Film „The Holdovers“

Außenseiter, die Notgemeinschaften bilden, gehören zum Standardrepertoire US-amerikanischen Erzählens. Ob das Huck Finn und Tom Sawyer sind oder George und Lennie aus John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“: In den Verlierern besichtigt eine auf Optimierung und Erfolg geeichte Gesellschaft ihre moralischen Potentiale.

Everybody loves a winner, aber es ist oft ein bittere, von Groll gegen die eigene Lage vergiftete Liebe. Den Loser lieben ist einfacher und ergiebiger, weil er mit Möglichkeitssinn ausgestattet ist. So viel Pech und Leid, aber auch: so viel Vermögen und Aufbruch.

Mit „The Holdovers“ hat uns Regisseur Alexander Payne eine Notgemeinschaft beschert, in der Generationen, Milieus und Ethnien zusammenkommen. Schon die Figurenkonstellation birgt utopisches Potential: der abgehalfterte, von Kollegen belächelte Internatspauker; der Zögling aus bestem Hause, wohlstandsverwahrlost und wütend über die Lieblosigkeit seiner Familie; die schwarze Kantinenköchin (Da’Vine Joy Randolph), die ihren Sohn in Vietnam verloren hat. Diese drei müssen ausgerechnet Weihnachten in der eingeschneiten Barton Academy verbringen.

Weihnachtliche Zwangsgemeinschaft

Die erzählte Zeit sind die Siebziger, Umbruchsphase, Revolte liegt in der Luft. Aber im elitären Barton sind die konservativen Normen noch intakt und fest installiert. Paul Hunham, der Pauker mit Schielauge und einem dermatologisch bedingten Ausdünstungsproblem, personifiziert die schwarze Pädagogik alter Schule mit sadistischer Lust.

Die Schüler werden mit antiker Prosa und Weltgeschichte traktiert, egal ob ihnen der didaktische Nutzen solcher Unterweisung einleuchtet oder nicht. Das schulpolitische Ideal von Hunham steht quer zur zeitbedingt aufkeimenden antiautoritären Bildungsfreiheit.

Paul Giamatti, seit mehreren Filmen mit Alexander Payne als Darsteller verbunden, spielt diesen Mann als zutiefst resignierten Gnom des Besserwissens. Wenn dich keiner liebt, dann schmiede aus dem Abgelehntsein einen Charakterpanzer, an dem sich die anderen die Zähne ausbeißen. Das ist die Logik, nach der Hunham den Schulalltag gestaltet und auch sein privates Auftreten.

Man kennt diesen Typus womöglich aus eigener Erfahrung: den bildungsbürgerlichen Drillsergeanten, der einem die Schönheit klassischer Stoffe mehr einpeitscht als näherbringt. Von den Exerzitien lateinischer Übersetzungslektüre ist es nur ein kleiner Schritt zum Exorzismus der Lust am humanistischen Wissen. Einpeitscher sind immer auch Austreiber.

Aber das ist nur auf den ersten Blick so. Es zeigen sich Risse im geharnischten Dünkel des Lehrers. Angus (Dominic Sessa), das höhere Söhnchen, wird an Weihnachten von der aufwärtsmobil datenden Mutter in der Schule sitzen gelassen – der Sohn passte einfach nicht ins Feiertagsprogramm mit dem neuen Ehemann.

Übler hätten es Lehrer und Eleve nicht erwischen können: Der Alte wollte sich’s mit Lektüre im verwaisten College gemütlich machen, der Junge hoffte auf ein bisschen Verbundenheit im Familienkreis. Jetzt heißt es zehn Tage Zwangsgemeinschaft. Mindestens genauso lustlos fügt sich Mary, die Köchin, in die Gruppe ein. Ihr Sohn, einer der wenigen schwarzen Barton-Schüler, wurde Opfer einer rassistischen, den weißen Wohlstand schonenden und die schwarze Unterschicht ausbeutenden Politik. Weihnachten kann ihr gestohlen bleiben: Was soll denn so ein Fest der Liebe, wenn die Liebe deines Lebens einer unsinnigen Idee zum Opfer fiel?

Zwei Generationen, eine Kränkung

Was dann in Gang kommt, könnte man Erziehung des Herzens nennen, wobei die Herzen in ihrer Leidens- und Liebesfülle bei diesen dreien ja bereits durchgebildet sind. Man muss sie zur Emotionalität nicht erziehen, eher ein bisschen aufstören und lockern. Das geschieht nach einem bewährten dramaturgischen Muster: Leute haben einen Plan, unvorhergesehene Dinge geschehen, alles gerät durcheinander, am Ende ordnen sich die Verhältnisse auf höherer Ebene neu. ­Payne wird diese Happy-End-Dialektik im Finale unterlaufen, aber wie das geschieht, darf man nicht verraten. Es nähme der Filmerfahrung die kritische Wucht.

Was geschieht also? Der Schüler will unbedingt ein bisschen Spaß haben, der Lehrer besteht auf die strikte Einhaltung von Etikette und Hausregeln. Die Köchin wirkt mit pragmatischer Nüchternheit vermittelnd. Und so öffnen sich die Figuren auf ihren jeweiligen Counterpart hin, erst mürrisch und störrisch, dann mit zunehmender Sympathie und Solidarität. Schließlich sind im Missmut des Paukers mindestens genauso tiefe Ressentiments gegen das besitzbürgerliche (und bildungsferne) Establishment eingelagert wie im Hass des Schülers auf seine Eltern. Zwei Generationen, eine Kränkung: Die etablierte Welt will sie nicht haben, ein Schicksal im Status der Duldung.

