Kommunalwahlen in der Türkei: Ein gefährliches Amt

kommunalwahlen in der türkei: ein gefährliches amt

Teilnehmerinnen des kurdischen Neujahrsfestes in Diyarbakır.

Es gibt keinen Zweifel daran, dass die kurdische Politikerin Serra Bucak am kommenden Sonntag zur Oberbürgermeisterin von Diyarbakır gewählt werden wird. In der Provinzhauptstadt im Südosten der Türkei steht eine große Mehrheit der Bewohner hinter ihrer kurdischen DEM-Partei. Ob Bucak das Amt auch ausüben wird, ist dagegen nicht sicher.

Seit 2016 hat die türkische Regierung etliche gewählte kurdische Bürgermeister und Stadträte durch staatlich ernannte Zwangsverwalter ersetzt, die der Regierungspartei AKP nahestehen. Rund 80 Prozent der Bewohner sehen darin laut einer Umfrage eine Form der Entrechtung. Die beiden 2014 und 2019 gewählten Bürgermeister von Diyarbakır sind noch immer in Haft. Ihnen wird Nähe zur „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) vorgeworfen, die die EU als Terrorgruppe einstuft. Die Wahlkommission hatte an ihrer Kandidatur nichts auszusetzen.

„Um mich abzusetzen, müssten sie auch mich festnehmen“, sagt Bucak auf Deutsch in der Parteizentrale in Diyarbakır. „Eine Anklage reicht, eine Verurteilung ist nicht nötig.“ Einen Vorwand dafür zu finden, sei nicht schwer. Schon das Wort „Kurdistan“ könne ein Grund sein. Deshalb wägt sie ihre Worte, „um das Amt zu schützen“. Vor ihren Reden bespricht sie sich mit einem Anwalt. Trotz allem hat Bucak die vage Hoffnung, dass die achtjährige Zwangsverwaltung nach der Wahl beendet werden könnte, weil das undemokratische System die kurdischen Kommunen in die Verschuldung getrieben habe. „Sie wissen, dass das System nicht mehr funktioniert.“

In Deutschland Kurdisch gelernt

Als Bürgermeisterin will die 48 Jahre alte Politikerin in Diyarbakır erstmals Fahrradwege einführen und eine Straßenbahn schaffen. Ohne die Zustimmung der Zentralregierung ist die Finanzierung allerdings kaum möglich. „Wenn man gute Ideen hat, kann es sein, dass sie in einer Schublade in Ankara landen.“ Die Politikerin hofft auf eine Städtepartnerschaft mit Zürich und mit Hannover. Die Kontakte stammen aus der Zeit vor der Zwangsverwaltung. Der frühere Oberbürgermeister von Hannover Herbert Schmalstieg ist Beiratsvorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland.

Bucak kam in den Neunzigerjahren mit ihren Eltern nach Deutschland. Ihr Vater wurde als Menschenrechtsanwalt verfolgt. Erst hier lernte sie Kurdisch, weil ihre Mutter die Sprache wegen der türkischen Assimilationspolitik nicht konnte. In Bremen und Köln studierte sie Sozialarbeit, Germanistik und Italianistik und engagierte sich in kurdischen und linken Studentengruppen. „Kurdische Identität war immer ein Thema für mich“, sagt sie. Seit 2006 ist sie zurück in Diyarbakır. Als Pädagogin arbeitete sie mit Kindern, deren Familien in den Neunzigerjahren aus ihren Dörfern vertrieben wurden.

Welche Rolle spielt die PKK?

Sie war Stadträtin, als 2015 der Krieg zwischen der PKK und dem Militär aus den Bergen ins Stadtzentrum von Diyarbakır einzog. Dabei wurden Teile der Altstadt im Bezirk Sur zerstört. Die engen Gassen galten schon vorher als Hochburg des kurdischen Widerstands. Heute steht dort ein Neubaugebiet, das als Touristenviertel dient. „Der Staat wollte die demografische Struktur verändern. Sie haben einen toten Stadtteil geschaffen“, sagt Bucak.

Vor den Häuserkämpfen in Diyarbakır waren Friedensverhandlungen gescheitert, und ein Wahlerfolg der prokurdischen Partei HDP hatte die Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan erstmals um ihre absolute Mehrheit gebracht. Der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş wurde inhaftiert. Gegen die Partei läuft ein Verbotsverfahren, 600 Politikern droht ein Politikverbot. Sie sind geschlossen in eine andere Partei übergetreten, die inzwischen DEM heißt. Der Krieg in Syrien hat die seit 100 Jahren ungelöste Kurdenfrage in der Türkei verschärft. Um kurdische Autonomiegebiete im Nachbarland zu zerstören, tritt Ankara dort als Besatzungsmacht auf.

Bucak wurde durch eine Vorwahl zur Spitzenkandidatin gekürt. Auf diese Weise wollte die Partei der Behauptung entgegentreten, die PKK nehme Einfluss auf die Kandidatenlisten. Zu derlei Anschuldigungen will sie sich nicht äußern. Solche Fragen sollten ihre Parteikollegen in Ankara beantworten, sagt sie. Die Sache ist komplex. Einerseits reichen Forderungen von Kurden nach kulturellen Rechten aus, um als Terrorist gebrandmarkt zu werden.

Anhänger äußern Sympathie für bewaffneten Kampf

Es gibt so viele inhaftierte Parteimitglieder, dass die Verbesserung der Haftbedingungen inzwischen zu den wichtigsten Zielen der DEM zählt. Andererseits verherrlichen viele ihrer Unterstützer den bewaffneten Kampf. Das zeigte sich etwa beim kurdischen Neujahrsfest am vergangenen Donnerstag in Diyarbakır, das von der DEM organisiert wurde. Im Gespräch mit der F.A.Z. beschrieben viele Teilnehmer den 1999 inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan als Held und den türkischen Staat als Feind. Öcalans Geschwister wurden bei dem Fest als Ehrengäste begrüßt.

Es gehört zu den Besonderheiten der kurdischen Politik, dass die Partei viel weiter links steht als die meisten ihrer Wähler. Das gilt vor allem für die Rechte von LGBT-Personen, aber auch von Frauen. Bucak tritt wie alle DEM-Politiker als Teil einer Doppelspitze an. Das System soll auf die konservative Gesellschaft einwirken, in der noch vor einer Generation viele Mädchen gar nicht oder nur wenige Jahre zur Schule gingen. In der Bildung hat sich inzwischen viel verändert, auf dem Arbeitsmarkt ist die Dominanz der Männer noch immer groß. Wenn sie gewählt wird, macht Bucak ihren männlichen Mitkandidaten, der sich in den Stadtrat wählen lässt, zum stellvertretenden Bürgermeister. In der Vergangenheit wurde das Gehalt geteilt. Jetzt darf sie ihres behalten – falls sie nicht doch von einem Zwangsverwalter ersetzt wird.

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