Letzte Worte am russischen Gericht: Gerechtigkeit wird hier zum Wunder

letzte worte am russischen gericht: gerechtigkeit wird hier zum wunder

Farcenhafte Vorstellung: Die Regisseurin Schenja Berkowitsch (Mitte) und die Dramatikerin Swetlana Petrijtschuk (links) erwarten die Verlängerung ihrer Haft.

Anfang Januar traf ein Moskauer Gericht die Entscheidung, die Regisseurin Schenja Berkowitsch und die Dramatikerin Swetlana Petrijtschuk nicht aus dem Gefängnis zu entlassen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die beiden Frauen bereits fast acht Monate in Untersuchungshaft verbracht – und noch immer läuft ein Ermittlungsverfahren zur Strafsache „Rechtfertigung von Terrorismus“, den ihr Theaterstück angeblich beinhalte. Mehrmals hatten die Anwälte während dieser Zeit darum ersucht, die Angeklagten aus der Haft zu entlassen und stattdessen unter Hausarrest zu stellen (Berkowitsch hat zwei adoptierte Kinder mit Auffälligkeiten in ihrer Entwicklung), und jedes Mal entschied das Gericht, sie in Untersuchungshaft zu belassen.

In einem russischen Prozess haben Angeklagte die Möglichkeit, vor der Urteilsverkündung das Wort zu ergreifen, um das sogenannte „letzte Wort“ zu sprechen. Auch Berkowitsch wurde dies gewährt. Sie saß in dem Kasten aus Panzerglas, in den man in Moskauer Gerichtssälen die Angeklagten sperrt, und wandte sich in Versen an das Gericht.

Beliebt durch Poesie gegen den Krieg

Berkowitsch ist nicht nur Regisseurin, sondern auch eine gestandene Dichterin. Die Zeit zwischen dem Beginn der großangelegten Invasion in die Ukraine und ihrer Verhaftung kann man als Blüte ihres Schaffens und den Höhepunkt ihrer Popularität als Poetin ansehen. Ihre Gedichte spiegeln den Seelenzustand eines Menschen wider, der sich nicht mit den Verbrechen ihres Landes abfindet, es aber weiterhin liebt. Berkowitsch veröffentlichte ihre Gedichte regelmäßig in den sozialen Netzwerken, wo sie abertausend Mal angeklickt und gelesen wurden. Viele meinen, dass gerade ihre Antikriegsgedichte sich als erschwerender Umstand in ihrem Fall erwiesen haben und man gerade deswegen die Angeklagten mit einer Grausamkeit behandelt, die selbst im aktuellen russischen Kontext hervorsticht.

Die ersten Wochen ihrer Haft verbrachte Schenja Berkowitsch in einer Einzelzelle. Als im November ihre Großmutter starb, ließ man sie zwar unter Bewachung zur Beerdigung, allerdings ohne ihr dort die Handschellen abzunehmen. Man ließ sie auch nicht zu ihren Verwandten, nicht einmal zu ihren Kindern.

Das gereimte „letzte Wort“, das Berkowitsch nach acht Monaten Untersuchungshaft vortrug, ist ein Poem über die Absurdität und die Hoffnungslosigkeit.

Jedes einzelne Argument sei im Laufe des Gerichtsverfahrens x-mal wiederholt, auf falsche Beschuldigungen immer wieder hingewiesen worden, heißt es in dem Gedicht, auf etwas zu hoffen sei sinnlos. Höchstens auf ein Wunder – denn Rechtmäßigkeit eines Gerichtsurteils und Wunder seien in Russland Synonyme. Doch mit einem großen Wunder sei ohnehin nicht sonderlich zu rechnen: Eine unglückliche Frau und ihre Kinder nicht weiter zu quälen – allein das wäre die pure Zauberei.

Das gereimte „letzte Wort“ von Schenja Berkowitsch durchbricht die übliche graue Routine, zu der Strafprozesse in Russland verkommen sind. Die Beschuldigungen gegen Berkowitsch und Petrij­tschuk sind absurd. Die Machtorgane demonstrieren mit dreistem Zynismus, dass dieser Prozess politisch motiviert ist: Die in Frage stehende Theateraufführung, der man vorwirft, die Grundlagen des Staates untergraben zu wollen, war erfolgreich genug, um von demselben Staat 2022 einen der bedeutendsten Theaterpreise, die „Goldene Maske“, zu erhalten. Jedem ist klar, dass die Inszenierung nur ein Vorwand ist und die jungen Frauen verurteilt werden für ihre Protesthaltung und ihre feministischen Ansichten, die in Russland seit Kurzem mit Extremismus gleichgesetzt werden.

Das Gericht simuliert Rechtmäßigkeit

Bei alldem braucht das Gericht die ­Simulation von Rechtmäßigkeit. Der Anschein der Unabhängigkeit russischer Gerichte (die in Wirklichkeit ausschließlich auf Befehl von oben handeln) ist elementarer Bestandteil der russischen Innenpolitik. Auf Pressekonferenzen wird Wladimir Putin regelmäßig nach dem Schicksal dieser oder jener Menschen gefragt, die aufgrund immer neuer politischer Paragraphen vor Gericht stehen – in ähnlichen Fällen wie dem von Berkowitsch und Petrijtschuk. Der russische Präsident betont ein ums andere Mal, „unsere russischen Gerichte“ seien absolut unabhängig und er, Putin, könne da überhaupt keinen Einfluss nehmen, man müsse abwarten, bis alles nach Recht und Gesetz verhandelt werde.