Man hätte den Stoff leicht verkitschen können, daraus eine Erbauungsfabel im Geiste erzwungener Harmonie zurechtlügen. Aber die Milieubefriedung bleibt ebenso aus wie die Umerziehung liebloser Erzeuger zu empfindsamen Eltern.

Zwei personifizierte Versprechen des Kinos treffen aufeinander

Payne versagt sich das Berauschtsein an der eigenen Sentimentalität, dass so viele Hollywood-Dramen ideologisch vergiftet. Dazu passt der nüchterne, am Autorenkino der Siebzigerjahre orientierte Bildstil. Mit dokumentarischer Dezenz begleitet die Kamera die Filmhelden bei ihren Werde- und Leidensgängen.

Schauspielhistorisch ist das ein epochaler Film. Zwei Darstellergenerationen treffen aufeinander, zwei Spielklassen und zwei personifizierte Versprechen des Kinos. Paul Giamatti, 56 Jahre, hat das anspruchsvolle US-amerikanische Filmerzählen mit vielen großen Rollen geprägt. Vor allem in den narrativ weit gespannten neueren Premiumserien konnte man über die Jahre einen Darsteller bewundern, der komplexeste Charakterbilder schuf. In der TV-Reihe „John Adams – Freiheit für Amerika“ spielte er den zweiten Präsidenten der Vereinigten Staaten als politischen Überzeugungstäter und machte verfassungspatriotischen Scharfsinn für den Bildschirm aufregend und anschaulich. In der Serie „Billions“ ist er der von Ehrgeiz zerfressende Staatsanwalt, der sich mit der Großfinanz anlegt und am Ende genauso korrupt ist wie seine Gegner.

Giamattis prägende Stilgeste als Schauspieler ist vibrierender, nur mühsam sublimierter Zorn, und diese Energie treibt auch seine Darstellung in „Hold­overs“ an. Der 21-jährige Dominic Sessa war bislang völlig unbekannt. Aus dem Stand hat dieser Darsteller mit seiner Rolle des Angus ein Porträt des konfliktgeplagten, zwischen Anpassungs- und Revoltewünsche gestellten Heranwachsenden geschaffen. Auch er besticht mit jener Intensität, die eine Figur unter Strom setzt, ohne diese Aufladung mit großer Geste auszuspielen. „Holdovers“ mag ein kleiner Film sein, was Kosten und Kulissen angeht. Diese beiden Darsteller aber machen ihn zu einer großen Kinoerfahrung.

News Related

OTHER NEWS

Ukraine-Update am Morgen - Verhandlungen mit Moskau wären „Kapitulationsmonolog" für Kiew

US-Präsident Joe Biden empfängt Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus. Evan Vucci/AP/dpa Die US-Regierung hält Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zum jetzigen Zeitpunkt für „sinnlos”. Bei einem Unwetter in Odessa ... Read more »

Deutschland im Wettbewerb: Subventionen schaden dem Standort

Bundeskanzler Olaf Scholz am 15. November 2023 im Bundestag Als Amerikas Präsident Donald Trump im Jahr 2017 mit Handelsschranken und Subventionen den Wirtschaftskrieg gegen China begann, schrien die Europäer auf ... Read more »

«Godfather of British Blues»: John Mayall wird 90

John Mayall hat Musikgeschichte geschrieben. Man nennt ihn den «Godfather of British Blues». Seit den 1960er Jahren hat John Mayall den Blues geprägt wie nur wenige andere britische Musiker. In ... Read more »

Bund und Bahn: Einigung auf günstigeres Deutschlandticket für Studenten

Mit dem vergünstigten Deutschlandticket will Bundesverkehrsminister Wissing eine junge Kundengruppe dauerhaft an den ÖPNV binden. Bei der Fahrkarte für den Nah- und Regionalverkehr vereinbaren Bund und Länder eine Lösung für ... Read more »

Die Ukraine soll der Nato beitreten - nach dem Krieg

Die Ukraine soll nach dem Krieg Nato-Mitglied werden. Die Ukraine wird – Reformen vorausgesetzt – nach dem Krieg Mitglied der Nato werden. Das hat der Generalsekretär des Militärbündnisses, Jens Stoltenberg, ... Read more »

Präsidentin droht Anklage wegen Tod von Demonstranten

Lima. In Peru wurde eine staatsrechtlichen Beschwerde gegen Präsidentin Dina Boluarte eingeleitet. Sie wird für den Tod von mehreren regierungskritischen Demonstranten verantwortlich gemacht. Was der Politikerin jetzt droht. Perus Präsidentin ... Read more »

Novartis will nach Sandoz-Abspaltung stärker wachsen

ARCHIV: Das Logo des Schweizer Arzneimittelherstellers Novartis im Werk des Unternehmens in der Nordschweizer Stadt Stein, Schweiz, 23. Oktober 2017. REUTERS/Arnd Wiegmann Zürich (Reuters) – Der Schweizer Pharmakonzern Novartis will ... Read more »
Top List in the World