Krieg in der Ukraine: Das "Patriot"-Problem

Abschuss einer

Warum es so lange dauert, Flugkörper für die Luftabwehr zu produzieren – und warum ein Experte zu einer ganz besonderen Lehre aus dem Angriff Irans auf Israel rät.

Das “Patriot”-Problem

Wie wichtig eine breit gestaffelte Luftverteidigung ist angesichts neuer Formen der Kriegsführung, hat das Ergebnis des iranischen Angriffs auf Israel eindrücklich gezeigt: Wie das Institute for the Study of War (ISW), ein Thinktank mit Sitz in Washington, berichtet, bestand der iranische Angriff auf Israel aus 170 Drohnen, 30 Marschflugkörpern und 120 ballistischen Raketen. Davon konnte Israel, unterstützt von seinen Partnern, etwa 99 Prozent abfangen. “Bei uns wären 99 Prozent ganz sicher nicht rausgekommen”, sagt ein Brancheninsider mit Blick auf die deutsche Verteidigungsfähigkeit. Der Aufholbedarf ist enorm. “Das ist eine bittere Erkenntnis.”

Bisher war die Anschaffung zum Beispiel der in den USA produzierten Patriot-Systeme nur auf Abschreckung ausgerichtet, nicht aber für Krisen- und Kriegszeiten, in denen weit mehr davon benötigt werden. Ein einzelnes Patriot-System kann fünf Ziele zugleich bekämpfen, bei einer Reichweite von 68 Kilometern. Es kann so über große Distanzen Kraftwerke und die Zivilbevölkerung schützen. Allein ein Lenkflugkörper für das Luftverteidigungssystem Patriot vom Typ GEM-T, der taktische ballistische Raketen, Flugzeuge und Marschflugkörper abwehren soll, kostet allerdings rund sechs Millionen Euro.

Die ukrainische Luftabwehr fängt nur etwa 16 Prozent der russischen ballistischen Raketen ab

In der Ukraine mangelt es der Luftabwehr an solchen Systeme und Lenkflugkörpern. Nach der Studie des ISW hat die ukrainische Luftverteidigung bei den jüngsten Großangriffen “eine durchschnittliche Abfangrate von nur etwa 16 Prozent bei russischen ballistischen Raketen” und “etwa 75 Prozent bei russischen Marschflugkörpern und Drohnen” erreicht.

Nach dem Eingreifen des Westens zum Schutz Israels fordert die Ukraine nun die gleiche Hilfe für ihr Land. “Die ganze Welt hat an den Aktionen unserer Verbündeten am Himmel Israels und der Nachbarländer gesehen, wie wirksam Einigkeit bei der Verteidigung gegen den Terror sein kann”, sagte Wolodimir Selenskij. Es brauche nur den politischen Willen dazu.

Von Deutschland soll die Ukraine nun ein drittes Patriot-System bekommen. Von Mitte Mai an werden ukrainische Soldaten dafür ausgebildet, etwa von Ende Juni an soll das System dann in der Ukraine zum Einsatz kommen. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) haben zudem ihre Nato-Amtskollegen aufgefordert zu prüfen, ob sie ebenfalls noch Luftverteidigungssysteme abgeben können. Die Unterstützung der Ukraine soll auch Thema beim G-7-Außenministertreffen in Capri sein.

Flugkörper für “Patriot” werden bald auch in Bayern produziert

Gerade das Beispiel Patriot zeigt allerdings, dass der politische Wille allein nicht reicht, gerade wenn es um einen schon mehr als zwei Jahre dauernden Krieg geht. So sollen nun auch in Deutschland Patriot-Lenkflugkörper produzieren werden: Das bayerische Unternehmen MBDA – Hersteller der Taurus-Marschflugkörper – baut in einem Joint Venture mit dem US-Unternehmen Raytheon erstmals eine Fertigung für die Patriot -Lenkflugkörper außerhalb der USA auf. Im Rahmen der European Sky Shield Initiative sollen im Gesamtwert von 5,1 Milliarden Euro unter anderem für Deutschland, die Niederlande, Rumänien und Spanien bis zu 1000 Patriot GEM-T-Flugkörper in Bayern produziert werden.

