Johannes Volkmann: Wer ist der Helmut-Kohl-Enkel, der in den CDU-Bundesvorstand will?

Mit Journalisten hat er meist schlechte Erfahrungen gemacht. Unserer Reporterin gewährt er Einblick in sein Leben. Wer ist Johannes Volkmann, 27 Jahre, Kandidat für den CDU-Bundesvorstand – und Enkel Helmut Kohls?

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Johannes Volkmann: Wer ist der Helmut-Kohl-Enkel, der in den CDU-Bundesvorstand will?

Johannes Volkmann parkt seinen schwarzen BMW vor einem hellen Einfamilienhaus. Die Israelflagge hat sich im Mast verheddert. Auf der grauen Fußmatte steht »Hier war Goethe« und in Klein »nie«. Er schließt die Tür auf. Herzlich willkommen in der Kreisgeschäftsstelle der CDU Lahn-Dill.

Er zieht die Rollos hoch. Außer ihm ist an diesem Samstag Anfang März niemand hier, er soll heute fotografiert werden. Die braunen Haare sind frisch geschnitten. Er trägt einen schwarzen Pullover über dem Hemd und schwarze Ledersneaker.

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Die Böden der dunklen Holzregale biegen sich, schwere Aktenordner stehen eng aufgereiht. Das Lebenswerk seines Vorgängers. Korrespondenzen mit Berlin. Bürgerbegehren, Bürgerbeschwerden. Zeitungsartikel über so ziemlich alles, was in Hessen von Lahn bis Dill in den vergangenen 25 Jahren berichtenswert war. Irgendwo hier müsste auch noch Volkmanns Mitgliedsantrag für die Junge Union sein. Er trat an seinem 14. Geburtstag ein, dem frühestmöglichen Zeitpunkt.

An einem Büroschrank klebt eine Autogrammkarte von Helmut Kohl. Der ehemalige Bundeskanzler lächelt in die Kamera, die Hand liegt am Kinn. Ob er die aufgehängt habe? Er stoppt, blickt zur Karte und beginnt schallend zu lachen: »Neee!«

Johannes Volkmann ist der Enkel von Helmut Kohl. Ihm wäre es lieber, wenn das hier nicht stehen würde. Wenn das einfach ein Text über Johannes Volkmann wäre. Aber so einfach ist es nicht.

Als er im Dezember 1996 als Sohn von Walter Kohl auf die Welt kam, regierte sein Großvater seit 14 Jahren das Land. Bei seiner Geburt bekam Johannes den Nachnamen Kohl. Doch noch bevor er in die Schule kam, entschieden seine Eltern, dass es für den Jungen besser sei, mit dem Namen der Mutter aufzuwachsen.

Helmut Kohl ist seit bald sieben Jahren tot. Wer heute an ihn denkt, denkt vielleicht an den Kanzler der Einheit oder den großen Europäer. An den polternden Patriarchen aus Oggersheim, der gern Saumagen aß. Oder an die Parteispendenaffäre, in der Helmut Kohl erst die Unterstützung und dann den Ehrenvorsitz der CDU verlor.

Heute ist Johannes Volkmann 27 Jahre alt und beinahe sein halbes Leben in der CDU. Er ist Kreistagsvorsitzender, sitzt im Landesvorstand der Partei und wurde im Februar zum Chef der CDU Lahn-Dill gewählt. In einigen Tagen, am 6. Mai 2024, wird er das erste Mal die Bühne der Bundespolitik betreten: Er ist für den Bundesvorstand der CDU nominiert. Oder wie die »Bild«-Zeitung im April schreibt: »Kohl-Enkel tritt in Opas Fußstapfen.«

Der berühmte Großvater ist Scheinwerfer und Schatten zugleich. Die Öffentlichkeit interessiert sich für Johannes Volkmann, weil er der Enkel von Helmut Kohl ist. Aber so lange er als Enkel bekannt ist, bestimmt der Großvater das Bild.

