Berliner besuchen immer häufiger karitative Essensausgaben: „Das Geld reicht hinten und vorn nicht!“

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Karl hält seinen Kaffeebecher fest in beiden Händen. Er möchte weder seinen Nachnamen nennen noch sein Gesicht erkenntlich zeigen.

Karl isst ein Stück Marmorkuchen und trinkt dazu einen Becher Filterkaffee. Er möchte nur seinen Vornamen sagen. Karl sitzt mit Kumpel Reiner L. für sein Nachmittagskaffeekränzchen zusammen, eine Art Ritual für die beiden.

Sie tauschen sich jeden Montag in der Tee- und Wärmestube in Neukölln aus, über ihre Sorgen, aber auch über politisches Weltgeschehen. Bis zu 350 bedürftige Menschen besuchen in der Woche an fünf Tagen die soziale Einrichtung. Das Besucheraufkommen steigt kontinuierlich an. Die Berliner Zeitung hat sich vor Ort umgesehen.

„Ich wünsche mir, dass mehr für Menschen getan wird, die ihr Leben lang in Deutschland Sozialabgaben abgeführt haben und gearbeitet haben“, sagt Reiner L. Er hat bei einer Gebäudereinigungsfirma gearbeitet. Ein Jahr vor der Rente seine Kündigung erhalten, weil das Unternehmen Insolvenz angemeldet hat.

Er erhält momentan Arbeitslosengeld und ab Dezember die Grundsicherung. „Der Jobvermittler bei der Arbeitsagentur hat gleich abgewunken und mir gesagt, dass ich in meinem Alter schwer vermittelbar bin“, erzählt der 65-Jährige.

Ihn frustriert das. Weil er sich gesellschaftlich ins Abseits gedrängt fühlt, aber auch weil er gern noch weiter gearbeitet hätte. „Das Geld reicht hinten und vorn nicht.“

Auch Kumpel Karl muss zum Monatsende, wie jetzt gerade, „sehr knapsen“, so betont er. Er ist ein Jahr älter und erhält schon eine Grundsicherung vom Staat, weil seine Rente nicht ausreicht. Karl hat mal Tischler gelernt.

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Katja und Patrick Kobiersky und Wilfried Winzer (vorn) bereiten in der Küche die Mahlzeit vor.

Die Männer besuchen viermal in der Woche die Tee- und Wärmestube des Diakoniewerks Simeon, in einem Mehrfamilienhaus in der Weisestraße 34, nahe der U-Bahn Haltestelle Leinestraße.

Die Tee- und Wärmestube hat sich in zwei Lager gespalten. In dem Raum, in dem Karl und Reiner L. sitzen, haben sich überwiegend deutsche Besucher versammelt. In dem Raum nebenan sitzen fast nur Männer aus osteuropäischen Staaten.

Viele der Besucher der Tee- und Wärmestube haben noch viel schwerwiegendere Probleme als Karl und Reiner L. Die meisten seien alkoholabhängig, sagt Aljoscha Kühn, der als Sozialarbeiter beim Diakoniewerk angestellt ist, auch für die Suchtberatung.

Mitunter führt er bei Einlass mit einem Messgerät auch Alkoholkontrollen durch. Wer dann mehr als 0,5 Promille hat, muss wieder gehen. „Wir müssen leider zu solchen Maßnahmen greifen“, erklärt Kühn, „weil das Aggressionspotenzial stark zugenommen hat.“ Ein Besucher aus der Nachbarschaft hat deshalb gerade Hausverbot.

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Diakoniewerk-Chef, Oliver Unglaube (r.), hat neue Kaffeespenden gebracht. Er reicht sie durchs Fenster an seinen Kollegen, Aljoscha Kühn.

Neben den vier fest angestellten Mitarbeitern unterstützen auch zehn ehrenamtliche Helfer das Team. Darunter sind Katja und Patrick Kobiersky. Das Ehepaar engagiert sich dort seit mehr als vier Jahren. Begonnen hatte alles mit ein paar abgelaufenen Tafeln Schokolade, erzählt Patrick Kobiersky.

Der selbstständige Amazon-Lebensmittelhändler aus der Nachbarschaft brachte sie bei der Tee- und Wärmestube vorbei. Inzwischen helfen die Eltern zweier Kinder, 10 und 15 Jahre alt, auch viermal im Monat bei der wöchentlichen Essensausgabe und versorgen die Besucher weiterhin mit Retour- oder Bruchware. Den Marmorkuchen, den es heute zum Kaffee gibt, haben sie auch gespendet.

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Bei einer Ausgabestelle von Laib und Seele der Berliner Tafel in der Schloßstraße in Steglitz werden an diesem Donnerstag auch Blumen verteilt.

