In einem Land nach seiner Zeit: Junger Russe macht sich auf eine riskante Reise in die Heimat

Kriegspropaganda und Heimatliebe

In einem Land nach seiner Zeit: Junger Russe macht sich auf eine riskante Reise in die Heimat

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Vollbepackt macht sich Evgenii Rozhkov mit dem Bus von Bad Hersfeld aus auf den Weg über Gießen bis zu seiner Familie nach Moskau.

Evgenii Rozhkov ist Bad Hersfelder mit russischem Pass. Ein Krieg, den er nicht will, schneidet auch ihn von seiner Familie ab. Wir haben ihn auf seiner riskanten Reise zurück in die Heimat begleitet.

Bad Hersfeld/ Moskau – Als der russische Oppositionspolitiker Alexei Nawalny verhaftet wird, klebt Evgenii Rozhkov einen Sticker mit dem Schriftzug „Free Nawalny“ auf sein Auto. Als Nawalny unter ungeklärten Umständen im Straflager stirbt, befestigt der Bad Hersfelder mit russischem Pass eine ukrainische Flagge über dem Schriftzug. Eine ukrainische Kollegin schüttelt ihm im Büro die Hand. „Ich dachte immer, du bist für die andere Seite.“

Auch zwei Jahre nach Kriegsbeginn wird beinahe jedes neue Treffen und so mancher Restaurantbesuch zur Politdebatte. Evgenii Rozhkov muss sich rechtfertigen. „Bist du für Putin?“– fragen viele direkt. „Nein“, erklärt er schnell.

Bad Hersfelder: In einem Kriegsland wie Russland will er nicht leben

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Auf dem Roten Platz in Moskau scheint der Krieg Lichtjahre entfernt, im Schatten des Kreml werden regelmäßig bunte Jahrmärkte abgehalten.

Seit vier Jahren lebt er in Deutschland, der Liebe wegen ist er nach Bad Hersfeld gezogen, hat Sprachkurse belegt und erst als Lagerarbeiter, dann als Personaldienstleister bei Manpower in Bad Hersfeld gearbeitet und den deutschen Pass beantragt.

Rozhkov liebt das Reisen, fühlt sich überall auf der Welt zuhause, lernt gerne neue Sprachen und Menschen kennen. Als der Krieg in der Ukraine begann, fühlte sich Rozhkov wochenlang wie betäubt – und er hat ein Stück Heimat verloren. In einem Kriegsland wie Russland will er nicht leben.

Und das, obwohl seine Familie und einige Freunde immer noch in der Heimat wohnen. Weil sie nicht ohne Weiteres Visa bekommen, weil sie Angst haben, an der Grenze eingezogen zu werden, oder kleine Kinder haben. Für sie als Putinkritiker schwingt die Angst, verraten und bestraft zu werden, bei jedem Geburtstag und jedem Bar-Besuch mit.

40 Stunden Fahrt: Die Sorge, eingezogen zu werden, reist mit

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Auch auf Kindergeburtstagen ist der Krieg präsent. Offen politische Kritik zu üben ist gefährlich.

Dass es sich in Russland nicht mehr so unbekümmert leben lässt, wie vor Kriegsbeginn, spürt Rozhkov spätestens, als er sich im Februar auf die Reise nach Hause macht. „Ich wollte mein Land und meine Familie wiedersehen. Es war die letzte Chance vor der Wahl, bevor die Grenze vielleicht ganz geschlossen wird.“ Doch die Sorge, als Soldat in den Ukraine-Krieg eingezogen zu werden, reist mit. 40 Stunden fährt er mit einem Fernbus nach dem anderen von Bad Hersfeld über Lettland bis nach Moskau.

An der russischen Grenze angekommen, zweifelt der 36-Jährige jedoch an seiner Entscheidung: „War diese Reise der größte Fehler meines Lebens?“, die Frage lässt ihn nicht los. Immerhin braucht das russische Militär ständig Nachschub, Männer im wehrfähigen Alter werden zwangsrekrutiert, zur Not mit Gewalt. Die Internet-Videos der Razzien haben viele Russen online verfolgt. Deserteuren und Kritikern drohen Folter und Haft. All das spukt dem 36-Jährige im Kopf herum, als er in dem trostlosen Grenzgebäude vor einer grimmigen Polizistin steht.

Doch dann geht die Einreise ganz schnell, der Stempel knallt in den Pass, nur auf die Einreise-Erlaubnis der nicht-russischen Mitfahrer muss die Busgesellschaft noch zwölf Stunden warten. Jeder Ausländer wird vom Geheimdienst verhört, inklusive unserer Reporterin.