Die »Kohl-Thematik«

Im Winter 2021 sitzt Volkmann vor Günther Jauch. Er ist Kandidat bei »Wer wird Millionär?«. Kurz geht es um sein Studium in Oxford und um seinen Job im Europäischen Parlament. »Welche Partei?«, will Jauch wissen. »CDU«, sagt Volkmann.

Er wirkt nervös. Den ersten Joker nimmt er bei der 1000-Euro-Frage, obwohl er die richtige Antwort ahnt. Den zweiten bei der Frage danach, dann den dritten. Er hatte sich beworben, ohne den Großvater zu erwähnen. Aber die Redaktion hat es trotzdem herausgefunden. Während er auf dem Stuhl saß, erzählt er später, habe er sich Schlagzeilen vorgestellt: Das weiß der Kohl-Enkel nicht!

Nach der 4000-Euro-Frage plaudert Günther Jauch mit ihm über Politik. Was er politisch im Umgang mit China rate. Ob er mal Politiker werden wolle. »Ich weiß, dass Sie das nicht so gern thematisieren«, sagt Jauch. Volkmann zieht die Augenbrauen hoch. »Aus dem, was Sie sagen, spricht natürlich ein bisschen der Großvater. Es ist Helmut Kohl.« Volkmann trinkt einen Schluck Wasser, sagt nichts. Ob man in so einer Familie automatisch in die Richtung Politik gehe? »Das ist bei mir intrinsisch«, sagt er knapp. Er gewinnt 64.000 Euro.

Vom Geld kauft sich Volkmann einen gebrauchten BMW. Er sagt, er habe gehofft, dass der Großvater nicht angesprochen werde. Warum hat er dann überhaupt mitgemacht? »Ich nehme vom Großvater nichts Positives für mich in Anspruch, aber dann möchte ich auch nichts Negatives«, sagt er.

Am Tag nach der Sendung schreibt die Presse: »Kandidat hat berühmten Opa, da hakt Jauch neugierig nach«, »DAS ist der Enkel von Helmut Kohl«, »Seine Joker war der Kohl-Enkel früh los«.

Als ich Johannes Volkmann vor bald drei Jahren kennenlerne, pendelt er zwischen Brüssel, Straßburg und seiner hessischen Heimat Atzbach. Am Rückspiegel seines »Wer wird Millionär?«-Gewinns hängt ein Rosenkranz, statt Kaffee trinkt er Energydrinks. Seit einem Jahr arbeitet er als Büroleiter für den CDU-Abgeordneten Sven Simon im Europaparlament. Seit vier Monaten ist er Kreistagsvorsitzender des Lahn-Dill-Kreises. Er lacht viel und kann druckreif sprechen.

Würde ich mich als Reporterin für diesen konservativen Nachwuchspolitiker interessieren, wäre sein Großvater nicht Helmut Kohl? Im September 2021 sitzen wir uns gegenüber, weil er Kohls Enkel ist, nur so bin ich auf ihn gekommen.

Mit Journalisten hat er vor allem schlechte Erfahrungen gemacht, wie seine ganze Familie. Einige versuchten, heimlich ins Zimmer seines Onkels Peter zu kommen, als der nach einem Autounfall auf der Intensivstation lag. Andere versuchten, seine Großmutter Hannelore zu erpressen, damit sie die Namen der Parteispender für Helmut Kohls schwarze Konten nennt. Als Johannes Volkmann volljährig war, schrieb die »Gala« einen Artikel über ihn: »Hat er das Kanzler-Gen?« Der langjährige Fahrer von Helmut Kohl plauderte Details über Enkel und Großvater aus. Auch dessen Frau steuerte ein Zitat bei: »Helmut Kohl würde sich freuen, wenn er den Jungen jetzt wiedersehen würde. Das ist der runtergeschnittene Großvater!« Da haben Söhne und Enkel schon keinen Kontakt mehr zu Helmut Kohl.

Johannes Volkmann spricht nur ungern über das, was er die »Kohl-Thematik« nennt, und niemals von sich aus. Warum er überhaupt mit mir redet, frage ich ihn mal. »Wenn du nicht daran mitwirkst, wird es ohne deine Beteiligung gemacht«, sagt er. Er scheint zu wissen, dass er nicht an Journalisten vorbeikommt, wenn er Berufspolitiker werden will.

