Krise in Argentinien: Mileis Rosskur und ihre Opfer

krise in argentinien: mileis rosskur und ihre opfer

Feindbild Milei: Demonstranten am 5. April in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires

Es ist schon dunkel, als Claudio seinen Wagen startet. Sein alter Chevrolet Aveo bahnt sich seinen Weg durch die Straßen von Palermo, dem angesagten Stadtviertel von Buenos Aires. In den Bars und Restaurants, darunter ein paar der besten und teuersten der Stadt, herrscht bereits Betrieb. Die ersten Nachschwärmer ziehen durch die Straßen. Junge Paare, Hipster, ein paar Geschäftsleute und Touristen.

Sie verdienen gut oder haben Reserven, was es ihnen erlaubt, weiter auf großem Fuß zu leben. Sie trotzen der Krise und der Inflation, die im Februar über die letzten 12 Monate insgesamt bei unglaublichen 276 Prozent lag. Viele geben ihr Geld lieber für Konsum aus, als es von der Inflation auffressen zu lassen. Doch selbst in Palermo waren die Lokale vor ein paar Monaten voller.

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Nun ist er doch arbeitslos: Claudio

Claudio kennt sie nur von außen. Er wohnt nicht in Palermo, er arbeitet hier. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Haustechniker im Sekretariat für Technologie und Wissenschaft, das in Palermo liegt und vor dem Regierungswechsel noch ein Ministerium war. Umgerechnet 500 Dollar verdient Claudio im Monat. Es ist ein bescheidenes Gehalt, aber kein besonders schlechtes.

Ein Auto für drei Kollegen

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Präsident Javier Milei und Vizepräsidentin Victoria Villaruel bei einer Trauerfeier für die Gefallenen des Falkland-Krieges gegen Großbritannien.

Seit November, sagt Claudio, habe er jedoch einen erheblichen Teil seines Einkommens eingebüßt, weil es nicht mehr vollständig an die Inflation angepasst worden sei. „Im Januar hatten wir 25 Prozent Inflation. Doch die Gehälter wurden nur um 10 Prozent angehoben.“ Und alles werde unaufhörlich teurer.

Claudios Chevrolet biegt auf eine Hauptstraße ein und hält vor einer Ampel. Leute auf dem Weg zur nächsten Bahnstation eilen über die Straße, versuchen noch den Zug zu erwischen, der sie in eine der zahlreichen Vorstädte bringt. Claudio nutzt den öffentlichen Verkehr seit einiger Zeit nicht mehr. Gemeinsam mit zwei Arbeitskollegen teilt er sich die Autofahrt. So sparten sie sich eine Menge Zeit, sagt er.

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In Argentinien lösen Revolutionäre keine Bahnsteigkarten. Demonstration gegen Präsident Milei am 1. März in Buenos Aires.

Die immer spärlicheren Züge seien überfüllt. Und seitdem der öffentliche Verkehr wegen der Sparmaßnahmen der Regierung nicht mehr subventioniert würde, sei das Auto auch nicht mehr viel teurer. Und das, obwohl auch die Benzinpreise steigen, so wie der Strompreis und praktisch alle anderen Preise auch, die lange Zeit durch Kon­trollen und Subventionen künstlich niedrig gehalten wurden. Und das betraf nicht wenige Güter und Dienstleistungen in Argentinien.

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Bei einer Demonstration vor einem Regierungsgebäude in Buenos Aires geben Mitglieder der Bewegung „Movimiento Evita“ Essen aus.

Die Schocktherapie des Präsidenten

Nun ist alles anders. Eine Mehrheit der Argentinier hat sich im vergangenen Jahr für einen radikalen politischen Richtungswechsel entschieden und den libertären und exzentrischen Ökonomen Javier Milei zum Präsidenten gewählt, der Argentinien einer Schocktherapie unterzieht. Das Land ist tief verschuldet, der Staatshaushalt chronisch defizitär. Viele Möglichkeiten bleiben da nicht. „Wir haben kein Geld“, sagte Milei bei seiner Amtseinführung und schwor die Argentinier darauf ein, Opfer zu bringen.

Dann legte er los: Er strich die Subventionen für Energie und den öffentlichen Verkehr sowie gestützte Preise für eine Reihe von Lebensmitteln und andere Produkte. Staatsaufträge wurden suspendiert. Ebenso wurde der künstlich gestützte argentinische Peso massiv abgewertet. Den aufgeblähten Staatsapparat will Milei auf ein Minimum zurückstutzen.

