Warum ist es so schwierig geworden, über Israel und Palästina zu sprechen? Warum regieren große Emotionen die Debatte? Soziologe Christian von Scheve über gesunden Streit – und den Gefühlszustand des Kulturbetriebs.
Israel-Gaza-Konflikt: Gefühlsforscher erklärt den Einfluss von Emotionen auf den Nahost-Diskurs
SPIEGEL: Herr von Scheve, leben wir in besonders emotionalen Zeiten?
Scheve: Emotionen werden ganz sicher mehr als früher nach außen getragen. Nur heißt das nicht, dass es auch mehr Gefühle gibt oder intensivere als früher. Zugenommen hat vielmehr die emotionale Reflexivität in der Gesellschaft.
SPIEGEL: Das heißt?
Scheve: Gesellschaften schenken Emotionen heute deutlich mehr Aufmerksamkeit, sie reflektieren permanent den eigenen kollektiven Gefühlszustand. Soziale Medien spielen eine Rolle, man teilt sich leichter mit, auch und gerade Gefühle. Dass ich mich mit der Erforschung von Emotionen beschäftige, ist sicherlich auch kein Zufall. Es ist ein Ausdruck oder eine Konsequenz dieser Diagnose.
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SPIEGEL: Der deutsche Kulturbetrieb wird gerade von einem besonders emotionalen Thema erschüttert: der Situation im Nahen Osten. Ständig werden Positionierungen gefordert und vollzogen, offene Briefe unterschrieben, Aufrufe gestartet. Wie erklären Sie sich das?
Scheve: Einerseits mit dem Bedürfnis, politische Positionen und Forderungen zu artikulieren, sich Gehör zu verschaffen. Andererseits mit der Zugehörigkeit zu Gruppen und politischen Lagern. Wenn das Selbstverständnis solcher Gruppen angegriffen wird, kochen Gefühle regelrecht hoch, irgendwann geht es dann nicht mehr um Inhalte. Der Kulturbetrieb ist keine Ausnahme, auch hier wollen sich Menschen zugehörig fühlen, sich solidarisch erklären oder sich von anderen abgrenzen. Offensichtlich ist die Haltung zum Nahost-Thema zurzeit besonders wichtig für das kollektive Selbstverständnis.
SPIEGEL: Sind Haltung und Gefühle unterschiedliche Dinge?
Scheve: Haltungen sind immer emotional grundiert, und Gefühle sind Ausdruck unserer Haltung zur Welt.
SPIEGEL: Große Teile des Kulturbetriebs positionieren sich derzeit israelkritisch, oft sehr laut und unversöhnlich. Zeigen nur sie Gefühle oder auch die Gegenseite?
Scheve: Starke Emotionen finden sich auf allen Seiten des Konflikts. Das Verhältnis von Deutschland zu Israel ist Teil einer historisch begründeten kollektiven Identität, viele Menschen empfinden daher eine emotionale Verbindung zu dem Land. Andere behaupten, diese Gefühle würden den Blick auf das aktuelle Konfliktgeschehen verstellen. Ihnen geht es nicht zuletzt um die Anfechtung einer Erinnerungskultur und der damit verbundenen kollektiven Emotionen.
SPIEGEL: Wer über Emotionen spricht, meint in der Politik oft: Wut, Hass, Hetze. Hat Trauer, etwa über Verstorbene in Israel und Palästina, einen Platz in der politischen Debatte?
Scheve: Selbstverständlich, die Frage, um wen wir unter welchen Umständen trauern dürfen oder gar müssen, ist eine hochpolitische Angelegenheit.
SPIEGEL: Kann Trauer zur Waffe werden?
Scheve: Emotionen sind stets Gegenstand der normativen Bewertung und produzieren soziale Ausschlüsse und Zugehörigkeiten, da ist Trauer keine Ausnahme.
SPIEGEL: Auf dem Abschluss der diesjährigen Berlinale fielen Begriffe wie Genozid und Apartheid, Menschen zeigten sich mit Palästinensertuch. Auch das schien dazu zu dienen, Stimmung zu machen, Gefühle zu erzeugen.
Scheve: Im Kulturbetrieb ist man geübt darin, Empfindungen und Positionen zu artikulieren, sie überzeugend an andere heranzutragen und Resonanz zu erzeugen und auszuhalten, das ist ein wesentlicher Bestandteil von Kultur. In der Wissenschaft zum Beispiel wäre vielen Forschern so viel Emotion vermutlich suspekt, denken Sie etwa an Christian Drosten während der Pandemie. Der wollte irgendwann nur noch über Fachliches sprechen und nicht über seine eigene Befindlichkeit oder die Stimmung im Land. So war jedenfalls mein Eindruck.
Die politische Macht des Kulturbetriebs ist groß
SPIEGEL: Der Virologe Drosten wurde wegen seiner fachlichen Qualifikation gehört. Die wenigsten Künstlerinnen und Künstler sind gleichzeitig Politikwissenschaftler – sie sind Leute mit politischen Ansichten. Wie groß ist ihre Macht?
Scheve: Groß, denn vielen gilt der Kulturbetrieb als gesellschaftliche Institution und moralische Instanz, man schreibt ihm die Rolle eines Taktgebers oder Seismografen zu. Konfliktthemen werden dort zumindest ganz anders verhandelt als in der Politik.
