Immanuel Kant: Der Unendliche II

immanuel kant: der unendliche ii

Immanuel Kant

Genuss, fleischlich

Heikler Kern

Über eine berüchtigte Formulierung

Odo Marquard machte sich einmal über die soziologische Rede vom „Personenkern“ mit der Bemerkung lustig, dieser Kern sei ja wohl nicht das, was ein Kannibale ausspucke. Man musste da nicht, konnte aber doch an Kant denken. Denn der handelt einmal von einem Menschenverzehr, der nicht nur einen Rest, sondern sogar die ganze Person übrig lässt. Es geht da um „die Lust aus dem Genusse einer anderen Person“, die dem kannibalischen Verzehr zur Seite gestellt wird. Denn es gebe „zweyerley Genuß eines Menschen von dem anderen (des fleisches): der cannibalische oder der wollüstige Genuß. Der letztere läßt die Persohn übrig.“ Der sexuelle Genuss, das commercium sexuale – ja schon der Kuss –, ist also ein paradoxer Verwandter des Kannibalismus; wie diesem ist ihm die Lust Triebfeder zum Gebrauch einer Person beziehungsweise dazu, sich von einer anderen Person gebrauchen zu lassen; im commercium sexuale sind sich die Beteiligten Mittel des Genusses. Womit freilich ein moralisches Problem aufgeworfen ist, denn als Personen dürfen sie weder sich selbst noch den anderen zum Mittel degradieren.

Die Kant’sche Einhegung dieses Problems ist in seiner Behandlung der Rechtsform der ehelichen Gemeinschaft zu finden. Dort also, im privatrechtlichen Teil der reinen Rechtslehre, wo die Ehe als Verbindung zweier Personen „zum lebenswierigen, wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften“ bestimmt wird. Eine berühmt-berüchtigte Definition, die für viel Empörung gesorgt hat – weshalb wir hier überhaupt auf sie kommen. Sie mag brutal klingen und wie ein Archaismus. Aber in ihr steckt der durchaus moderne Ausbruch aus einer bis dahin in Anspruch genommenen Begründung der Ehe als Institut der Fortpflanzung. Diese Referenz auf einen Naturzweck räumt Kant, der beeindruckte Leser Rousseaus, beiseite. Der Wegfall der Möglichkeit, dass sich die Gatten zum Mittel im Dienst der Erhaltung der Gattung machen, verschärft allerdings noch das Problem, wie die nun bloßliegende Wollust, die sich selbst genügt, zusammenzubringen sein soll mit der Vermeidung einer Verletzung der mit dem Personsein verknüpften Menschenwürde. Oder knapper ausgedrückt: Wie sich eine unumgängliche Verdinglichung mit dieser Würde verbinden lässt.

Kant schafft das in der Rechtslehre, wie Friederike Kuster das einmal in den Kant-Studien bündig resümiert hat, indem er aus dem wechselseitigen Gebrauch einen wechselseitigen Erwerb hervorgehen lässt (der systematische Ort ist der Abschnitt über das „auf dingliche Art persönliche Recht“, dem keine rechtsphilosophische Zukunft beschieden war). In diesem wechselseitigen Erwerb geben die Gatten ihre Persönlichkeit auf, erhalten sie aber im selben Zuge wieder „restituiert“, nun jedoch sogar als Teil, wie es an anderer Stelle heißt, eines gemeinsamen Ganzen, vereint zu einer „Moralischen Person“ und „Einheit des Willens“, womit das commercium sexuale entschärft ist.

Eine hübsche Volte auf dem Gebiet des Vernunftrechts. Man muss deshalb nicht gleich befürchten, Kant habe übersehen, dass die eheliche Gemeinschaft keine besonders haltbare Angelegenheit wäre, würde sie nur auf der Geschlechtsneigung basieren. Der „elegante Magister“ war nicht weltfremd und geriet dort, wo es um die stabilisierende Rolle von natürlich vorgebahnten, aber gesellschaftlich ausgebauten Geschlechtsprofilen komplementärer Art geht, durchaus auf die Linie bürgerlicher Ehevorstellungen. Vor der Verachtung, die Hegel ihm angedeihen ließ angesichts des offensichtlichen Umstands, dass beim Ausgang von einzelnen Geschlechtswesen das Sittliche der Ehe nur verfehlt werden kann, hat ihn das nicht bewahrt.

