Wolfgang Behringers „Der große Aufbruch“

wolfgang behringers „der große aufbruch“

Die Flotte Vasco da Gamas, dargestellt auf einem um 1565 entstandenen Blatt

Im September 1498 nahm der Seefahrer (und Eroberer) Vasco da Gama die kleine Insel Angediva, die heute zum indischen Bundesstaat Goa gehört, für Portugal in Besitz. Bald nachdem er die Insel betreten hatte, kam ein Mann mittleren Alters auf ihn zu, der in kostbares weißes Leinen gekleidet war. Folgt man einem Augenzeugenbericht, so habe der Mann da Gama umarmt, auf Venezianisch begrüßt und nachdrücklich beteuert, ein Christ aus der Levante zu sein, der seit jungen Jahren in Indien lebe und einem mächtigen muslimischen Herrn diene. Er sei zwar Muslim geworden, im Herzen aber Christ geblieben. Als er gehört habe, dass Fremde angekommen seien, die niemand verstehen könne, Fremde, die noch dazu von Kopf bis Fuß bekleidet seien, habe er sofort an Europäer gedacht. Der Augenzeuge berichtet weiter, dass die Portugiesen dem Mann misstraut und bei den Christen in Calicut Erkundigungen über ihn eingeholt hätten, um schließlich zu erfahren, dass er ein Freibeuter sei, der die Portugiesen aushorchen wolle. Da Gama habe ihn daraufhin an Bord seines Flaggschiffs bringen und foltern lassen, aber erst auf hoher See von ihm erfahren, dass er in der Tat im Auftrag seines Herrn gekommen war, um einen baldigen Angriff vorzubereiten.

wolfgang behringers „der große aufbruch“

Wenn sich die Spur des Mannes nicht verlor, dann vor allem aus einem Grund: Er war auf stupende Weise sprachbegabt und beherrschte neben Arabisch, Chaldäisch, Hebräisch, Lateinisch auch mehrere indische Sprachen. In Lissabon angekommen, ließ Vasco da Gama den hochbegabten Freibeuter auf den Namen Gaspar da Gama taufen: Gaspar nach dem ersten der sogenannten „Heiligen Drei Könige“, der oft dunkelhäutig dargestellt wurde, und da Gama nach ihm selbst, dem Taufpaten. Kaum getauft, ernannte ihn König Manuel von Portugal zum Dolmetscher seiner Indienflotte. Immer in weißes Leinen gekleidet und mit einer Kappe auf dem Kopf, begleitete Gaspar da Gama in den folgenden Jahren alle portugiesischen Seefahrer von Rang auf ihren Fahrten, nicht zuletzt Pedro Álvares Cabral nach Brasilien. 1508 war er bei der Eroberung von Hormus dabei und 1510 bei der von Calicut, immer übersetzend, beratend, ja, verhandelnd.

Obwohl wir vergleichsweise viel über Gaspar da Gama wissen, wissen wir im Grunde nicht, wer er war. Wir kennen weder seinen Geburtsort noch sein Geburts- oder Todesjahr; wir wissen nicht, wie er ursprünglich hieß. Inzwischen gehen die meisten Interpreten davon aus, dass er ein Jude polnischer Herkunft war.

Theoriegeleitete Systematisierungen sucht man weitgehend vergebens

Wolfgang Behringer skizziert den Lebenslauf des polyglotten Gaspar da Gama in der einleitenden „Apologie“ seiner Globalgeschichte der Frühen Neuzeit – und lässt damit zugleich das Programm dieser Geschichte erkennbar werden. Denn nicht nur, dass er mit dem Lebenslauf auf Prozesse kulturellen Transfers, kulturellen Konflikts und kultureller Hybridisierung aufmerksam macht, in deren Verlauf Go-Betweens wie Gaspar als kulturelle Übersetzer immer unentbehrlicher wurden. Indem der Kultur- und Umwelthistoriker Behringer seine monumentale Globalgeschichte mit dem Lebenslauf eines Kosmopoliten avant la lettre beginnen lässt, führt er zugleich vor Augen, dass er Globalgeschichte als Mikrogeschichte in globaler Absicht versteht, die auf die Multiperspektivität von Akteurinnen und Akteuren setzt. Das aber heißt auch: Die vorliegende Globalgeschichte ist eine „shared history“, eine Geschichte globaler Verbindungen und Vernetzungen, in der die sogenannte europäische Expansion nur noch eine Expansion unter anderen ist.

