Westliche Investitionen in Osteuropa sinken

westliche investitionen in osteuropa sinken

Im ukrainischen Hafen Mariupol wird Getreide in ein Schiff verladen

Viele Jahre lang waren die Staaten in Ostmittel- und Südosteuropas die Lieblinge deutscher und anderer Un­ter­nehmer. Gern ließen sie sich dort nieder, bauten Fabriken und nutzen die Erträge aus der Produktion, um dort weiter zu wachsen. Das kommt nun offenbar zu einem Ende.

Eine neue Studie des Wiener Instituts für Vergleichende Wirtschaftsforschung (WIIW) zu ausländischen Direktinves­titionen kommt zwar zu von Land zu Land abweichenden Ergebnissen. Doch ergibt sich unter dem Strich ein eindeutiges Bild: „Die Entwicklung der ausländischen Direktinvestitionen in Mittel- und Osteuropa hat sich in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 deutlich abgeschwächt, in den meisten Ländern war der Zufluss rückläufig“, sagt WIIW-Ökonomin Olga Pindyuk. „Die Investoren scheinen die wirtschaft­lichen Entwicklungsmöglichkeiten der Region pessimistischer einzuschätzen.“

Bulgarien und Estland noch attraktiv

Unter den EU-Staaten konnten im ersten Halbjahr 2023 nur Bulgarien und Estland mehr Kapital ausländischer Investoren anziehen als im Vorjahreszeitraum, fast alle anderen EU-Staaten fielen sogar hinter das Nach-Corona-Jahr 2021 zurück, auch wegen der deutschen Konjunkturschwäche. In Ungarn und der Slowakei zogen ausländische Investoren sogar netto mehr Kapital ab, als sie neu investierten.

In Polen wurden im ersten Halbjahr 35 Prozent weniger neu investiert, in der Tschechischen Republik sogar 45 Prozent, im Schnitt lagen die Werte der gesamten Region gut ein Drittel unter den Vorjahreszahlen. Ähnlich schwach schnitt nur die unter einer schweren Finanz- und Währungskrise mit hoher Inflation leidende Türkei ab. Dort schrumpften die ausländischen Direktinvestitionen um 31 Prozent.

Besser sieht es in den Ländern des stärker prosperierenden westlichen Balkans und im Osten aus: Serbien sticht mit ei­nem Plus von 34 Prozent ausländischer Direktinvestitionen heraus, wovon zwei Drittel aus EU-Staaten kamen. Pindyuk interpretiert den Anstieg als möglichen Anfang einer Lockerung der Beziehungen Belgrads zu China, die im Rahmen von Pekings Seidenstraßen-Initiative enger geworden waren. Allerdings haben Serbien und China soeben eine Vereinigung zur Förderung von Wirtschaft und Handel gegründet. Erst im Herbst hatte der EU-Beitrittskandidat Serbien mit China ein Freihandelsabkommen geschlossen.

Hohe Zuflüsse in die Ukraine

Erstaunlich sind vor allem die für die Ukraine ermittelten Zahlen für die aus­ländischer Direktinvestitionen. Die haben nach der WIIW-Studie in der ersten Hälfte 2023 um 125 Prozent angezogen – obwohl das Land mitten im Abwehrkampf gegen den russischen Aggressor steht. Studienautorin Pindyuk nennt das „überraschend“. Der Wert der auslän­dischen Direktinvestitionen habe in dem kriegsgeplagten Land sogar das Vorkriegsniveau übertroffen. Voriges Jahr hatte die Ukraine ein Wachstum des Bruttoinlandproduktes von knapp 5 Prozent erreicht, nachdem es im Vorjahr um 29 Prozent abgestürzt war.

Die Zuflüsse ausländischer Direkt­investitionen seien in der Ukraine his­torisch gesehen immer viel niedriger als in den meisten anderen Ländern Osteuropas, sagt Pindyuk der F.A.Z., „aber der Anstieg der Zuflüsse im Jahr 2023 ist immer noch auffällig“. Der Großteil der Zuflüsse im ersten Halbjahr seien reinvestierte Gewinne von Unternehmen gewesen. „Im Grunde sind es also die be­stehenden Investoren, die weiterhin im Land tätig sind, anstatt es zu verlassen.“ So wie der deutsche Bayer-Konzern, der 60 Millionen Euro in eine Saatgutanlage steckte.