Auf solche Weise ableitbar wäre ersichtlich doch nur ihre Verworfenheit, hält auch Walter Benjamin in seinem Essay zu Goethes „Wahlverwandtschaften“ fest (in denen es ja um den Zerfall einer Ehe geht). Aber er weiß von Kants Bestimmung, „deren einzig als Exempel rigoroser Schablone oder als Kuriosum der senilen Spätzeit “ gedacht würde, doch einen anderen Gebrauch zu machen. Sei sie doch „das erhabenste Produkt einer ratio, welche, unbestechlich treu sich selber, in den Sachverhalt unendlich tiefer eindringt, als gefühlvolles Vernünfteln tut“. Sie dringt, so könnte man es formulieren, zu einem heiklen Kern vor, an dem sich dann nicht nur Kannibalen die Zähne ausbeißen. Philosophische Lektionen können eben ganz unterschiedlich ausfallen. (hmay.)

Sich im Denken orientieren

Lass mal anfassen!

Was er nur immer mit dem Allgemeingültigen hat?

Zu den Lichtblicken bei der begriffsgläubigen Kant-Lektüre gehört eine Überschrift. Die Überschrift ist eine Frage: „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“ Der einfühlsame Orientierungsbegriff verspricht ein psychologisches Grundverständnis, dessen Maximen nicht unbedingt ein allgemeines Gesetz werden müssen, wie der kategorische Imperativ fordert. Doch auch die Schrift von 1786 selbst, zu der die Überschrift gehört, hantiert mit A-priori-Einsichten, die scharf stellen möchten, was in der Unschärfe des Sich-Orientierens lebendig bleibt.

Es ist tatsächlich allein die Überschrift und ihr psychologischer Orientierungs-Sound, der Anreiz zum Spekulieren gibt, weil Kant es hier einmal nicht mit dem Allgemeingültigen zu haben scheint. Dem offenen Orientierungsdenken geht es nicht um Letztgewissheiten, wie sie fertige Begriffe mit sich führen. Sich im Denken orientieren heißt: sich von Anhaltspunkt zu Anhaltspunkt hangeln, statt nach allgemeiner Gesetzesfähigkeit zu fahnden. Es geht um den Abgleich von Anhaltspunkten, welche, wenn sie sich als haltbar erweisen, zu Fixpunkten der Orientierung werden können. Fixpunkte sind wiederum psychopathologisch interessant, entweder als Wahngebilde in der Einschränkung auf eine einzige Perspektive. Oder als stets von Auflösung bedrohte Begriffssicherheit, die keine Gestalt gewinnt und zerfällt, kaum dass sie zustande gekommen sind. Das psychotische Subjekt stellt eine ganze Welt von Gegenständen her, die jedoch Bedeutungen tragen, welche sie in unserer gemeinsamen Welt nicht haben (Thiemo Breyer). Von daher wiederum das Rettende allgemeiner Gesetzesfähigkeit. Sie verhindert laut Kant zu schwärmen, statt zu denken.

„Im Finstern orientiere ich mich in einem mir bekannten Zimmer, wenn ich nur einen einzigen Gegenstand, dessen Stelle ich im Gedächtnis habe, anfassen kann“, schreibt Kant im Orientierungstraktat. Und er zeigt sich erstaunt über den subjektiven Psychologiebedarf des Orientierungsverfahrens: „Aber hier hilft mir offenbar nichts als das Bestimmungsvermögen der Lagen nach einem subjektiven Unterscheidungsgrunde: denn die Objekte, deren Stelle ich finden soll, sehe ich gar nicht.“ Das Objektive meiner Begriffe ist nicht zu sehen: Was, wenn nicht dieser subjektive Faktor wäre ein allgemeines Gesetz? (gey.)