Rund vier Monate nach seinem Amtsantritt konnte Milei nun erste Erfolge verkünden. Erstmals seit über 15 Jahren erzielte Argentinien einen Haushaltsüberschuss in einem Quartal. Allein im März habe der Überschuss rund 276 Milliarden Peso (294 Mio Euro) betragen, sagte er am Montag in einer Fernsehansprache. „Das ist das erste Quartal mit einem Haushaltsüberschuss seit 2008, ein Meilenstein, auf den wir alle stolz sein sollten, insbesondere angesichts des katastrophalen Erbes, das wir zu bewältigen hatten.“

Für Meilensteine wie diesen werden Staatsbetriebe privatisiert. 15.000 Angestellte des öffentlichen Dienstes haben Ende März ihre Kündigung erhalten. Weitere 55.000 stehen auf der Abschussliste, haben jedoch nochmals eine Vertragsverlängerung um drei Monate erhalten. Nach Ostern war es in Buenos Aires zu Demonstrationen gegen die Entlassungswelle gekommen. Die Gewerkschaften riefen zum Streik auf.

Leben von einem Tag zum anderen

Seit acht Jahren ist Claudio im öffentlichen Dienst angestellt. Auch er ist in einer Gewerkschaft, wie praktisch alle Arbeiter in Argentinien. Und er steht zu seiner linksperonistischen Gesinnung und seiner Abneigung gegen Milei. „Früher bot eine Arbeitsstelle beim Staat Sicherheit“, sagt er. Nun könne man nicht mehr planen, lebe von einem Tag zum anderen, ständig in der Angst, keine Vertragsverlängerung zu bekommen und auf der Straße zu landen. Claudio ist verheiratet und hat zwei Kinder im Alter von elf und sechs Jahren. Das jüngere ist leicht behindert und braucht eine Therapie, was bisher Claudios Krankenversicherung übernimmt. Diese Versicherung hat er allerdings nur wegen seines Jobs.

Es hängt nun also vieles für ihn und seine Familie in der Schwebe. Auch unter den Kollegen herrsche ein Klima der Angst, sagt Claudio. „Milei ist ein Vaterlands-Verkäufer. Das Einzige, was er macht, ist, Argentinien zu zerstören. Er will uns wieder zu einer Kolonie machen“, wiederholt er die Slogans, die in den vergangenen Monaten bei den Demonstrationen immer wieder zu hören waren.

Wenn er seinen Arbeitsplatz verliere, müsse er sich wohl wieder mit Gelegenheitsjobs durchschlagen, so wie früher, sagt Claudio. Dinge zu reparieren, darin sei er gut. Einen neuen festen Job zu finden ist nicht einfach im Moment.

Argentiniens Wirtschaft ist in die Rezession geraten. Vier Prozent dürfte sie in diesem Jahr schrumpfen. Die Sparmaßnahmen von Milei haben zwar erste Wirkung gezeigt. Die Inflation ist leicht zurückgegangen. Der Staatshaushalt war Anfang des Jahres ausgeglichen wie lange nicht. Und selbst die staatlichen Reserven erholten sich leicht. An den Märkten herrscht Zuversicht, in Teilen der Bevölkerung auch. Doch so recht weiß niemand, ob und wie rasch sich das Land erholen wird, wann aus dem Schock eine Therapie wird, die zur Genesung führt.

„Es geht kaum noch.“

„Im schlimmsten Fall ziehen wir ins Landesinnere zu meinen Eltern“, sagt Claudio. Die leben in der Provinz Corrientes an der Grenze zu Paraguay. Viel mehr haben sie allerdings auch nicht. Die Rente des Ehepaars liegt bei weniger als 300 Dollar im Monat. „Aber sie haben Land, man kann dort etwas anbauen, damit man nicht verhungert. Mehr nicht. Arbeiten, um zu essen. Das ist mein Notfallplan, wenn hier alles den Bach runtergeht“, sagt Claudio betrübt.

Er habe sich auch schon überlegt, Argentinien zu verlassen, vielleicht nach Skandinavien zu gehen. Doch das sei keine ernsthafte Idee. Manchmal träume er auch von einer zweiten Ausbildung, erzählt Claudio. Automechaniker oder noch lieber Schiffsmechaniker, damit er mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat. Doch an erster Stelle steht jetzt für ihn die Ausbildung der Kinder. Seine Zukunftssorgen teilt Claudio höchstens mit seiner Frau. „Wir versuchen das möglichst von den Kindern fernzuhalten.“

Claudios Chevrolet bewegt sich auf der Schnellstraße immer tiefer in den Conurbano hinein, den riesigen Vorstadtgürtel, wo Millionen Argentinier in meist bescheidenen Verhältnissen leben. Claudios Bruder, der ebenfalls in der Innenstadt arbeitet und auf der Rückbank mitfährt, hat Mate aufgegossen, den er weiterreicht. Ein Feierabendritual der kleinen Fahrgemeinschaft, wie so vieler Argentinier. Beiderseits der Straße sind zerfranste und spärlich beleuchtete Siedlungen zu erkennen. Hin und wieder zieht eine Villa vorbei, ein Armenviertel.