Was er tut, nicht was er ist

Im Kreistag in Wetzlar ist Johannes Volkmann der »sehr geehrte Herr Vorsitzende«. Es ist ein Montag im Februar, Kreistagssitzung. Es geht um die Vollsperrung einer Straße, die ein Dorf abschneiden würde; die AfD hat eine Frage zu den Kosten für private Sicherheitsdienste; die CDU einen Resolutionsantrag für die demonstrierenden Landwirte. Außerdem fährt die Müllabfuhr im Landkreis nicht planmäßig.

Als Kreistagsvorsitzender führt Volkmann durch die Sitzungen. Er prüft Anträge, legt Tagesordnungspunkte fest und sorgt dafür, dass die 81 Abgeordneten des Kreistags nicht nur diskutieren, sondern auch beschließen. Als die CDU ihn für das Amt vorschlug, er war erst 24 Jahre alt, erwarteten die meisten, dass ihn die Alten vorführen würden. Doch jetzt sitzt er schon bald seit drei Jahren auf dem Stuhl mit der höchsten Rückenlehne.

Am Kopf des hellen Raums stehen vier Flaggen: Europa, Deutschland, Hessen und der Lahn-Dill-Kreis. Volkmann hat sie aufstellen lassen. »Als Zeichen, dass unsere Arbeit hier staatlichen Charakter hat und keine Selbstbeschäftigung ist«, sagt er. Zum fünften Mal in dieser Sitzung steht ein Abgeordneter der AfD am Pult. Er schimpft über »Eliten« und nennt Christian Lindner »peinlich« und einen »Steuerpinocchio«.

Viele Abgeordnete stehen auf, wenn jemand von der AfD redet. Sie holen sich Kaffee oder unterhalten sich mit ihrem Sitznachbarn. Johannes Volkmann, der direkt hinter dem Rednerpult sitzt, passt genau auf. Er kneift die Augen zusammen, grinst oder schüttelt den Kopf. Man kann ihm gut ansehen, was er von dem, was vor ihm gesagt wird, hält.

Das Amt des Vorsitzenden ist überparteilich. Wie er Anträge und Argumente findet, spielt keine Rolle. Aber im Kreistag gibt es Regeln: Man muss den Vorsitzenden adressieren. Anträge müssen ohne Wertung vorgetragen werden. Die Sprache muss angemessen sein. Manche Vorschriften wirken kleinlich. Volkmann hat durch diese Regeln seinen Umgang mit der AfD gefunden.

Dreimal hat er während dieser Sitzung dem AfD-Abgeordneten schon einen Ordnungsruf erteilt. »Ein vierter Ordnungsruf führt zum Saalausschluss«, sagt er. Der Abgeordnete stellt sich zum sechsten Mal ans Mikrofon und wirft Volkmann vor, er missbrauche sein Amt als neutraler Vorsitzender. Der guckt ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dann erteilt er den vierten Ordnungsruf. Ein paar Minuten später geht die gesamte AfD-Fraktion. »Dass ich das noch erleben darf«, ruft eine Abgeordnete. Das habe es noch nie gegeben, sagt der Journalist von der Lokalzeitung.

Der Mann, der Volkmann für den Kreistagsvorsitz ins Gespräch brachte, heißt Hans-Jürgen Irmer. Die prall gefüllten Ordner in der Geschäftsstelle sind sein Werk. Er war 25 Jahre Chef der CDU Lahn-Dill, saß acht Legislaturperioden im hessischen Landtag und vier Jahre lang im Bundestag. In der Partei fiel er immer wieder durch Rechtsaußenpositionen auf. Als wir uns vor zwei Jahren unterhalten, ist er 70 Jahre alt. Bald wird er einen Nachfolger brauchen.