Aber neben dem Bau der Fertigungshallen bremsen aufwendige Zertifizierungs-, Qualifizierungs- und Abnahmeprozesse – die aus Friedenszeiten stammen. Vor allem aber sind die Lieferketten und die Knappheit bei Bauteilen ein Problem. Elektronik-Baugruppen, Raketenantriebsstoffe, Sprengstoff – da gebe es nur eine Handvoll Anbieter, betont ein Branchenkenner, der wegen der Sensibilität des Themas anonym bleiben will. “Das ist im Moment echt der Flaschenhals.”

Wie bei allen Munitionsfragen, die im Verteidigungskrieg der Ukraine eine immer bedeutendere Rolle spielen, stellt sich auch hier die Frage, ob die Brisanz zu spät erkannt wurde oder es zu lange am politischen Willen gefehlt hat zu helfen. Denn der Aufbau der Produktion wird dauern, die Bundeswehr rechnet mit ersten Lieferungen von etwa 2027 an. 500 Lenkflugkörper will Deutschland kaufen, auch um die durch die Abgaben an die Ukraine entstandenen Lücken aufzufüllen. Sollte der Krieg dann noch andauern, könnte auch die Ukraine von hier mit Nachschub rechnen.

Vonseiten der Industrie wird betont, man habe nicht früher loslegen und auf Halde produzieren können. In Deutschland gibt es klare Grenzen durch das Grundgesetz. Im Artikel 26, Absatz 2, heißt es: “Zur Kriegführung bestimmte Waffen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden.” Wer einfach so produziert, würde sich strafbar machen und müsste Haftstrafen fürchten. Die Rechtslage legt den Unternehmen zufolge hier Fesseln an. In der Rüstungsindustrie bemüht man ein anschauliches Bild für die Situation: Über Jahre sei sie weggesperrt worden, bei Brot und Wasser, jetzt solle sie sofort als potenter Gewichtheber auftreten.

Könnten Nato-Partner von Polen aus helfen, Angriffe abzufangen?

Aus Sicht von Nico Lange, bis 2022 Leiter des Leitungsstabs im Verteidigungsministerium, könnte der Ukraine aber auch auf andere Weise geholfen werden. “Es gibt ja die ganzen Luftverteidigungssysteme, die in Polen an der Westgrenze der Ukraine stehen”, sagt Lange. Wer etwa am Flughafen Rzeszów landet, sieht Patriot-Systeme und andere Abfangsysteme, es ist der letzte Flughafen an der Nato-Ostflanke vor der Grenze zur Ukraine. Bestens geschützt.

Die Reichweite der Systeme könnte genutzt werden, “um etwa 100 Kilometer in die Ukraine hinein den Luftraum schützen”, sagt Lange. “Also um russische Raketen von dort aus über der Westukraine abzuschießen.” Wie im Falle Israels würden von außerhalb des Staatsgebiets Abfangraketen losgeschickt, um russische Drohnen und Raketen zerstören. “Die Radare sehen ja, was da reinfliegt.” Dann hätte die Ukraine in einem weiten Radius einen großen Schutz, könnte dort Soldaten ausbilden, Unternehmen könnten dort sicher wirtschaften. “Und die Ukraine könnte eigene Luftverteidigungssysteme von dort Richtung Osten verlagern.” Lange hält das für “völkerrechtlich völlig gedeckt”.

Nichts anders sei beim Abfangen iranischer Raketen und Drohnen passiert. “Das frustriert die Ukrainer so, dass hier mit zweierlei Standards gehandelt wird.” Überdies sieht er Spielraum, weitere Patriot-Flugkörper kurzfristig, etwa aus deutschen Beständen, abzugeben. “Ersatz ist ja bestellt, man muss da bereit sein, mehr ins Risiko zu gehen.” Zugleich sieht er auch bei Ländern wie Spanien und Griechenland noch Reserven, Patriot-Systeme samt Flugkörpern abzugeben. “Es geht um die Menschen in der Ukraine, ob sie sterben oder nicht.”

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