Daher ist es wichtig, dass der Ablauf einer russischen Gerichtsverhandlung äußerlich an amerikanische Gerichts­serien erinnert. Fast immer werden Publikum und sogar Journalisten im Saal zugelassen, Anwalt und Ankläger halten ihre Plädoyers, und vor der Urteilsverkündung wird dem Angeklagten wie gesagt die Möglichkeit gewährt, seine Rede zu halten, das „letzte Wort“ zu sprechen. All das hat keinerlei Einfluss auf den Urteilsspruch, der politisch unwiderruflich feststeht und in besonders wichtigen Fällen durch einen direkten Anruf aus dem Kreml befohlen wird.

Die letzte Bastion des freien Wortes

Das „letzte Wort“ des Angeklagten wird nicht zum ersten Mal in Russland zu einer Botschaft an die Gesellschaft. Dieses Phänomen hat eine lange Tradition. Im Russischen Reich wurden die „letzten Worte“, vorgetragen von Revolutionären vor Gericht, zu Proklamationen gegen die Regierung. Ähnliches geschah in der UdSSR während der Periode der Stagnation. „Letzte Worte“, von Dissidenten vor Gericht ausgesprochen, wurden unter der Hand verbreitet. Im heutigen Russland setzt sich diese Tradition nicht nur fort, sondern erhält eine besondere, man kann sagen, nie dagewesene Bedeutung.

Es ist paradox, aber der Glaskasten der Angeklagten im Gerichtssaal ist der letzte verbliebene Ort, wo ein Mensch noch den Mund aufmachen kann. Schlicht deshalb, weil spontane mündliche Rede rein physisch keiner Zensur unterzogen werden kann. Es wäre also keine Übertreibung zu sagen, dass im heutigen Russland der Gerichtssaal, in dem Andersdenken verurteilt wird, die letzte Bastion des freien Wortes ist. Ein Ort, an dem artikuliert werden kann, was man nirgendwo sonst mehr äußern kann.

„Letzte Worte“ werden zum öffentlichen Ereignis

Gewöhnlich werden diese Reden heimlich von einem im Gerichtssaal Anwesenden mit dem in der Hosentasche verborgenen Handy aufgezeichnet. Manchmal gelingt es auch einem Angeklagten, die handschriftlichen Notizen über den Anwalt weiterzugeben. Sie werden in den sozialen Netzwerken, auf Telegram-Kanälen veröffentlicht. Nahezu alle werden zum öffent­lichen Ereignis.

Mit der jahrelangen Serie politischer Prozesse und zunehmend schärferer Zensur an allen Fronten, von Massenmedien bis hin zu Buchveröffentlichungen, hat sich das „letzte Wort“ zu einem eigenen literarischen Genre entwickelt – dem Manifest.

Wichtige Beispiele sind die Auftritte der Dichterin Alla Gutnikowa, die 2021 zusammen mit ihren Kollegen der unabhängigen Studentenzeitschrift DOXA vor Gericht stand, sowie des oppositionellen Politikers Wladimir Kara-Mursa, der unter dem konstruierten Vorwurf des Hochverrats zu unglaublichen 25 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, oder der Künstlerin Sascha Skotschilenko, die im November 2023 wegen einer künstlerischen Antikriegsaktion sieben Jahre Gefängnis bekam. Alle diese Auftritte sind den wichtigsten Ideologemen des heutigen Russlands gewidmet – dem Leben im Angesicht des Schreckens (Gutnikowa), der Möglichkeit, dass denjenigen, die Krieg und Repression unterstützen, ein Licht aufgehen möge (Kara-Mursa), und der Haltung zum Krieg (Skotschilenko).

Die Inszenierung des Gerichts wird desavouiert

Schenja Berkowitschs Rede in Reimform vor Gericht hebt die literarische Tradition des „letzten Wortes“ auf eine neue Ebene, nicht nur die des Textes, sondern auch die der Geste, der Aktion. Es ist eine künstlerische Performance, welche die totale Inhaltslosigkeit des Gerichtsverfahrens unterstreicht. Das Drehbuch des Gerichts, das Urteil – all das steht im Vorhinein fest wie im Theater, mit dem sich Berkowitsch professionell befasst. Die gereimte Rede vor Gericht unterstreicht, wie inszeniert das Ganze von vorne bis hinten ist. Ist das Gericht nur eine Inszenierung, dann müssen auch die Reden entsprechend vorgetragen werden – in gebundener Rede wie Theaterstücke von Alexander Gribojedow und Alexander Puschkin, die in russischen Schulen zur Standardlektüre gehören.