Auf einem Streckenabschnitt säumen hohe Gitter die Straße. „Gegen die Überfälle“, sagt Claudio. In einigen Regionen sei es kompliziert geworden, die Kriminalität habe zugenommen. Es gebe viele junge Leute, die weder studierten noch eine Arbeit hätten und sich auf der Straße herumtrieben. Viele hätten kein richtiges Zuhause mehr, lebten aus dem Müll. „Ich kann mich nicht erinnern, dass es dem Land jemals so schlecht ging.“

„Wir geben alles für das Essen aus“

In den letzten Monaten hat die Armut weiter zugenommen. Über die Hälfte der Bevölkerung lebt statistisch unter der Armutsgrenze. Längst hat sich die Armut in die untere Mittelschicht hineingefressen, auch in das Leben von Claudio und seiner Familie. „Wir geben alles für das Essen aus“, sagt er. Nicht einmal neue Kleider oder Schuhe könne er sich leisten. Die Verkäufe der kleinen und mittleren Unternehmen sind im Januar um 30 Prozent gesunken im Vergleich zum Vorjahresmonat. Bei den Apotheken beträgt der Rückgang fast 50 Prozent. Selbst beim Essen muss gespart werden, wo es geht.

Man sucht nach Sonderangeboten, um dann große Mengen zu kaufen und einzufrieren, erzählt Claudio. Nudeln, Brot und Joghurt machten sie nun selbst. Doch auch Grundnahrungsmittel wie Mehl oder Eier würden immer teurer. Claudio findet das erstaunlich in einem Land, das zu den größten Getreide- und Fleischproduzenten der Welt gehört. Auch das Abendessen der Familie ist dem Sparzwang zum Opfer gefallen. Stattdessen gibt es nun abends etwas Kleines, ein Brötchen, ein Müsli mit Joghurt. „Wir fragen uns ständig, wo wir noch sparen können. Es geht kaum noch.“

Er habe sich immer der unteren Mittelschicht zugerechnet, sagt Claudio und erinnert sich an sein bescheidenes, aber gutes Leben, das er noch vor ein paar Jahren hatte. „Wir gingen fischen, fuhren in den Urlaub. Wir grillten Fleisch, tranken Wein. Das war alles normal.“ Es blieb immer etwas übrig, um etwas am Haus zu verbessern oder auf die Seite zu legen. Claudio erinnert sich, wie er 2010 sein erstes Auto kaufte, den Chevrolet, den er heute noch fährt. Wenig später bekam er seine Anstellung im Ministerium.

„Milei spart alles weg“

Argentinien befand sich damals wie viele Schwellenländer der Region in einem Boom, der größtenteils von der Nachfrage nach Rohstoffen aus China getragen wurde. Doch die damalige linkspopulistische Regierung versäumte es, die Gelegenheit zu nutzen, um den Staatshaushalt auf eine gesunde Basis zu stellen und die Wirtschaft konkurrenzfähig zu machen. Stattdessen wurde der Staat noch weiter aufgebläht und die Wirtschaft abgeschottet. Von der Korruption ganz zu schweigen. Dann war der kurze Boom vorbei, und es ging wieder bergab mit dem Land.

Nach mehr als einer Stunde Fahrt biegt Claudio nach José C. Paz ab, der Vorstadt, in der er lebt. Vorbei an einigen Wohnblocks geht es in ein Viertel mit einfachen Häuschen. Die menschenleeren Straßen werden immer dunkler. Irgendwann rollt der Chevrolet über eine Straße ohne Asphalt. Claudio lebt schon sein ganzes Leben hier, bald 40 Jahre. Seit er sich erinnern kann, sagt er, werde seine Stadt von Peronisten regiert. Doch auch sie hätten es nicht geschafft, die Straßen zu asphaltieren und ein Abwassersystem zu bauen. „Das hat die Leute gegen die Peronisten aufgebracht. Viele haben die Geduld verloren. Vieles wurde falsch gemacht in den vergangenen Jahren. Deshalb sind wird da, wo wir heute stehen“, sagt er. Doch unter der jetzigen Regierung werde das nicht besser werden. „Milei spart alles weg. Wir sind diejenigen, die das größte Opfer bringen, wir, die Arbeiter, die Mittelklasse.“

In einer kleinen Seitenstraße hält Claudio den Wagen an. Er schiebt eine zweifach verriegelte Metalltür auf. Durch eine kleine Werkstatt und die Waschküche gelangt man in den hinteren Teil des Hauses, das schon seinen Eltern gehörte. Die Backsteinwände sind hell gestrichen. An das kleine Wohnzimmer grenzt eine offene Küche. Eine Wendeltreppe führt ins obere Geschoss, das Claudio und seine Frau ebenso wie die Küche selbst ausgebaut haben. Die Familie erwartet Claudio bereits. Die Sorgenfalten des Vaters weichen einem Lächeln.

Das war Ende März. Noch hatte Claudio einen Funken Hoffnung in sich. Wenige Tage später sollte er zum letzten Mal mit seinem Chevrolet aus Palermo von der Arbeit zurückkehren. Als er am Mittwoch nach Ostern im Sekretariat ankam, fand er seinen Namen auf einer Liste mit weiteren 245 Beschäftigten, deren Stellen mit der Begründung der „Restrukturierung des Staates“ von einem Tag auf den anderen gestrichen worden waren.

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