Mentale Gesundheit : Sprechen wir zu viel über Depressionen? Ein Experte gibt Antwort

mentale gesundheit : sprechen wir zu viel über depressionen? ein experte gibt antwort

Mentale Gesundheit, Symbolbild

Über mentale Gesundheit sprechen immer mehr Menschen auf Instagram und TikTok. Warum es auch hier ein “zu viel” gibt, und weshalb Diagnosen nicht nur helfen, erklärt der Therapeut und Autor Thorsten Padberg im Interview.

Gerade scheint es zum guten Ton zu gehören, eine psychische Störung zu haben – zumindest auf Instagram und TikTok. Kann man zu viel über “mentale Gesundheit” sprechen?

Auf diesem Gebiet gibt es zwei große potenzielle Fehler: Man übersieht Menschen, denen man helfen sollte. Oder man erklärt Menschen für hilfsbedürftig, die es nicht sind. Ich glaube, wir machen gerade Letzteres. Die Art und Weise, in der wir jetzt über psychische Störungen sprechen, ist für viele Leute nicht hilfreich. Wir hatten jetzt etwa 20 Jahre eine Affäre mit der Psychologie, wir fanden alles an ihr toll. Nun fangen wir an, auch ihre Schwächen zu sehen.

Schwächen? Es ist doch gut, dass mehr Menschen öffentlich über ihre Diagnosen sprechen.

Diagnosen sind ein zweischneidiges Schwert. Kurzfristig wirken sie entlastend und vermindern die Zuschreibung von Schuld. Sowohl die Person als auch das Umfeld denkt dann: XY kann nichts dafür, XY hat Depressionen. Das wirkt erstmal entlastend. Langfristig aber zeigt die Forschung negative Effekte: So fördert eine Diagnose zum Beispiel soziale Distanz. Viele möchten mit der Person weniger zu tun haben. Gleichzeitig verringern medizinische Erklärungen für solche Diagnosen Hilfsangebote aus dem unmittelbaren Umfeld. Die Menschen denken: Ich kann dieser Person nicht helfen, sie ist ja krank. All das steigert wiederum die Hoffnungslosigkeit bei den Betroffenen.

Wenn aber eine Diagnose immer noch solche Folgen hat, muss man dann nicht noch mehr über psychische Erkrankungen sprechen, um gegen das Stigma zu arbeiten?

Auch das Thema Stigma hat zwei Seiten. Die eine Seite betrifft die Schuld – die wird den Betroffenen nach Diagnose weniger zugeschrieben. Das ist auch begrüßenswert. Die andere Seite der Medaille mündet in einem: Ich traue dir das nicht zu; du darfst hier nicht mitmachen; du bist ja krank. Es kommt also zu Ausgrenzung und der Erwartung, der oder die Betroffene wird bestimmte Dinge möglicherweise nie können.

Das vermehrte Sprechen über psychische Krankheiten hilft aus ihrer Sicht also nicht?

Wir können seit den 80er-Jahren die sogenannte Krankheitslast messen, die beziffert, wie stark eine Krankheit in der Bevölkerung verbreitet ist. Diese Zahl ist bei psychischen Erkrankungen relativ stabil. Gestiegen ist aber die Zahl der Behandlungen. Dadurch sollte die Krankheitslast sinken. Das tut sie aber nicht. Das nennt man das Behandlungsparadox. Es macht alle Experten momentan ratlos. Denn es bedeutet: Entweder sind unsere Therapien unwirksam. Oder immer mehr Menschen werden krank – möglicherweise durch gesellschaftliche Faktoren. Oder es gibt einen dritten Faktor, der dazu führt, dass die Art und Weise, wie wir mit Menschen aktuell über ihre psychischen Probleme sprechen, die Bewältigung sogar erschwert. Es gibt Studien dazu, beispielsweise aus Australien. Dort wurde besonders umfassend über Depressionen aufgeklärt. Zehn Jahre später stellte sich heraus: Die Zahl von Erkrankten stieg besonders stark bei Menschen, die in Kontakt mit Kampagnen kamen.

Mentale Gesundheit: Aufklärung ist nicht alles

Wie erklären Sie sich das?

Psychiatrische Diagnosen sind anders als medizinische Diagnosen. Sie erklären nichts, sondern sind beschreibend. Das ist am auffälligsten bei ADHS. Die Abkürzung steht für Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Wer hat ADHS? Leute mit Aufmerksamkeits- und Aktivitätsproblemen. Warum haben sie die? Weil sie ADHS haben. Es ist ein sehr enger Zirkel. Zudem sind die Symptome oft recht unspezifisch. Und viele fragen sich: Hatte ich nicht auch mal Probleme mit der Aufmerksamkeit? Und natürlich erinnert sich dann jeder erst einmal an den einen Moment, an dem er nicht stillsitzen konnte. Das nennt man den Barnum-Effekt: Menschen finden sich in vagen Beschreibungen schnell wieder.

Das klingt, als zweifeln Sie an einer objektiven Diagnostik. Aber es gibt klare Kriterien, festgelegt durch die Weltgesundheitsorganisation.