Einige Wochen nach Berkowitschs Auftritt im Gericht produzierte der Regisseur Roman Liberow, der noch vor der Großinvasion in die Ukraine aus Russland emigriert war, ein Musikvideo basierend auf dem Text ihres „letzten Wortes“.

Schenjas Text sprechen die Schauspielerin Tschulpan Chamatowa, die Rapper Vladi und Ligalize, die Journalistin Katerina Gordejewa und andere bekannte Gesichter der russischen Protestkunst, die Russland verlassen haben. Einige an dem Projekt Beteiligte, beispielsweise der Zeichner des Videoclips, haben entschieden, anonym zu bleiben, da sie ­Repressionen seitens der russischen Machthaber befürchten.

Stimmen einer Generation

Liberow sagt, ihm sei es wichtig gewesen, die Stimme seiner Generation zu Wort kommen zu lassen. Alle, die an dem Videoclip beteiligt waren, könne man als profilierte Vertreter der „Generation der Nicht-Einverstandenen“ bezeichnen, also derjenigen, die sich in der kurzen Zeit relativer russischer Freiheit formiert haben. „Nicht Prominente und auch nicht meine Freunde habe ich versammelt“, sagt er, „vielmehr habe ich mit markanten Phänomenen der gegenwärtigen Epoche gearbeitet. Schenjas Rede ist ein solches Phänomen. Das Musikvideo ist die zeitgemäße Ausdrucksform. Alle am Projekt Beteiligten, die Schauspielerin, die beiden Rapper, die Journalistin, sie alle sind Stimmen dieser Generation, es ist ein Projekt über diese Generation im Kontext dieser Zeit.“

Der von Liberow produzierte Videoclip ist nicht das erste Projekt, das durch das Phänomen des „letzten Wortes des Angeklagten“ angestoßen wurde. Vor anderthalb Jahren baten mich die Schauspielerin Alissa Chasanowa und der Regisseur Maxim Didenko, ein Stück zu schreiben, das auf diesen Auftritten basiert. Das Stück wurde in englischer Sprache am Maxim Gorki Theater Berlin aufgeführt.

Kriegsgegner in Russland gehen in die innere Emigration

Später druckte der Emigrantenverlag Freedom Letters, der Texte veröffentlicht, die aus Zensurgründen in Russland nicht erscheinen können, einen Sammelband solcher „letzten Worte“ in Putins Russland. In ihrer Gesamtheit stellen sie eine Chronik des Widerstands gegen den Putinismus in Russland dar – sowohl politisch als auch literarisch.

Obwohl all diese Projekte auf eine gewisse Resonanz stießen, stellt sich die Frage: Was für ein Publikum haben sie eigentlich? Was für ein Publikum kann heutzutage die russische Protestkunst überhaupt haben? Bedeutet sie nicht so oder so, offene Türen einzurennen, also Kommunikation mit jener Minderheit, die ohnehin mit der Botschaft dieser Protestwerke einverstanden ist?

Die russische Gesellschaft ist derzeit gespalten. Die Mehrheit ist benebelt von staatlicher Propaganda und hält aufgrund politischer Paragraphen Beschuldigte tatsächlich für „Verräter“. Aber auch Menschen, die gegen Putin und den Krieg eingestellt sind, entfernen sich immer mehr von der Protestgemeinde in der Emigration. Dafür gibt es technische Gründe – Facebook, Instagram und viele andere Internetquellen sind in Russland als „extremistisch“ blockiert, und nicht jedem gelingt es, die Sperren zu überwinden –, aber auch moralische: Das permanente Bewusstsein, in einem verbrecherischen Land zu leben, ist zermürbend. Und so treten die politischen Probleme allmählich in den Hintergrund, die Menschen ziehen sich zurück in ihr familiäres und Alltagsleben, bemüht, unguten Gedanken aus dem Weg zu gehen.

Für den Westen aber wird Russland immer mehr zu einer grauen Zone, einem riesigen Territorium, wo Gesetzlosigkeit herrscht und als Normalzustand hingenommen wird. Repressionen in Russland wundern niemanden: Das ist „nichts Neues“. Darum erzeugt auch der Widerstand gegen diese Repressionen keine mediale und öffentliche Aufmerksamkeit mehr.

Roman Liberow sagt, er und die an seinem Projekt Beteiligten hätten sich nicht zur Aufgabe gemacht, die Gleichgültigkeit zu durchbrechen, mit der immer öfter jene konfrontiert sind, die sich Putins Regime widersetzen. Dieses Projekt ist keine Agitation, sondern der Versuch, die gegenwärtige russische Wirklichkeit künstlerisch darzustellen. Eine Wirklichkeit, in der eine 36 Jahre alte Mutter zweier Kinder aufgrund einer konstruierten Anklage schon fast acht Monate im Gefängnis sitzt, sich in Versen an das Gericht wendet und zurück ins Gefängnis wandert. Und auch das wundert niemanden mehr.

Aus dem Russischen von Beate Rausch.

Anna Narinskaya, 1966 in Moskau geboren, ist eine russische Autorin und Kuratorin. Seit Russlands Großangriff auf die Ukraine lebt sie in Berlin.

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