Russland im Krieg: Strategie der Auslöschung

russland im krieg: strategie der auslöschung

Klaglos in der Katastrophe: Das Frauen-Ensemble Soso-Töchter spielt die russische Theaterversion von John Herseys Reportage „Hiroshima“

Wenn man in diesen Tagen in Russland unterwegs ist, spürt man den Krieg in der Ukraine vor allem auf dem Land. Wer mit dem Zug fährt, reist mit Militärs in Tarnfleck, teilt sich Bahnhofswartesäle mit wettergegerbten Zeitsoldaten, die über Mobiltelefonen brüten. Einer, der neben mir im Bahnhof von Tula sitzt, hat seinen Rucksack mit einem bei Armeeangehörigen beliebten Aufnäher geschmückt: „Guten Tag, ich bin ein russischer Okkupant“. Der schwarze Stoffstreifen zitiert das gleichnamige Propagandavideo, das Russlands Ukrainefeldzug in eine Reihe mit der Eroberung von Sibirien, Zentralasien sowie der baltischen Länder stellt, durch sowjetische Industrieansiedlung dort rechtfertigt und der „verfaulten Demokratie“ des Westens eine Absage erteilt. Im Zug sind dann zwei ältere Militärmusiker aus Lipezk, die in den besetzten ukrainischen Gebieten auf Tournee waren und bald wieder dorthin fahren wollen, meine Mitpassagiere.

Doch auch urban-zivile Mitreisende geben sich kremltreu und patriotisch. Eine elegante ältere Kunsthistorikerin, die betont, sie sehe nie fern und sei prinzipiell gegen Krieg, macht die NATO-Osterweiterung im Allgemeinen und den ukrainischen Beschuss des prorussischen Donbass im Besonderen für den Konflikt verantwortlich. Ein Bauingenieur aus Kasan, den seine halbwüchsige Tochter begleitet, findet es unsäglich von den Europäern, dass sie 2015 das Minsker Abkommen ausgehandelt hätten und es dann nicht durchsetzen wollten. Die Tochter, die ein Gymnasium mit Sprachschwerpunkt besucht, erwidert auf meine Frage, wie ihre Mitschüler dächten, dass mir das niemand verraten würde. In der Schule, wo man bei der Abschlussprüfung keine Autoren zitieren darf, die zu „ausländischen Agenten“ erklärt wurden, dächten alle „das Richtige“, sagt die junge Frau. Der Ideologieunterricht im Fach „Gespräche über Wichtiges“ werde an ihrer Schule sehr wichtig genommen, wohl wegen der sprachlich-kommunikativen Ausrichtung. Freunde an einer Schule mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt schauten, sagt sie, in diesen Stunden westliche Filme an.

Der Kfz-Mechaniker will zu den Panzerfahrern

Aus dem Dorf in der Textilregion Iwanowo, wo wir einige Tage verbringen, sind etliche junge Männer in den Krieg in der Ukraine gezogen, weil sie dort ein Vielfaches von dem verdienen, was ein ziviler Job zu Hause einbringt. Am Bahnhof wirbt ein großes Plakat für den Beruf des „Vaterlandsverteidigers“. Während unseres Aufenthalts kommt einer als „Ladung 200“, wie im Militärjargon Gefallene bezeichnet werden, im Sarg zurück. Doch ein junger Kfz-Mechaniker, der demnächst zur Armee muss und ein Video über einen Super-Tank gesehen hat, sagt, er wolle Panzerfahrer werden, als wir abends zusammensitzen. Sein älterer Bruder, der selbst ein halbes Jahr in einem Militärunternehmen gedient hat, sich jetzt aber lieber um sein Kind kümmert, erklärt ihm, warum das ein Himmelfahrtskommando wäre.

Die Besucherin aus Westeuropa erregt Neugier. „Gehen Ihnen in Deutschland die ukrainischen Flüchtlinge mit ihren Demos auf den Wecker?“, will eine freundliche Schneiderin, die auf ihrem Telefon Serien schaut, von mir wissen. Auf meine Frage, wie sie darauf komme, sagt sie, russische Blogger erzählten das. Ich sage, die meisten Deutschen seien mit den Ukrainern solidarisch, weil Russland sie überfallen habe. Sie sagt: Wir waren dazu gezwungen, sonst hätten sie uns angegriffen. Das klingt, als könne ich jetzt jemanden überfallen und sagen, andernfalls wäre ich von ihm überfallen worden, sage ich.