Zum vorletzten Weihnachtsfest, das jedes Jahr am 26. Dezember in der Tee- und Wärmestube ausgerichtet wird, haben sie 200 kleine Geschenktüten mit Süßigkeiten aus ihrem eigenen Lebensmittelbestand für die Gäste gepackt. „Wir freuen uns, wenn wir anderen Menschen helfen können und wollen mit unserer Arbeit auch ein Zeichen setzen und noch mehr Nachahmer finden“, sagt der 50-Jährige.

Kürzlich wurde die Tee- und Wärmestube für besonders herausragendes gesellschaftliches Engagement mit dem Eberhard-Diepgen-Preis der CDU Berlin ausgezeichnet. Bereits im September 2022 wurde die Einrichtung mit der Johann-Hinrich-Wichern-Plakette des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz für die Aktion Lunchpakete ausgezeichnet. Die Idee entstand während der Corona-Pandemie, als viele soziale Einrichtungen schließen mussten.

Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) lobte die Arbeit der Helfenden. „Nächstenliebe und Solidarität sind in unserer Gesellschaft keine leeren Worte“, sagt Wegner. Viele Bürgerinnen und Bürger und viele Einrichtungen setzten sich für Bedürftige und für obdachlose Menschen in Berlin ein. „Dieses bürgerschaftliche Engagement verdient unser aller Anerkennung und Unterstützung.“ Es gehe darum, sich um Menschen in Not zu kümmern, zuzuhören und Hilfestellung zu geben, so Wegner.

Neben der Tee- und Wärmestube gibt es noch viele weitere Essensausgaben in Berlin. Zu den größten Einrichtungen zählt die Berliner Tafel e.V. mit 2700 ehrenamtlichen Mitarbeitern, die bis zu 660 Tonnen im Monat an gespendeten Lebensmitteln an 48 verschiedenen Ausgabestellen der Stadt verteilt.

Der große Zuwachs der Gäste hängt unter anderem auch mit dem Krieg in der Ukraine zusammen.

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Die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Berliner Tafel sortieren die Lebensmittel bereits am frühen Morgen, bevor die ersten Besucher gegen Mittag eintreffen.

Die Mitarbeiter müssen ein immer größer werdendes Besucheraufkommen bewältigen: „Die Zahl der Kunden und Kundinnen hat sich auf einem enorm hohen Niveau eingependelt und bewegt sich seit dem Krieg gegen die Ukraine und der Inflation bei rund 75.000 Personen im Monat“, sagt Antje Trölsch, Geschäftsführerin und Pressesprecherin der Berliner Tafel. Zum Vergleich: In 2021 waren es rund 40.000 Menschen im Monat.

Seit dem Jahr 2022 sind nach den Beobachtungen der Berliner Tafel viele geflüchtete Menschen aus der Ukraine als Kunden und Kundinnen in den Ausgabestellen hinzugekommen. Hierzu könne man allerdings keine belastbaren Zahlen beisteuern, weil für die Ausgabe lediglich der Nachweis von Bedürftigkeit und nicht der Nachweis einer Nationalität relevant sei, so die Sprecherin.

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Wilfried Winzer guckt in die Töpfe nach dem Geschnetzelten.

Antje Trölsch legt Wert darauf, niemanden abweisen zu müssen. „Deshalb haben wir im Frühjahr 2022 neben den regulären Laib-und-Seele-Ausgabestellen acht zusätzliche Pop-up-Ausgabestellen eingerichtet“, sagt sie. Dort könnten die Kunden und Kundinnen Lebensmittel erhalten, deren reguläre Ausgabestellen keine Kapazitäten mehr freihaben. „Diese Ausgabestellen waren nur als kurzfristige Interimslösung gedacht, bleiben aber wegen des enormen Bedarfs bis heute unverzichtbar.“

Auch die Tee- und Wärmestube verzeichnet in den letzten fünf Jahren „einen kontinuierlichen Zuwachs der Besucher und Besucherinnen“, sagt der Berliner Armutsbeauftragte des Diakoniewerks Simeon, Thomas de Vachroi. Rund 50 Prozent der Gäste kommen demnach aus osteuropäischen Ländern, sie hätten zumeist keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Das habe sich in den letzten fünf Jahren gegenüber den Vorjahren verändert.

Das habe vor allem mit gestiegenen Lebenshaltungskosten zu tun. Außerdem habe die Gentrifizierung auch im Bezirk Neukölln zu erheblichen Veränderungen geführt. So kommen immer mehr Menschen aus dem Sozialraum in die Einrichtung, die über nur sehr geringe finanzielle Mittel verfügen und die Angebote des kostenfreien Essens, Duschens, der Kleiderkammer nutzen, sagt de Vachroi, „oder die Möglichkeit haben, hier ihre Wäsche zu waschen“.