Auch bei angekündigten Neuinvestitionen auf der „grünen Wiese“ (Greenfield), die als Goldstandard für Direktengagements und Indikator für weitere Investitionen gelten, schnitt die Ukraine besser ab als die anderen Staaten in Ostmittel- und Südosteuropa.

Überraschungen in der Ukraine

Dort ging die Zahl dieser Projekte ausnahmslos zurück und fiel sogar unter den Wert des Jahres 2020, dem ersten Jahr der Pandemie. Der durchschnittliche Wert der Engagements zog 2023 allerdings von 42 auf 60 Millionen Euro an, was einerseits der hohen Inflation, andererseits kapitalintensiveren Projekten geschuldet gewesen sei.

Überraschend auch die Zahlen der Kategorie „Zusammenschlüsse und Übernahmen“ in der Ukraine. Nur in Polen wurden von Januar bis September 2023 mit 77 mehr Fusionen und Firmenkäufe unter internationaler Beteiligung gemeldet als in der Ukraine mit 62. Das vom Krieg überrollte Land sei neben Estland das einzige gewesen, das 2023 mehr Abschlüsse als im Vorjahr regis­trierte habe.

Pindyuk hat auch dieser Zuwachs von 88 Prozent überrascht. Zwar dürfte, wie in Russland, ein Teil der Abschlüsse auf ukrainische Eigner mit Offshore-Gesellschaften (mit Effekten des sogenannten Round-Tripping) zurückzuführen sein. „Aber ein Blick auf die Liste der Geschäfte legt nahe, dass nicht wenige Investments – vor allem im Energie- und Landwirtschaftssektor – echt waren“, sagt Pindyuk. So habe der französische Energiekonzern Total in den ukrai­nischen Energiemarkt investiert, Kansas aus Dänemark habe Anteile an einer Bekleidungsfabrik erworben. Die aus Asi­en stammende Dragon Capital Investments wiederum sei eine Beteiligung an einem Immobilienleasing-Dienstleister eingegangen, und die litauische BSG Rail Holdings habe sich in eine Ma­schinen­leasinggesellschaft eingekauft.

China hat der Untersuchung zufolge seine Präsenz als Greenfield-Investor in Ostmittel- und Südosteuropa weiter ausgebaut. Mit den von Januar bis Sep­tember angekündigten 40 neuen Projekten hätten sie auch Österreich hinter sich gelassen, das Land, das sich traditionell als unternehmerischer Brückenkopf nach Zentral- und Südosteuropa sieht. Gemessen an neu zugesagten Investitionsvolumina habe China Deutschland, das darin viele Jahre führend war, abermals überholt.

China baut auf der grünen Wiese

Zwar schieben chinesische Investoren der Zahl nach weniger Projekte auf der grünen Wiese an, doch sind die andererseits oft mit mehr Kapital unterlegt, wie beim Bau von Autobahnen, Bahngleisen oder Batterie- oder Autofabriken wie in Ungarn. Das Land, dessen Ministerpräsident Viktor Orbán den Kontakt mit Wladimir Putin nicht scheut und Chinas Staatschef Xi Jinping lobt, war 2023 der Schwerpunkt der chinesischen Inves­titionszusagen. Zehn der 40 osteuropä­ischen Investments wurden in Ungarn angekündigt, sie stehen für 40 Prozent der geplanten Investitionssumme. Darin sind die Milliarden, die dem Ende Dezember angekündigten Bau einer Elek­troautofabrik des Herstellers BYD in Ungarn folgen sollten, noch nicht einmal berücksichtigt.

Spürbare Veränderungen macht die WIIW-Untersuchung auch in der Struktur der neuen ausländischen Greenfield-Investitionen in Osteuropa aus. Zwar seien der Software- und IT-Sektor nach wie vor das beliebteste Ziel der Geldgeber gewesen, allerdings sei deren Anteil an allen Investitionen dramatisch von beinahe 30 auf nur noch 17 Prozent gefallen. Auch die Investitionen in unternehmensnahe Dienstleistungen sanken, es werden dort offenbar weniger Geschäftschancen gesehen. Stattdessen seien Investitionen in erneuerbare Energien, Immobilien und elektronische Kom­ponenten wie Halbleiter stark im Kommen, was die Beschleunigung des digitalen und ökologischen Wandels widerspiegele.

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