nach dem eigenen ökonomischen Befinden, kehrt sich das Bild komplett um: Trotz deutlicher Rückschläge sind immer noch 57 Prozent der Befragten damit zufrieden. Ein starkes Motiv, durchgreifende Veränderungen auch im eigenen Lebensumfeld zu akzeptieren, ist das nicht.

So stoßen fast alle Reformen, die theoretisch breite Zustimmung finden, bei ihrer praktischen Umsetzung auf lautstarken Widerstand. Das ist nicht bloß ein deutsches Phänomen. Als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor einem Jahr das Rentensystem reformierte, legten Streiks und Demonstrationen das Land wochenlang lahm. Und US-Präsident Joe Biden konnte seine Klimaschutzpläne nur durchsetzen, indem er sie mit üppigen Steuersubventionen verband. Es ist ein Programm, das Bürger und Unternehmen nichts kostet, im Gegenteil. Dass gerade in Zeiten des Populismus jedwede Veränderung nur noch möglich ist, wenn der Staat dafür sehr viel Geld ausgibt, dürfte einer der Hauptgründe für die wachsende Staatsverschuldung in der westlichen Welt sein.

Das liegt auch daran, dass Gewinne und Verluste von Reformen meist ungleich verteilt sind – und die wenigen, die etwas zu verlieren haben, meist lautstarker auftreten als die vielen, die profitieren könnten. „Der Neuordner hat alle die zu Feinden, die sich in der alten Ordnung wohlbefinden, und laue Mitstreiter in denen, welche bei der Neuordnung zu gewinnen hoffen“, wusste schon der Florentiner Polittheoretiker Niccolò Machiavelli vor einem halben Jahrtausend.

Reformen sind nur dann möglich, wenn keiner verliert

So herrschte unter Politikern, Experten und vielen Normalbürgern schon lange große Einigkeit, dass es mit den überzogenen Agrarsubventionen ein Ende haben müsse – erst recht, wenn sie auch noch umweltschädliche Wirkungen hätten. Kaum standen die Bauern mit ihren Traktoren auf der Straße, wandelte sich das Bild. Auch deshalb gilt eine umfassende Steuerreform nur dann als möglich, wenn niemand verliert. Man müsste die allgemeinen Steuersätze also so weit senken, dass es etwa den Wegfall steuerfreier Nachtzuschläge komplett ausgleicht. Das wäre aber extrem teuer, die Schätzungen beliefen sich schon vor 15 Jahren auf einen mittleren zweistelligen Milliardenbereich.

Ähnlich lief es vor zwei Jahrzehnten mit den Hartz-Reformen. Solange wolkig eine Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe angekündigt war, fanden die Idee fast alle gut. Hinterher war von den Sozialhilfeempfängern, die profitierten, allerdings nichts mehr zu hören. Nur noch von Beschäftigten mit ordentlichem Einkommen, die bei Arbeitslosigkeit durch die Reform am meisten verloren.

Der damalige Kanzler Schröder scheiterte aus einem weiteren Grund. „Das zentrale Problem ist immer: Die unangenehmen Folgen der Reform spüren Sie sofort, die positiven Wirkungen erst in drei bis vier Jahren“, sagte er mal. „Dadurch entsteht eine Lücke, in die demokratisch legitimierte Politik hineinfallen kann.“

Bis zur nächsten Bundestagswahl sind es noch anderthalb Jahre. Unwahrscheinlich, dass Scholz, Habeck und Lindner bis dahin noch Unangenehmes planen, ohne vom Positiven am Wahltag schon profitieren zu können. Es sei denn, es kommt die nächste große Krise.

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