Wenn er über Johannes Volkmann redet, klingt es, als würde der Großvater den Enkel loben. Er findet, dass für Volkmann spricht, dass er sich drei Tage Bedenkzeit erbeten habe auf die Frage, ob er Kreistagsvorsitzender werden wolle. Und dass er kein Studienabbrecher sei. Er schwärmt vom »Riesenpotenzial«, von der Empathie und den rhetorischen Fähigkeiten Volkmanns. »Verwundert bei dem Eltern- und Großelternhaus nicht«, sagt Irmer und schiebt hinterher: »Das spielt aber keine Rolle!«

Eine berühmte Familie wirkt auf jene, die keine haben, oft wie ein unfairer Vorteil. Kinder berühmter Eltern haben bessere Zugänge, mehr Einfluss, gute Kontakte. Eine berühmte Familie kann aber auch ein Nachteil sein. Die Nachkommen der Mächtigen und Berühmten müssen schneller rennen und höher klettern, bis ihre Leistung als ihre eigene anerkannt wird. Sie arbeiten gegen den ständigen Verdacht an, Profiteure ihrer Vorfahren zu sein.

Volkmanns Genesis

An einem Januarabend vor gut zwei Jahren lenkt Johannes Volkmann sein Auto über die schwach beleuchteten Straßen vor Wetzlar. Er erzählt, dass Goethe im Lahn-Dill-Kreis Inspiration für »Die Leiden des jungen Werther« fand. »Eigentlich nichts, worauf man stolz sein sollte«, sagt er. Eben war Kreistagssitzung. Der Gasthof, den er vorgeschlagen hat, öffnet erst in 20 Minuten. »Wir machen einen Umweg«, sagt er.

Er parkt an einer kleinen Straße, steigt aus und geht auf die andere Straßenseite. Im Halbdunkel steht ein langes Gebäude. Zwei Etagen, ein hohes Dach, auf dem eine Nisthilfe für Störche befestigt ist. Die großen Fenster sind mit Spanplatten vernagelt, das Gras wuchert, Bauzäune umgeben das Gelände.

»Dieser Ort hat mich politisiert«, sagt Volkmann im Licht der Straßenlaterne. »Das ist meine alte Grundschule.«

Johannes Volkmann kommt aus Atzbach. Einem kleinen Ortsteil der Gemeinde Lahnau. 8300 Einwohner insgesamt, zwischen Wetzlar und Gießen. Als seine Eltern sich trennten, wuchs er hier bei seiner Mutter auf. Volkmanns Großmutter war auf der Grundschule, seine Mutter und er.

Im Jahr 2010, als er in die neunte Klasse des Gymnasiums in Gießen ging, sollte die Schule, die alle nur den Amthof nennen, geschlossen werden. Das Dach musste saniert werden. Zu teuer, fanden die Politiker. Die Atzbacher demonstrierten. Auch Volkmann reihte sich in eine Lichterkette ein. Der Protest half nichts, die Schule wurde geschlossen.

14 Jahre später steht Johannes Volkmann im Februar im Keller der CDU-Geschäftsstelle. Über jede Schule des Kreises gibt es hier einen Ordner. Volkmann greift nach einem der dicksten. »Wenn wir die Kommunal­wahl gewinnen, kämpfe ich dafür, den Amt­hof wieder aufzumachen«, sagt er.

Jeder, der in die Politik geht, strebt nach Macht. Die meisten Politiker sprechen aber lieber von »Verantwortung« oder »Gestaltungsmöglichkeiten«. Macht kann süchtig machen, zerstören und verwüsten. Die Familie Kohl ist das beste Beispiel dafür.

Streben nach Macht

Es gibt da dieses Foto: 21. Juni 2017. Johannes Volkmann steht im schwarzen Anzug vor der Tür des Bungalows seines Großvaters in Ludwigshafen-Oggersheim. Neben ihm sein Vater Walter Kohl und seine Cousine. In diesem Haus sind sein Vater und sein Onkel Peter aufgewachsen. Hier nahm sich 2001 seine Großmutter Hannelore das Leben, nun war auch sein Großvater gestorben. Die Familie ist gekommen, um sich von Helmut Kohl zu verabschieden. Aber dessen zweite Frau Maike Kohl-Richter öffnet die Tür nicht. Polizisten begleiten alle drei vom Gelände.