Razzien bei engagierten Künstlern

Der Krieg sperrt die Menschen in ihre Blase. Ein Elektriker erzählt, er habe sich als Rekrut der Sowjetarmee einst mit ­ukrainischen Kameraden geprügelt, aber dass sein Land in ihres einfalle und dort die Menschen töte, sei barbarisch. Mit einer ehemals befreundeten Familie, die die „Militärische Spezialoperation“ gutheißt, spricht er nicht mehr. Aber auch gegenüber alten Bekannten wägt man die Worte, stets auf der Hut vor Denunziationen. Die drohen vor allen in Städten. Im sibirischen Jakutsk wurde unlängst eine Bibliotheksdirektorin zu einer Strafzahlung verurteilt, weil ein Buch in ihrem Bestand angeblich die Ideen einer in Russland „unerwünschten Organisation“ unterstütze.

Aus Moskau ziehen kaum Freiwillige an die Front, die Hauptstadt ist das kulturell-ideologische Nervenzen­trum, wie Plakatikonen von Helden der „Militärischen Spezialoperation“ und von Ukrainern beschossenen Donbass-Kindern vergegenwärtigen. Kurz vor den Präsidentenwahlen im März wurden hier sowie in Sankt Petersburg, Nischni Nowgorod und Jekaterinburg die Wohnungen experimenteller Künstler durchsucht und diese selbst verhört. Der Moskauer Performancekünstler Anatoli Osmolowski, der mit einem größeren Strafprozess gegen Künstler rechnet, ist deswegen nach Berlin ausgereist.

Tägliche Besucher am Grab von Nawalnyj

In der etablierten Kulturszene ist man siegesgewiss. Ein gut vernetzter Manager, nennen wir ihn Wlad, erklärt der F.A.Z. in seinem Moskauer Büro, der Strategie der sich voranfressenden „Annihilierung“ des Gegners, auf welche die russischen Militärs setzten, hätten die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer nichts entgegenzusetzen. Wlad ist bekümmert über die Repressionen, glaubt aber, in einem Krieg führenden Land seien sie unausweichlich. Im Übrigen habe der Krieg vielen frustrierten Männern die zuvor mangelnde Selbstachtung beschert, sagt Wlad, der es zugleich bedauert, dass die Gesellschaft brutaler und krimineller werde. Die Kuratorin eines staatlichen Museums prophezeit, die Russen würden noch in diesem Jahr vor Kiew stehen.

Umso symptomatischer wirkt die ostentative Bewachung des Grabs des in der Haft getöteten Oppositionspolitikers Alexej Nawalnyj in einem Plattenbauviertel im Moskauer Südosten, das zu einer Art Pilgerort geworden ist. Täglich, auch wochentags, besuchen Menschen Nawalnyjs blumenbedeckte Ruhestätte auf dem Borissow-Friedhof, um unter alles filmenden Panoramakameras eine gerade Zahl Blumen abzulegen, wie es die russische Begräbnissymbolik will. Doch neben diejenigen, die des Toten gedenken, stellen sich stets auch sportlich aussehende Männer ohne Blumen auf, deren Grinsen nahelegt, dass sie Mitarbeiter der Staatssicherheit sind.

Im Buch der Emigrantin ist das Wort „Krieg“ geschwärzt

Entsprechend hat anderntags die Vorstellung des Dramas „Hiroshima“ im kleinen Kellertheater „Innenraum“ (Prostranstwo wnutri) im Hinterhof des früheren Gogol-Centers etwas von einem Katakomben-Ritual. Ein Mitarbeiter begrüßt die hundert Gäste, die das Haus fasst, mit den Worten: „Danke, dass Sie heute Abend hier und nicht anderswo sind!“ Es spielt das Frauenensemble „Soso-Töchter“, das von der Regisseurin Schenja Berkowitsch gegründet wurde, die seit einem Jahr in Untersuchungshaft einsitzt, weil ihrem Stück „Lichter Falke Finist“ die Rechtfertigung von Terrorismus vorgeworfen wird, obwohl es die Torheit von Islamistenbräuten gerade entlarvt.

