Kommentar: Bei der Grundmandatsklausel muss korrigiert werden

kommentar: bei der grundmandatsklausel muss korrigiert werden

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts eröffnet am 23. April 2024 die mündliche Verhandlung über die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition.

Seit die Ampelkoalition ein neues Wahlrecht beschlossen hat, empört sich die Union. „In rücksichtsloser Weise“ würden Wahlkreisgewinner aus dem Parlament geworfen, wetterte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann jetzt in der Verhandlung am Verfassungsgericht. Sogar die Demokratie sah er gefährdet. Doch gegen den Teil der Reform, der Hermann so aufbringt, spricht rechtlich nicht viel. Das Problem liegt anderswo.

Die Bundestagswahl ist eine personalisierte Verhältniswahl. Mit der Erststimme stimmen Wähler über ihre Wahlkreiskandidaten ab, mit der Zweitstimme entscheiden sie sich für eine Partei. Seit der Reform soll eine Partei nur noch so viele Sitze bekommen, wie ihr nach Zweitstimmen zustehen. Gibt deren Ergebnis nicht für alle Wahlkreisgewinner Sitze her, dann bleiben die „schlechteren Gewinner“ außen vor. Überhang- und Ausgleichsmandate wurden abgeschafft. Nicht jeder Wahlkreis wird im Bundestag vertreten sein.

Das ist eine Schwächung des personellen Elements, die man politisch bedauern kann. Auch das frühere Wahlrecht war aber vor allem ein Verhältniswahlsystem. Den Wählern ist dieses Element wichtiger als das personelle, wie die Sachverständigen in Karlsruhe bestätigten. Die Bindung an Abgeordnete hängt in der Regel auch nicht davon ab, ob diese über den Wahlkreis oder die Landesliste ins Parlament eingezogen sind. Den wenigsten Wählern ist überhaupt bekannt, auf welchem Weg der Sitz errungen wurde.

Rechtlich spricht gegen die Zweitstimmendeckelung nichts, schon gar nicht die Gleichheit der Wahl. Es geht um eine Zuteilungsregel, die für alle gilt und die der Gesetzgeber ändern darf. Ihm steht bei der Gestaltung des Wahlrechts großer Spielraum zu.

Viele Wählerstimmen würden unter den Tisch fallen

Heikel ist ein anderer Aspekt der Reform, die Abschaffung der Grundmandatsklausel. Sie sah vor, dass eine Partei auch dann im Bundestag vertreten ist, wenn sie weniger als fünf Prozent errungen, aber mindestens drei Direktmandate gewonnen hat. Die Linke zog zuletzt nur dank der Klausel in den Bundestag ein; die CSU fürchtet, künftig darauf angewiesen zu sein. Bleibt die Regel abgeschafft und die Partei unter fünf Prozent, dann helfen ihr auch die 45 Wahlkreise nicht weiter, die sie zuletzt gewonnen hat. All diese Wählerstimmen würden unter den Tisch fallen. Das ist nicht nur politisch problematisch, sondern auch rechtlich. Denn Wahlen sollen den gesellschaftlichen Pluralismus integrieren.

Die Grundmandatsklausel ist eine deutsche Besonderheit, die Parteien mit regionalem Schwerpunkt bessere Chance verschaffen sollte. Man kann darin ein Privileg erkennen, auf dessen Fortbestand es keinen Anspruch gibt – und das nicht die Funktion hat, schwindende Wählergunst zu kompensieren. Die Grundmandatsklausel hat aber noch einen anderen Effekt. Sie federt die Wirkung der Fünfprozentsperrklausel ab, die bei jeder Wahl dazu führt, dass Millionen Stimmen unberücksichtigt bleiben.

Anders als eine Zuteilungsregel greift die Sperrklausel in die Wahlgleichheit ein. Bislang hielt das Verfassungsgericht den Eingriff für gerechtfertigt, um eine Zersplitterung des Parlaments zu verhindern. Ohne Grundmandatsklausel würden aber noch mehr Stimmen unter den Tisch fallen, womöglich bis zu 16 Prozent. Wie das zu rechtfertigen sein soll, ist schwer vorstellbar. Hier gibt es Korrekturbedarf.

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