Wenn ich das Bild sehe, frage ich mich: Wie kann jemand, der das erlebt hat, in die Politik gehen wollen?

Als ich ihn vor zwei Jahren das erste Mal danach frage, wischt Johannes Volkmann die Frage weg. Als hätte all das, was seiner Familie passiert ist, nicht auch damit zu tun, dass sein Großvater beinahe zwei Jahrzehnte der mächtigste Mann des Landes war.

An einem Samstag im Februar, um kurz nach neun am Morgen, betritt Volkmann die Stadthalle Aßlar. Gestern feierte hier eine Karnevalsgesellschaft, heute gilt’s. Volkmann kandidiert als Vorsitzender der CDU Lahn-Dill. Sogar Helge Braun ist gekommen, der ehemalige Chef des Bundeskanzleramts.

Volkmann möchte, dass die Flaggen von Israel und der Ukraine auf der Bühne stehen, nicht am Fenster. Er trägt sie selbst hoch. »Ich habe noch Europa und Deutschland im Angebot«, sagt eine blonde Frau zu ihm. In den vergangenen Jahren hat Volkmann Demos für Solidarität mit der Ukraine angemeldet, seit Oktober demonstriert er auch für Israel.

Volkmann postiert sich am Eingang zum Saal, gleich vor dem »Hessen weiter führen«-Aufsteller, und beginnt, Hände zu schütteln. Knapp 150 Delegierte sind eingeladen, 107 werden kommen. Aus irgendeinem Handy düdelt »Weiß der Geier« von Wolfgang Petry.

»Bist du jetzt bei den Grünen?«, ruft Volkmann einem zu, der im moosgrünen Anzug hereinkommt. »Guck mir nicht auf die Schuhe!«, entgegnet der. Ein kurzer Blick nach unten: braune Lederschuhe. Sie lachen laut, sie kennen sich aus der Jungen Union.

Manche umarmen Volkmann zur Begrüßung und wünschen ihm viel Glück. In den Pausen wendet er sich zu mir. »Das R im Herborner Platt und im Chinesischen ist gleich«, sagt er. Den Dialekt der Region spricht er nicht, aber Mandarin. Er hat zwei Semester in China studiert.

Es ist seine bisher wichtigste Wahl. Als Vorsitzender will er den Kreisverband, 23 Stadt- und Gemeindeverbände der CDU führen, über Personalfragen und Wahlkampfstrategien entscheiden. Er würde als einer von 1001 Delegierten zum Bundesparteitag fahren. Er wäre der wahrscheinlichste Direktkandidat für die nächste Bundestagswahl.

Ihr Enkel

Im Saal klirren Kaffeetassen. In der ersten Reihe sitzen die Ehrengäste: Braun, Irmer, Frederik Bouffier, der Sohn von Volker Bouffier, dem ehemaligen hessischen Minister­präsidenten. Nach allerlei Parteitagsformalien schiebt Johannes Volkmann den Stuhl zurück. Er läuft federnd zum Rednerpult. Die Rede ist Vorstellung und Versprechen zugleich. Wer kommt da? Und wohin will er? »Nie war ein klarer Kurs wichtiger als heute«, sagt er. Statt Kommunalpolitik wählt er die großen Themen: das führungslose Deutschland, die schwindende Stabilität der Europäischen Union, die Demokratie unter Druck. Er spricht so laut, dass er kein Mikro bräuchte.

Er sagt die Sätze, die in der CDU verlässlich für Beifall sorgen: Rückkehr zur Vernunft. Der Ehrliche darf nicht der Dumme sein. Und diese Radwege in Peru, finanziert von Deutsch­land. Aber auch: Solidarität mit Israel und der Ukraine. Sicherheit und Freiheit für Deutschland. Er erzählt von seinem Studium in China. Volkmann saß damals in Hörsälen, die mit Kameras überwacht wurden, er erlebte Gottesdienste in Gemeinden, die von der Regierung verfolgt werden. »Ein Leben in Freiheit und Würde ist ein Privileg, das verteidigt werden muss«, sagt er.