Mehr noch: Lebensläufe wie die von Gaspar da Gama und anderen Go-Betweens erlauben es Behringer, auch globale Ereignisse und globale Orte mikrohistorisch zu identifizieren, was ihn wiederum zu „übergreifenden“ Phänomenen führt, die wie Kolonialismus, Migration oder auch Sklaverei, wie Ethnozentrismus und Rassismus durchgängig, aber gewissermaßen „vor Ort“ kontextualisiert und problematisiert werden. Keine Frage, die „halb zufällige“ Bricolage, die auf diese Weise entstanden ist, hat ihren Preis. So sucht man theoriegeleitete Systematisierungen weitgehend vergebens. Andererseits aber ermöglicht es diese Bricolage, immer wieder aufs Neue – fast möchte man sagen produktiv kaleidoskopisch – ungewohnte und oft genug verstellte Bezüge sichtbar zu machen.

Behringer geht von einer globalen „Frühen Neuzeit“ aus, in deren Verlauf alle „Zivilisationen“ – die er in erster Linie kulturell (und damit auch erinnerungsräumlich) verstanden wissen will – über kontinentale Grenzen hinweg miteinander in Verbindung traten, und das oft genug mit Folgen, deren Reichweite erst auf den zweiten und dritten Blick erkennbar werden. So revolutionierte zum Beispiel das Silber aus der „Neuen Welt“, das über Spanien beziehungsweise Europa in die „Alte Welt“ gelangte, den innerasiatischen Handel, indem es in Gestalt der Silberrupie die chinesische Papierwährung verdrängte. Obwohl Behringer Europa eine „zeitweilige Sonderstellung“ in diesen globalen Vernetzungsprozessen zugesteht, die Sonderstellung des zivilisatorischen Spätzünders, betont er doch zugleich, dass eine Globalgeschichte der Frühen Neuzeit im Grunde ohne Epizentrum auskommen kann, wenn nicht auskommen muss. Ja, es spricht nach Behringer sogar einiges dafür, dass Europa erst in der globalen Dynamik seiner Expansion kulturell mit Afrika und Asien gleichziehen konnte.

Nachdem Behringer die Ausgangsbedingungen der „alten Zivilisationen“ vor dem „großen Aufbruch“ skizziert und dabei auch globale klimageschichtliche Entwicklungen wie die sogenannte „Kleine Eiszeit“ in den Blick genommen hat, setzt er seine Mikrogeschichte in globaler Absicht moderat chronologisch (und durchaus klassisch) in drei Hauptkapiteln um. Das sechzehnte Jahrhundert wird dabei zum Jahrhundert „im Aufbruch“, das siebzehnte zum Jahrhundert „im Krisenmodus“ und das achtzehnte zum Jahrhundert „des Fortschritts“. Zwei weitere Kapitel führen über die globale Frühe Neuzeit hinaus: Das Kapitel „Tanz auf dem Vulkan“ macht auf die Verwerfungen global verdichteter (und oft genug asymmetrischer) Interaktionen aufmerksam, die den „Übergang zur Moderne“ begleiteten, während der „Epilog“ vor allem dazu dient, die Aufmerksamkeit für die „Tiefenströmungen der Geschichte“ zu schärfen, die der „große Aufbruch“ freigelegt, verstärkt, verändert, ja, hervorgebracht hat.

Es ist bezeichnend, dass Behringer in seinem Epilog nicht zuletzt auch Formen globaler Gewalt oder die verschiedenen Expansionen des Ethnozentrismus thematisiert. Wenn er gleichzeitig die „Hybridisierung“ und damit auch die „Kreolisierung“ von Zugehörigkeiten und Lebensstilen als Signatur globaler oder doch globalisierter Kultur stark macht, dann in erster Linie deshalb, um uns frühneuzeitliche Globalgeschichte in ihren Tiefenströmungen als „Quelle der Selbsterkenntnis“ nahezubringen. Damit aber wären wir im Grunde wieder bei Gaspar da Gama – und einer Geschichtsschreibung, die im Kleinen zur Größe findet.

Wolfgang Behringer: „Der große Aufbruch“. Globalgeschichte der frühen Neuzeit. C. H. Beck Verlag, München 2023. Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung.1319 S., Abb., geb., 48,– €.

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