Meloni-Prozess in Italien: Wer die „Nazi-Keule“ schwingt

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Luciano Canfora (vorn) mit seinem Anwalt Michele Laforgia auf dem Weg ins Gericht in Bari

Da kommt er. In kleinen Schritten, vom Alter gebeugt, gestützt auf den Gehstock und den Arm seines Anwalts Michele Laforgia. Der Wind fährt durchs schlohweiße Haar. Reporter richten die Kamera auf ihn und halten ihm das Mikrofon unter die Nase. Luciano Canfora, 81 Jahre alt, ist emeritierter Professor der Universität Bari, Altphilologe und Althistoriker von internationalem Renommee. Sein 1987 erschienenes Buch über die „verschwundene Bibliothek“ von Alexandria wurde in 15 Sprachen übersetzt.

Doch an diesem Vormittag betritt Canfora nicht als in die Jahre gekommener Akademiker das Strafgericht zu Bari, der Hauptstadt der süditalienischen Region Apulien. Sondern als im Herzen blutjunger Rebell. Als linksradikaler Rebell, der er schon immer war, seit er 1964 an der Universität Pisa sein erstes Examen in klassischer Philologie ablegte. Und der er bis heute geblieben ist. Der Fachmann für Latein und Altgriechisch ist ein quicker Intellektueller, in aktuellen Debatten präsent, streitbar und umstritten.

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Giorgia Meloni bei einer Pressekonferenz Anfang Januar in Rom

Sympathien für Stalin

Seine Sympathien etwa für Stalin hat Canfora nie verborgen. Für Russland sei der Diktator „sehr positiv“ gewesen, hat er 1994 in einem Essay dargelegt, jedenfalls besser als der Reformer Gorbatschow: Ersterer habe die „Grenzen der Sowjetunion gesichert“, während Letzterer „den Ausverkauf“ der UdSSR betrieben habe. 1999 war Canfora Kandidat bei den Europawahlen, für den „Partito dei Comunisti Italiani“ (PdCI). Die „Partei der Italienischen Kommunisten“ war eine rundherum erfolglose Nachfolgeorganisation des 1991 aufgelösten historischen „Partito Comunista Italiano“ (PCI), nach dem Zweiten Weltkrieg die einst größte und mächtigste kommunistische Partei diesseits des Eisernen Vorhangs. Für ein Mandat in Straßburg hat es für Canfora bei den Europawahlen vor 25 Jahren nicht gereicht. Seit sich 2016 auch noch der von Beginn an moribunde PdCI aufgelöst hat, ist Canfora nach eigener Auskunft ein „Kommunist ohne Partei“.

Vor dem Strafgericht, einem gestalt­losen Funktionsbau am südlichen Rand der Hafenstadt an der Adria mit dem pittoresken „Centro Storico“, hat sich ein Häufchen Unterstützer Canforas versammelt: Gewerkschafter, Studenten und Professoren, Vertreter der Nationalen Vereinigung der Partisanen (ANPI), die das politisch-historische Erbe des Widerstands gegen den italienischen Faschismus hochhält. Canforas Rechtsanwalt Michele Laforgia hat, wie einst sein Mandant, ebenfalls po­litische Ambitionen: Bei den Kommunalwahlen am 9. Juni bewirbt er sich um das Amt des Bürgermeisters von Bari, als Kandidat der linkspopulistischen Fünf-Sterne-Bewegung. Die Hauptstadt Bari und die Region Apulien werden seit Jahr und Tag von der Linken regiert.

Bari erschüttert ein Korruptionsskandal

Zur Unzeit für diese ist in Bari gerade ein monumentaler Korruptionsskandal ans Licht gekommen, in welchen sozial­demokratische Funktionäre der Stadtverwaltung und der apulischen Regional­regierung verwickelt sind. Das geplante Wahlbündnis von Fünf Sternen und Sozialdemokraten, die ihre „rote Bastion“ am Stiefelabsatz verteidigen wollen, ist darüber zerbrochen. Und die Mitte-rechts-Regierung in Rom unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni wittert ihre Chance, nach zwanzig Jahren Opposition im Rathaus von Bari wieder die Macht in der – nach Neapel – zweitgrößten Stadt des Mez­zogiorno zu übernehmen.

Von diesem aktuellen politischen Hintergrundrauschen des Strafverfahrens über Meinungs- und Äußerungsfreiheit konnte noch niemand wissen, als der Rechtsstreit zwischen Giorgia Meloni und Luciano Canfora seinen Anfang nahm. Bei einer Veranstaltung zum Ukrainekrieg am Gymnasium „Enrico Fermi“ in Bari am 11. April 2022 hatte Canfora die damalige Oppositionspolitikerin und Parlaments­abgeordnete Meloni – Regierungschef in Rom war seinerzeit Mario Draghi – als „Neonazi im Herzen“ bezeichnet und als „armes Ding, das man wie eine sehr gefährliche Verrückte behandeln“ müsse.