Er spricht auch über die AfD. Die Berichte über das Potsdamer Treffen, über Pläne und Fantasien von Abschiebungen liegen wenige Wochen zurück. Immer noch demons­trieren Menschen dagegen. Am Rednerpult redet er jetzt noch lauter: »Wir werden nicht zulassen, dass irgendein AfD-Otto mit Gottkomplex und Gentest in der Hand darüber entscheidet, wer zum deutschen Volk gehört.«

In einer alten Partei will er es schaffen, jung zu sein. Er sagt »cringe«, aber verurteilt seine Kollegen nicht als »Boomer«. Er verspricht Zukunft, ohne die Gegenwart zu überfordern. Der Traum des Konservativen.

Die Rede dauert etwas länger als eine Viertelstunde, der Applaus fast eine Minute. Stehend klatscht der Saal im Takt. Die Delegierten der CDU Lahn-Dill wählen Johannes Volkmann mit 98,1 Prozent. Während er auf der Bühne kurz die Augen schließt und aussieht, als müsste er ein wenig Rührung wegdrücken, gucken ihn alle an. Es liegt stolz in ihren Blicken. Als wäre sein Erfolg auch ihr Erfolg. Als wäre er ihr Enkel.

Wenn Johannes Volkmann betont, dass die »Kohl-Thematik« in seinem Leben keine Rolle gespielt hat, meint er: in seinem beruflichen Leben. »Was ich erreicht habe, habe ich mir selbst erarbeitet«, sagt er. Gute Noten, erstklassige Universitäten. Als er sich auf Stipendien bewarb, habe er sich bewusst Stiftungen ausgesucht, die nicht der CDU nahestehen.

Doch spätestens seit die »Gala« seinen Namen veröffentlichte, wusste er, dass er unter Beobachtung steht. Kohl-Enkel prügelt sich, Kohl-Enkel fährt Auto zu Schrott, Kohl-Enkel sagt irgendetwas Unüberlegtes: Mit all diesen Schlagzeilen hätte der Boulevard vermutlich gern die Titelseiten gefüllt. Sein Vater hat Ähnliches erlebt.

Auch ein Sohn

Einige Wochen nachdem Johannes Volkmann die Vorsitzendenwahl gewonnen hat, sitzt sein Vater Walter Kohl in der Kaminhalle eines Schlosshotels im Taunus. Kronleuchter an der Decke, die Stühle sind gepolstert. Ein paar Tische weiter sitzt ein Brautpaar. Walter Kohl wohnt nicht weit von hier. Er ist 60 Jahre alt, arbeitet als Unternehmensberater und hat einen Podcast für Mittelständler.

Als ich ihn gefragt hatte, ob er mit mir über seinen Sohn sprechen würde, stimmte er sofort zu. Allerdings nicht, ohne das schwierige Verhältnis zwischen dem SPIEGEL und der Familie Kohl zu erwähnen. Als ich entgegne, dass ich erst 31 Jahre alt sei und noch nicht so lange hier, muss er lachen.

Walter Kohl hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, wie wenig er vom politischen Betrieb hält. In seinem ersten Buch schreibt er vom Applaus, der abhängig mache. Von Macht, die den Mächtigen beherrsche.

Wie war das mit seinem Sohn, als der an seinem 14. Geburtstag in die Junge Union eintrat?

»Anfangs hatte Johannes eine Fanklub-Mentalität. Das ist mein Verein, und alles ist toll«, erzählt Walter Kohl. »Da war ich absolut gegen.« Ein paar Jahre, so erzählen es beide, konnten sie darüber nicht gut sprechen. »Heute bin ich ein großer Unterstützer«, sagt Walter Kohl.

Das Auslandsjahr in China habe den Sohn sehr verändert, erzählt der Vater. Es sei gewe­sen, als hätte sich sein Kompass neu ausgerichtet. Weg von Parteilinien, hin zu größeren Ideen. Freiheit wird zu einem seiner zentralen Themen.