Wiedersehensfreude und ein bedrückender Dämpfer

Dann haben es alle über die Grenze geschafft und zuhause in Moskau können Mutter Nina und Vater Viktor gar nicht mehr aufhören zu lächeln, als ihr Sohn nach vielen Jahren endlich wieder in der Wohnung am Stadtrand steht.

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Gedenken auf dem Lubjanka Platz in Moskau: Russen jeden Alters legen Blumen für den in Haft verstorbenen Oppositionellen Alexei Nawalny ab. Dabei sind sie von Polizisten umringt, die die Trauernden filmen, einige Menschen werden verhaftet.

Doch die Wiedersehensfreude bekommt bald einen gewaltigen Dämpfer: Als der wohl bekannteste Regimekritiker Alexei Nawalny unter ungeklärten Umständen in russischer Haft stirbt, ist Rozhkov gerade auf Shoppingtour in Moskau. Der kleine Sohn eines Freundes hat Geburtstag, eine Mütze soll her. Vor dem Regal mit den knallroten und grünen Mützen blinkt plötzlich sein Handy mit der Schreckensnachricht auf. Schnell macht Evgenii den Faktencheck, russischen Nachrichten traut er schon lange nicht mehr. „Dann war einfach Leere in meinem Kopf“, sagt Rozhkov. Nachrichten seiner Freunde prasseln kurze Zeit später ins Postfach. Zuhause schluchzt Mutter Nina in ein Taschentuch. Der Kindergeburtstag im engsten Freundeskreis fühlt sich wie eine Trauerfeier an. Jeder hebt sein Glas, sie verabschieden sich von einem Hoffnungsträger. „Alles ist besser als Putin und dieser Krieg“, da sind sich alle sicher.

Zum Gedenkort mitten in Moskau werden sich aber die wenigsten aufmachen. Zu groß ist die Gefahr, beim Blumenniederlegen verhaftet zu werden. Evgenii zieht es trotzdem auf den Lubjanka Platz. Dutzende Polizisten haben sich am Parkeingang positioniert, filmen Demonstranten, treiben die Trauernden schnell am Gedenkstein vorbei. In der Nacht packen Stadtarbeiter die Blumen in große Müllsäcke.

Werbung für den Krieg: Regierung lockt mit Geldprämien

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Trete uns bei, steht an einer Bushaltestelle am Rande von Moskau. Die russische Regierung hat eine Hotline für Wehrwillige eingerichtet.

In den Cafés hängen Wahlflyer neben Werbeplakaten für den Kriegseinsatz. Evgenii Rozhkov erkennt sein Moskau nicht wieder. An den Bushaltestellen rufen Slogans zum „Job für echte Männer“ auf – für jede zerstörte gegnerische Ausrüstung gibt es umgerechnet 500 Euro.

Auf der Rückreise mit dem Bus von Moskau zur russischen Grenze und nach Bad Hersfeld lassen Rozhkov die Erlebnisse nicht los. Die Angst, nicht ausreisen zu dürfen, mischt sich mit der Wut über die Kriegspropaganda und dem flauen Gefühl des Abschieds von seiner Familie.

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In den Fußgängerzonen und Parks in Moskau wird der „Kriegshelden“ gedacht, die in der Ukraine gefallen sind. Einige von ihnen wurden kaum volljährig.

Ein Zwischenfall an der Grenze und eine manipulierte Wahl

Am Grenzübergang Terehova zwischen Lettland und Russland reihen sich die Reisenden schweigend und mit leerem Blick in der Schlange vor der Grenzkontrolleurin ein. Als Rozhkov an der Reihe ist, fällt für kurze Zeit der Strom aus, ein ohrenbetäubendes Heulen der Alarmanlage ertönt, keiner sagt ein Wort. Als das Licht wieder an ist, knallt der Stempel im Pass und Rozhkov atmet erleichtert auf.

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Machen ihrem Ärger Luft: Russen in Deutschland demonstrieren am Präsidentschaftswahltag vor dem Bonner Konsulat gegen den Krieg in der Ukraine und Wladimir Putins repressive Politik.

Aus Russland hat er es herausgeschafft. „Wann ich meine Familie das nächste Mal sehen kann, weiß ich nicht“, sagt er. Zur Präsidentenwahl im März reist Rozhkov nach Bonn, stimmt gegen Putin, auch wenn er weiß, dass das Wahlergebnis manipuliert ist. Der Ausflug zur Wahl hat sich aber genauso gelohnt wie die Reise nach Russland, sagt Rozhkov rückblickend. „Ich bin natürlich froh, meine Familie besucht zu haben. Aber auch die neue Realität in Russland zu erlebt war mir wichtig. Meine Heimat hat sich zu einer echten Dystopie entwickelt“, sagt er.

Anmerkung der Redaktion: Unsere Reporterin ist mit Evgenii Rozhkov verheiratet und hat ihn auf seiner Reise begleitet.

(Kim Hornickel)

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