Meloni ist Nebenklägerin

Canforas Auftritt fand ein breites Medienecho. Es folgte Melonis Anzeige wegen „diffamazione“ (Verunglimpfung). Meloni tritt in dem Verfahren als Nebenklägerin auf und verlangt Schmerzensgeld von 20.000 Euro. Bei der Anhörung am Dienstag in Bari sagte Melonis Anwalt Luca Libra, Canfora habe durch seine „vollkommen ungerechtfertigten Äußerungen“ und „beispiellos vulgären Beschimpfungen“ nicht nur „die Ehre und den Ruf“ seiner Mandantin beschädigt, sondern dieser auch „schweren persönlichen und mora­lischen Schaden als Privatperson und als Politikerin zugefügt“ und müsse deshalb nach geltendem Recht wegen „schwerer Verunglimpfung“ verurteilt werden. Die ist in Italien strafbar, sowohl für Äußerungen bei öffentlichen Veranstaltungen als auch in den Medien.

Canforas Anwalt Michele Laforgia forderte dagegen die Einstellung des Verfahrens mit dem Argument, der Vorwurf der Verunglimpfung könne nicht wegen eines „politischen Meinungsurteils“ erhoben werden. Und schon gar nicht dürfe es zum Prozess gegen seinen Mandanten „durch die Staatsmacht kommen, und die Ministerpräsidentin ist die Staatsmacht“. Zwar war Meloni zum Zeitpunkt der Einlassungen Canforas im April 2022 keine (führende) Vertreterin der Exekutive, sondern als einfache Abgeordnete Teil der Legislative. Sie hätte die Anzeige nach ihrem Aufstieg ins Spitzenamt der Regierung aber zurückziehen können.

Das Hauptverfahren folgt im Oktober

Nach der Anhörung schloss sich die Untersuchungsrichterin dem Antrag der Staatsanwaltschaft sowie der Nebenklage nach Eröffnung des Hauptverfahrens an und legte den Beginn der Verhandlung auf den 7. Oktober fest. Die Verteidigung hat angekündigt, man werde bei dem Verfahren auch Meloni als Zeugin laden.

Schon vor der Anhörung vom Dienstag hatte Canfora gesagt, er werde seinen Vorwurf, die Regierungschefin sei ein „Neonazi im Herzen“ vor Gericht „beweisen“ –anhand zahlreicher Schriften und öffent­licher Äußerungen der Regierungschefin selbst. Die entsprechenden Schrift- und Tondokumente sollen bei dem Verfahren als Beweismittel vorgelegt werden.

Meloni ist seit 2014 Vorsitzende der Partei „Fratelli d‘Italia“ (Brüder Italiens), die 2012 nach mehreren politischen Häutungen aus dem neofaschistischen „Movimento Sociale Italiano“ (MSI) der Nachkriegszeit hervorgegangen ist. Meloni beteuert, sie habe „niemals im Leben Sym­pathien für Neonazis geäußert“. Außer­dem habe ihre Partei die Wurzeln zum MSI gekappt, versichert Meloni, obschon die „Brüder Italiens“ an MSI-Emblemen wie der Flamme in der italienischen Trikolore festhalten. Meloni bezeichnet ihre Partei als rechtskonservativ. In den meisten Medien, zumal den ausländischen, werden die „Brüder Italiens“ als post- oder neofaschistisch, auch als rechtsextrem oder rechtsradikal beschrieben.

Gegner der rechten Regierung in Rom sagen, mit Verfahren wie jenem gegen Canfora wollten Meloni und deren Partei kritische Äußerungen in der Öffentlichkeit und in den Medien mittels Strafandrohung unterbinden. Der Schriftsteller Roberto Saviano, der Meloni im Dezember 2020 als „Bastard“ beschimpft hatte, wurde bereits zu einer Geldstrafe von tausend Euro verurteilt. Gegen den Sänger der britischen Band „Placebo“, der Meloni bei einem Konzert im Juli 2023 als „Rassistin“ und „Faschistin“ gescholten hatte, hat sie ebenfalls Anzeige erstattet. Tatsächlich scheint es bei dem Prozess in Bari sowie bei den anderen Verfahren wegen Verunglimpfung nicht nur um den jeweils konkreten Fall einer persönlichen Beleidigung zu gehen. Sondern um so etwas wie die Lufthoheit über die politisch-publizistische Debatte: Linke Intellektuelle und linke Medien, die aus Sicht der Rechten jahrelang den öffentlichen und akade­mischen Diskurs beherrscht haben, sollen nicht länger habituell die „Nazi-Keule“ schwingen und Personen beleidigen dürfen, wenn es um andere als ihre eigenen Meinungen geht.

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