Walter Kohl hat seinen Sohn im Kreistag besucht, in Straßburg und in Brüssel. Jetzt will der Sohn in den Bundestag. Ist da nicht doch die väterliche Sorge, dass die Geschichte sich wiederholt?

Walter Kohl beobachtete in Verdun, wie Helmut Kohl und François Mitterrand Hand in Hand den Toten der Weltkriege gedachten. Er war dabei, als das Brandenburger Tor wieder geöffnet wurde. Aber er traf auch den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer kurz vor seiner Entführung durch die RAF und erlebte später, was die Spendenaffäre alles zerstörte. Er hat seinem Sohn viel davon erzählt. »Ich sehe bei Johannes mehr Rücksicht und ein gutes Verständnis für die Schattenseiten der Politik«, sagt er.

Vielleicht ist das ein Vorteil: Das Schlechte, das Politik über ein Leben bringen kann, kennt Johannes Volkmann schon.

Hocharbeiten

An einem Abend Anfang März öffnet Johannes Volkmann seinen Kofferraum und greift nach einer Kiste mit Parteiutensilien. Im Wetzlarer Hof will er mit den Mitgliedern der CDU den Entwurf des neuen Grundsatzprogramms der Partei diskutieren. Er rollt sein »Hessen weiter führen«-Banner aus und stellt es neben den Kühlschrank.

Zum ersten Mal seit 17 Jahren, zum vierten Mal in der Geschichte der Partei, will die CDU im Mai ein neues Grundsatzprogramm verabschieden. Es soll die großen Linien fest­legen. Das, wofür die CDU steht. Volkmann spielt ein Video ab: CDU-Chef Friedrich Merz und Generalsekretär Carsten Linnemann flimmern über die Leinwand. Bilder von Podiumsdiskussionen und aus dem italienischen Cadenabbia. Dort, wo früher Konrad Adenauer Urlaub machte, arbeitete die Partei­spitze am Programm.

Volkmann verschränkt die Hände und steht breitbeinig da. Er blickt auf die Leinwand. Wie ein Boxer, der sich fokussiert für den Kampf. »Jetzt ist die Basis dran«, sagt Linnemann im Video.

Die Kreisverbände der Partei dürfen Änderungsanträge einbringen. »Gibt es Punkte, die Sie besonders wichtig finden?«, fragt Volkmann in die Runde. Alle schweigen.

Einer macht dann doch den Anfang. Polizisten müssten bekommen, was sie brauchen, um ihre Arbeit zu machen: Taser und Schusswaffen. Ein anderer findet, dass man »islamisch« im Entwurf vor »Terrorismus« streichen müsse. »Auch einfache Arbeit muss sich lohnen«, fordert einer aus der Jungen Union. Volkmann notiert Punkte auf einem Flipchart.

Dann geht es sehr lange um die Rente. Die scheint hier jeden zu beschäftigen. Wenn Volkmann von einem Vorschlag nicht überzeugt ist, fragt er nach. Er bringt seine Gegenargumente vor, aber zwingt sie anderen nicht auf. Während er vor dem Flipchart steht, sagt er: »Nicht jeder muss auf ein Lastenrad umsteigen. Wir verstehen, dass Deutschland mehr ist als die Innenstädte von Großstädten.« Es ist auch ein Abend, an dem sich die Mitglieder vergewissern, dass die CDU noch ihre Partei ist.

Hinter ihm liegt ein langer Tag. Am Morgen hatte er ein Onlinemeeting für seinen Job im Europäischen Parlament. Danach brachte er einem kranken Parteimitglied Kuchen vorbei und blieb so lange, dass er fast zu spät zum Ehrenamtspreis der CDU gekommen wäre. Im Haus der hessischen Sportjugend hörte er einem Chor zu, sie sangen »California Dreamin’«, Volkmann überreichte Spendenschecks. Um 22.30 Uhr rollt er das CDU-Banner im Wetzlarer Hof zusammen. Wenn er zu Hause ankommt, wird er noch eine Rede für seinen Chef schreiben.