Ja, aber anders als bei biologischen Krankheiten leiten sich diese Kriterien nicht aus objektiv messbaren Werten ab, sondern sind von einem Expertengremium festgelegt worden – buchstäblich in einem Abstimmungsverfahren. Deswegen gibt es inzwischen auch viel Kritik daran. Noch dazu sind die Kriterien sehr weit auslegbar: Ab wann ist mangelnde Motivation zu wenig, also krankhaft? Wie lange muss das andauern? Sind die zwei Wochen, die aktuell für eine Depressionsdiagnose herangezogen werden, wirklich ausreichend?

Hinzu kommt, dass Menschen damit nicht zum Arzt gehen. Laut einer Umfrage aus dem März 2024 leiden 31 Prozent der Deutschen unter einer psychischen Störung. 16 Prozent davon haben sich diese Störung aber selbst diagnostiziert.

Ja, das ist eines der Hauptprobleme an diesem Diskurs, wie er in den Sozialen Medien geführt wird. Wir haben viele gesellschaftliche Probleme. Viele Menschen fühlen sich einsam oder überarbeitet. Anstatt sich aber diese gesellschaftlichen Probleme anzusehen, werden sie individualisiert. Überspitzt gesagt wird einem dann folgender Gedanke nahegelegt: Nicht die Umstände sind problematisch, sondern du. Das übernehmen viele.

Nun, das eigene Ich zu retten ist ja auch einfacher als die ganze Welt. Der Gedanke ist naheliegend. Viele würden ja auch gern zu einem Experten gehen, aber kriegen keinen Platz.

Ja, es gibt inzwischen sowohl einige, die eine Regulierung von Therapie fordern, als auch einige, die mehr Therapieplätze fordern. Ich schlage einen dritten Weg vor: offene Gesprächsangebote. Stellen, an denen man mit jemandem über seine Probleme sprechen kann. Dazu bräuchte es keine Diagnose als Eintrittskarte.

Was halten Sie von mehr gelebter Selbstfürsorge und Achtsamkeit?

Von Selbstliebe-Seminaren halte ich wenig. Das Bild einer Person, die zu Hause auf dem Boden sitzt und ständig zu sich selbst sagt “Ich bin liebenswert”, finde ich wahnsinnig traurig. Das ist das Einsamste, was ich mir vorstellen kann. Manche aktuell populären Ansätze verstärken ungewollt, dass die Menschen auf jedes einzelne ihrer Symptome achten. Das kann zu ihrer Verstärkung und Katastrophisierung führen. Wir nennen das in der Psychologie “Symptom-Stress”, wenn man also sozusagen “Stress” mit seinen Symptomen bekommt. Das macht es schlimmer.

Was hilft aus ihrer Sicht denn?

Ich bin Verhaltenstherapeut, ich empfehle, verschiedene Perspektiven durchzusprechen: Welche Sichtweise habe ich auf ein Problem? Könnte ich das anders sehen, so dass es für mich erträglicher wird? Oder welche praktischen Veränderungen kann ich durchführen, damit ich aus dieser Situation rauskomme? Was muss ich akzeptieren, weil es jenseits meines Einflusses liegt? Wer könnte mir dabei helfen? Das kann meines Erachtens auch durchaus mit professioneller Hilfe geschehen, benötigt aber nicht unbedingt eine Diagnose im Sinne einer Krankheit.

Viele beschreiben den Erhalt einer Diagnose als sehr erleichternd, als einen Moment, in denen ihnen klar wird, dass sie nicht “falsch” sind.

Ja, das erinnert mich an die Reaktionen auf mein Buch “Die Depressionsfalle”. In diesem beschrieb ich, dass Depressionen nicht biologisch determiniert sind, dass man nicht unbedingt Medikamente nehmen muss. Ich dachte, die Menschen freut diese Nachricht. Aber mir haben das sehr viele sehr übelgenommen. Ich glaube das liegt an der entlastenden Funktion, die solche Diagnosen haben. Man kann die Verantwortung zunächst einmal in seiner Biologie sehen, sich sagen: “Es hat nichts mit mir zu tun”.

Das klingt ein wenig, als ob sich viele einfach zu sehr anstellen.

Nein, überhaupt nicht. Mir geht es darum, dass man nach all den Gründen guckt, warum ich die Dinge nicht auf die Reihe kriege. Das kann zum Beispiel an den Umständen liegen. So nimmt man sich selbst ernst. Zu mir kommen beispielsweise massenhaft Studierende, die die Frage quält, warum sie sich nicht konzentrieren können. Sie suchen den Fehler bei sich. Vielleicht ist aber auch einfach die Vorlesung schlecht, oder nicht jeder ist für ein einsames vor-sich-hin-Studieren geeignet. Vielleicht wäre eine Lerngruppe hilfreicher? Ich warne davor, alles aus dem Alltäglichen in den Bereich des Krankhaften zu verschieben. Denn dann kann man nichts mehr selbst lösen und braucht für alles Experten. Experten, von denen wir viel zu wenige haben.

Erfahren Sie mehr:

Psychologie-Professor: Mitja Back: “Narzissmus ist eine Eigenschaft, die mit ganz viel Kraft daherkommt”

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