Der 28 Jahre alte Regisseur Alexander Plotnikow lässt die Darstellerinnen auf japanischen Geta-Sandalen über die unter Wasser gesetzte Bühne schreiten und Zeugenberichte von Überlebenden des Atombombenabwurfs rezitieren, die der amerikanische Journalist John Hersey 1946 aufzeichnete. Videoprojektionen tauchen den Raum in erst schummriges, dann grelles Licht und lassen japanische Schriftzeichen die Wände hinabschwimmen, während man hört, wie zwei Ärzte, zwei Geistliche und zwei einfache Frauen die Katastrophe und das Kriegsende erleben – ihre stoische Klaglosigkeit angesichts der Katastrophe lässt an Kriegsschuldbewusstsein denken, aber auch daran, dass sich dieses Grauen wiederholen könnte.

Während Bibliotheken Bücher der Kriegsgegner Ljudmila Ulitzkaja, Boris Akunin, Dmitry Bykow ins Altpapier geben und solche, die Soros finanziert hat, aussortieren, zieht die Messe „Nonfiction“ für intellektuelles Schrifttum, die in diesem Monat im Messezen­trum „Gostinyj dwor“ stattfand, große Publikumsströme an. Der Petersburger Iwan Limbach-Verlag, der 2022 die Antikriegslyrikanthologie „Poesie der Endzeit“ publizierte, hat jetzt das dissidentische „Tagebuch vom Ende der Welt“ der emi­grierten Kriegsgegnerin Natalja Kljutscharjowa herausgebracht – mit lauter schwarzen Balken im Text, das verbotene Wort „Krieg“ wurde geschwärzt. Beim humanwissenschaftlichen Verlag NLO (Neue Literarische Umschau) finden sich Bücher wie „Spätstalinismus“ des emigrierten Historikers Jewgeni Dobrenko über die sowjetische Nachkriegskulturpolitik, die Phobien und Ressentiments der russischen Gesellschaft bis heute prägt, und „Krieg der Patriotismen“ des Historikers Wladislaw Axjonow, der zeigt, wie Staatskrisen in Russland immer wieder zu Aggression, Ablehnung von europäischer Kultur und der Dehumanisierung Andersdenkender führten.

Auch die Kriegsliteratur ist präsent, etwa beim Petersburger Verlag Lira, dessen Stand ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „Donbass Lives Matter“ ziert. Hier liegen Schriften des von der EU sanktionierten Fernsehpropagandisten Andrej Medwedjew aus, wonach der ukrainische Staat von den westlichen Staaten als Anti-Russland-Projekt geschaffen wurde, sowie illustrierte Ausgaben der Werke der die „militärische Spezialoperation“ preisenden Z-Dichterin Anna Rewjakina, beispielsweise ihr Poem „Bergarbeitertochter“ (Schachtjorskaja dotsch) über ein Mädchen, das wie sie aus dem Donbass stammt und, nachdem ihr Vater im Krieg gegen die Ukrainer umkommt, als Scharfschützin viele von ihnen tötet. Rewjakina beklagt den „brudermörderischen Krieg“, macht aber die Ukraine dafür verantwortlich, weil sie sich 2014 gegen Russland gestellt habe. Der Verlagsmitarbeiter will über diese Titel nicht sprechen und betont, der absolute Bestseller des Hauses sei das Selbstoptimierungsbuch „Die 1%-Methode“ des Amerikaners James Clear.

Kriegsideologen und -teilnehmer scheinen nicht beliebt zu sein, aber sakrosankt. Daher ahne ich zunächst Schlimmes, als ich am Tag vor meiner Abreise beim Besuch des Schwimmbads „Tschaika“ aus der gläsernen Sauna am Beckenrand laute Musik dröhnen höre. Das Schwitzbad ist voll besetzt, in einer Ecke liegt, in eine Tüte gewickelt, eine Musikbox, die ein rundlicher Herr mit seinem Mobiltelefon steuert. Merkwürdigerweise erklingt nur westliche Musik, französische Schlager, Moonlight Serenade, eine Kitschversion von „Für Elise“, die der Herr mit dem Handy als „Meisterwerk von Beethoven“ anpreist.

Ein Saunagast verlangt Mozart. Wird hier ein Geburtstag gefeiert? Der Saunamoderator erklärt, ein Freundeskreis treffe sich regelmäßig, um mithilfe von heißem Dampf und guter Musik negative Emotionen ab- und ein positives Verhältnis zur Mitwelt aufzubauen. Manchmal werde in der Sauna auch gesungen. Er hat meinen Akzent identifiziert und sagt, der Freundeskreis sei voll Bewunderung für die Leistungen Europas. Wir wollen keinen Krieg, sagt er zum Abschied, sondern nur Austausch und Freundschaft.

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