Es ist ein Leben in Mehrzweckhallen und Tagungsräumen. Das letzte freie Wochenende sei an Weihnachten gewesen, sagt er. Es ist kein glamouröses Leben, das sich Johannes Volkmann ausgesucht hat.

Um in einer Partei etwas zu werden, gibt es zwei Wege: Für den einen braucht man Geduld, für den anderen Ungeduld. Entweder man arbeitet sich nach vorn, bewährt sich als Schriftführer, wird Gemeindevertreter, Kreisvorsitzender, bis man irgendwann in der ersten Reihe ankommt. Oder man ist lauter, provokanter, auffälliger als die anderen.

Beide Wege bergen Risiken. Auf dem schnellen Weg kann man sich verbrennen. Auf dem langen Weg ausbrennen.

Volkmann hat den langen Weg gewählt. Einige Tage vor dem Abend im Wetzlarer Hof erreichte ihn ein Anruf: Man könne sich gut vorstellen, ihn für den Bundesvorstand zu nominieren.

Nicht weil, sondern obwohl

Ende März ist seine Nominierung offiziell. Die dpa meldet: »Hessische CDU nominiert Ines Claus für Präsidium.« Johannes Volkmann ist ein Name unter vielen Nominierten. Einige Wochen passiert gar nichts.

Dann ruft ihn die »Bild«-Zeitung an. Am nächsten Morgen füllt Volkmann die Seite zwei: »Kohl-Enkel tritt in Opas Fußstapfen.« Es ist Mitte April, wir treffen uns in Brüssel vor dem Europaparlament. Wolken hängen über der Stadt. »Brüsseler Wetter«, sagt Volkmann.

Die Meldung, dass der Enkel von Helmut Kohl für den Vorstand der CDU kandidiert, steht auf fast jeder deutschen Nachrichtenseite. »Wäre schön, wenn da nicht immer Kohl stehen würde«, sagt er, »aber das ist halt der Nachrichtenwert.«

Er spricht anders als noch vor drei Jahren, als wir uns zum ersten Mal trafen. Überlegter und weniger provokant. Er weiß, dass auch die Partei ihn beobachtet. Er blickt immer wieder auf sein Handy. Liest Artikel und die Kommentare. Plötzlich steht er im Scheinwerferlicht.

Im Lahn-Dill-Kreis schüttelt er Hände, bringt Kuchen vorbei, und alle kennen ihn als den Johannes, der schon sein halbes Leben in der CDU ist. Aber er kann nicht mit jedem Bundesparteitagdelegierten ein Stück Kuchen essen, und er wird auch nicht 85 Millionen Hände schütteln können. Der Kohl-Enkel muss jetzt dafür arbeiten, Johannes Volkmann zu werden.

Am Ende eines sehr langen Tages sitzen wir noch einmal zusammen, im 15. Stock des Europäischen Parlaments, »die CDU-Etage«. Wegen der »Bild«-Schlagzeile bekam Volkmann den ganzen Tag E-Mails und Anrufe.

Es gab auch Journalisten, die Menschen aus seinem privaten Umfeld abtelefonierten. Manche wollten nur seine Handynummer, andere mehr über ihn erfahren. Er merkte, dass er das nicht kontrollieren kann. Es war ein Hauch von dem Sturm, der in der Bundespolitik womöglich auf ihn wartet.

Es ist spät am Abend, als ich ihm eine Frage stelle, die ich schon oft gefragt habe. Aber dieses Mal bestehe ich auf einer Antwort. Es ist die Frage, die ich habe, seit ich zum ersten Mal das Foto des 20-jährigen Johannes Volkmann gesehen habe, der nicht zu seinem toten Großvater gelassen, sondern von der Polizei wegbegleitet wird.

»Warum das alles?« Er macht eine lange Pause. »Ich will nichts anderes«, sagt er. »Politik ist meine Antwort auf die Sinnfrage.«

Johannes Volkmann hat sich entschieden. Er will Politiker werden. Nicht weil er der En­kel von Helmut Kohl ist, sondern obwohl.

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