SPIEGEL: Im Bundestag geht es doch genauso emotional zu.
Scheve: Die Politik ist ein affektgeladener Bereich und war es immer, das wissen vor allem Populisten zu nutzen. Dennoch ist der legitime Ort großer Gefühle für viele Menschen vor allem die Kultur, auch der Sport. Von der Politik erwarten sie sich eher Sachlichkeit.
SPIEGEL: Sie erforschen den Gemütszustand von Gesellschaften, kollektive Emotion. Dabei fühlt in einer Gesellschaft doch nicht jeder gleich.
Scheve: Oft genug führen die Meinungsunterschiede sogar zu einem Zustand der gesellschaftlichen Spaltung, wir sprechen dann von einer affektiven Polarisierung. Dann zählt nur noch, die Welt in eine Eigen- und Fremdgruppe einteilen zu können – ein gefühlsgesteuerter Vorgang. Diese affektive Polarisierung hat in den USA, denken Sie an die Binarität zwischen Demokraten und Republikanern, in den vergangenen Jahren noch weiter zugenommen.
SPIEGEL: Aber es gibt sie auch in Deutschland.
Scheve: Bei Weitem nicht in dem Ausmaß. Aber die Akteure sind lauter geworden und mit ihnen auch ihre Gefühle, deshalb entsteht der Eindruck, es habe sich etwas verschärft.
SPIEGEL: Die US-Philosophin Judith Butler nennt das Massaker der Hamas in Israel einen »bewaffneten Widerstand«, darüber wird auch in Deutschland hitzig diskutiert. Ist das eine sachliche Bewertung – oder spricht sie damit die Gefühlsebene an?
Scheve: Beides. Und über beides lässt sich trefflich streiten. Es ist zunächst Butlers Deutung von Wirklichkeit. Starke Gefühle entstehen oft dann, wenn eine Interpretation von Wirklichkeit nicht mit der eigenen Wahrnehmung übereinstimmt. Butler möchte offenbar nur mit jenen debattieren, die ihren Widerstandsbegriff akzeptieren. Sie legt eine Deutungsschablone auf einen existierenden Konflikt und macht diese Schablone zur Voraussetzung für eine Debatte. Das ist ein normativer Impetus, der widerständige Emotionen erzeugt und verstärkt.
SPIEGEL: Wer entscheidet, wo eine rationale Position endet – und eine emotionale beginnt?
Scheve: Interessanterweise werden Emotionen neuerdings immer wieder selbst zu einem Streitthema. Welche Gefühle sind angemessen, wer bestimmt das überhaupt? Ein Beispiel aus der Klimabewegung: Wenn Greta Thunberg sagt »I don’t want you to feel hope. I want you to panic«, gibt sie ein Emotionsregime vor.
SPIEGEL: Warum beteiligen sich ausgerechnet so viele Intellektuelle an dieser Verhärtung der Debatte? Sonst werben sie doch für Abwägung und Dialog.
Scheve: Vermutlich haben nur wenige ein Interesse an der Verhärtung der Debatte. Aber ja – der Raum für Differenzierung und Zwischentöne verschwindet mitunter. Statt sich darauf zu einigen, dass man unterschiedlicher Meinung ist, gehen diese Unterschiede über in Ablehnung und sogar Abscheu gegenüber denen, die anders denken. Das kann den Austausch verunmöglichen.
SPIEGEL: Momentan sorgen sich viele vor neuen Auswüchsen. Womöglich müssen demnächst die Biennale in Venedig oder der Eurovision Song Contest über Sicherheitsvorkehrungen nachdenken, um israelische Teilnehmer und Teilnehmerinnen zu schützen.
Scheve: Meiner Wahrnehmung nach gab es im Kulturbetrieb, zumindest in jüngster Zeit, einen gewissen Common Sense, eine große Liberalität, ein Miteinander auch über ganz unterschiedliche Positionen hinweg. Dieser Konsens scheint aufzubrechen, und Differenzen werden, wenn nicht größer, dann zumindest sichtbarer. Das haben wir zuletzt während der Pandemie gemerkt. Denken Sie an die Serie »Alles dicht machen«, bei der Schauspieler in Onlinevideos die Coronamaßnahmen lächerlich gemacht haben. Das hat zu harscher Kritik und starken Emotionen gerade auch innerhalb des Kulturbetriebs geführt.
SPIEGEL: Die Gefühle ließen erst nach, als die Pandemie zu Ende war. Was erwartet uns in Nahost-Diskussionen zuerst – eine Versachlichung der Diskussion oder ein Ende des Konflikts?
Scheve: Debatten werden nie nur auf der Sachebene geführt, und ein Ende des Konflikts ist für mich im Moment nicht absehbar.
SPIEGEL: Wenn aus dem Sentiment ein Ressentiment geworden ist, was ist dann noch möglich? Kann bei derart starken Gefühlen aus Ablehnung noch Annäherung werden?
Scheve: Es geht nicht um Annäherung um jeden Preis. Wichtiger ist, Zwischentöne zuzulassen. Das gilt für politische Auseinandersetzungen ebenso wie für Emotionen gegenüber dem politischen Gegner. Stattdessen spüren viele Menschen offenbar einen Bekenntnisdruck – und wagen es kaum, keine eindeutige Meinung zu haben. Oder um Versachlichung auch nur zu bitten.
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