Um Zugang zu den Ausgabestellen in Berlin zu bekommen, muss am Eingang ein Nachweis zur Berechtigung von Transferleistungen vorliegen.

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Das Ehepaar Katja und Patrick Kobiersky engagiert sich seit 2019 für bedürftige Berliner.

Dirk Schmidt* besucht seit etwa sechs Jahren jeden Donnerstag die Ausgabestelle Laib und Seele der Berliner Tafel in der evangelischen St.-Matthäus-Kirchengemeinde in der Schloßstraße in Steglitz. 450 Euro erhält der 71-Jährige als Rente, den Rest muss er mit staatlichen Leistungen aufstocken. Er hat viel Obst und Gemüse und Joghurts in seine Einkaufstasche gelegt. „Ich versuche, mich trotz meines wenigen Geldes gesund zu ernähren und selbst zu kochen“, sagt er. Als ihn eine Mitarbeiterin der Tafel fragt, ob er nicht noch ein Fertiggericht mit Grünkohl und Kohlwurst mitnehmen will, winkt er schnell ab. „Zu fettig und ungesund“, sagt er.

Was Schmidt bei der Tafel nicht erhält, kauft er in Supermärkten dazu, so sagt er. Manchmal auch ein bisschen Fleisch, wenn er sich das gerade leisten kann. „Ich schlage mich durch. Man muss immer kämpfen“, sagt er. Heute hat er noch eine zweite Tasche dabei. Für seine Nachbarin. Sie kann wegen Atemproblemen nicht selbst kommen.

Neben ihm steht eine junge Frau mit Kinderwagen. Sie legt ein paar Tomaten in ihren Korb. Sie kommt aus der Ukraine und kommt seit zwei Jahren regelmäßig zur Ausgabestelle nach Steglitz. „Ich habe zwei Kinder, zwei und acht Jahre und mich zu versorgen. Das Geld reicht nicht aus bei den steigenden Kosten“, so sagt sie. Die 38-Jährige erhält für sich und die beiden Kinder Sozialleistungen in Deutschland. Ihr Ehemann konnte wegen des Krieges die Heimat nicht verlassen. Es sei für die Familie eine sehr belastende Situation.

In der Tee- und Wärmestube in Neukölln gibt es nach dem gemeinsamen Kaffeetrinken am Montag auch noch eine warme Mahlzeit. Heute steht Geschnetzeltes und Nudeln auf dem Speiseplan. Ein obdachloser junger Mann, der anonym bleiben möchte, steht in der Schlange und holt sich eine große Portion. „Das Essen ist gut hier“, sagt er.

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Katja und Patrick Kobiersky schneiden den Kuchen für die Gäste.

Der 68-jährige Wilfried Winzer befüllt die Teller an der Ausgabe. Er hat bis vor seiner Rente als Fotograf gearbeitet, unter anderem beim Deutschen Gewerkschaftsbund. Seit vier Jahren engagiert er sich in Neukölln ehrenamtlich in der Küche.

Draußen pöbelt der Nachbar, der das Hausverbot erteilt bekommen hat. Doch die Mitarbeiter sind geschult, mit solchen Menschen umzugehen. Wenn sie einen Konflikt partout nicht lösen können, rufen sie die Polizei zur Hilfe. „Das kommt zum Glück nur selten vor“, erklärt Sozialarbeiter Aljoscha Kühn.

Die Helfenden unterstützen nicht nur bei der Organisation, sondern hören sich auch die Sorgen an. „Viele Schicksale entstehen nach Trennungen. Die Menschen verlieren dann den Halt und manchmal auch die Wohnung“, weiß Patrick Kobiersky.

Doch er versucht, das Leid nicht mit nach Hause zu nehmen und sich so weit wie möglich abzugrenzen. Als er kurz nach 19 Uhr die Räume der Tee- und Wärmestube verlässt, muss er nur ein paar Meter weiter bis zu seiner Wohnung gehen.

„Es ist doch nichts dabei, anderen Menschen zu helfen“, sagt Patrick Kobiersky. „Wenn jeder ein bisschen mit anpacken würde, wäre die Welt auch nicht mehr ganz so schlecht.“ In Gedanken ist er bereits bei seinen Kindern. Die warten schon zu Hause auf das gemeinsame Abendessen. Anschließend will er noch ein paar Anfragen seiner Kunden beantworten, die heute wegen seines Ehrenamtes liegen geblieben sind. Aber durch die freiwillige Arbeit hier merke Patrick Kobiersky erst, wie dankbar er sein kann, eine Familie, ein Zuhause und einen Job zu haben.

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