Kritik der reinen Vernunft

Alles leicht und mehr Unterhaltung als Arbeit

Die Vorreden zu seinem Hauptwerk beweisen, dass der Philosoph viel schöner schreiben konnte, als er wollte

Es gibt wenige Bücher, in denen Vorwort und Haupttext stilistisch so weit aus­einanderklaffen wie in der „Kritik der reinen Vernunft“. Kant nahm das bewusst in Kauf. In der Vorrede zur ersten Auflage aus dem Jahr 1781 schrieb er, er sei lange unschlüssig gewesen, ob er neben der „diskursiven Deutlichkeit“ auch eine „intuitive (ästhetische)“ habe anstreben sollen. Der Übersichtlichkeit halber habe er sich jedoch dafür entschieden, „Beispiele und Erläuterungen“ fast vollständig zu tilgen, da diese „nur in populärer Absicht notwendig“ seien. Das klingt recht überheblich – was ihm später von Heinrich Heine auch prompt vorgehalten wurde. Dieser schrieb in der „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, Kant, der an anderer Stelle als „großer Zerstörer im Reiche der Gedanken“ bezeichnet wird, habe „durch den schwerfälligen, steifleinenen Stil seines Hauptwerks sehr vielen Schaden gestiftet“. Seither meine jeder Philosoph, er müsse unlesbar sein.

Doch Kants Vorrede zur ersten Auf­lage – und auch noch die zur zweiten von 1787 – ist alles andere als das. Sie ist gespickt mit Zitaten, Bonmots und geistreichen Personifikationen der Vernunft. Kant war in Königsberg berühmt für seine unterhaltsamen Tischgesellschaften, in denen von Philosophie möglichst wenig die Rede sein durfte. Und an solch einer Tischrede kann der Leser sich einbilden in der Vorrede teilzunehmen. Mit treffsicherer Anschaulichkeit, viel Lebensnähe und einem Gespür für Dramaturgie zieht Kant allmählich den Vorhang zur „Kritik der reinen Vernunft“ empor, die er mit einem „Gerichtshof“ vergleicht – wie wird die Verhandlung wohl ausgehen?

Ein feuilletonistischer Ton umweht die Vorrede, die in ihrem Hang zur Antithese Wolfram von Eschenbachs meisterhaftem Prolog zum „Parzival“ ähnelt. Mehr noch fühlt man sich an die (Selbst-)„Rezension des Neuen Menoza“ von Jakob Michael Reinhold Lenz aus dem Jahr 1775 erinnert, in der dieser die Dramentheorie des Sturm und Drang entscheidend vorantrieb. Womit nicht gesagt sein soll, dass sich Kant von dem sechs Jahre früher erschienenen Prosatext des Jüngeren inspirieren ließ, sondern vielmehr, dass Lenz sich darin als stark beeinflusst von Kant zeigt, den er in Königsberg als Student gehört hatte und dessen Vokabular („Unmündigkeit“) und Denkweise er merklich aufnahm.

Wie wahr Kants Vorrede selbst in ihren vollmundigsten Passagen ist („ich erkühne mich zu sagen“, „ich schmeichle mir“), kann nur ermessen, wer zumindest die Grundzüge der „Kritik der reinen Vernunft“ verstanden hat, was einem aber nicht im Selbststudium, sondern nur mithilfe von Eingeweihten in einer Art mündlichen Überlieferung über Raum und Zeit hinweg gelingen kann. Wittgenstein schrieb im „Tractatus ­logico-philosophicus“, dessen Vorwort Kants Vorrede stellenweise zu paraphrasieren scheint: „Er [der Leser] muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.“ Das gilt auch für die „Kritik der reinen Vernunft“. Um zu zeigen, dass es sich lohnen könnte, sie zu verstehen, nimmt Kant ungeniert und sehr gekonnt Anleihen bei der Dichtkunst. (uweb.)

Träume eines Geistersehers

Als er Swedenborg las

Von den Geheimnissen der anderen Welt

In einer Erzählung Graham Greenes hält ein Offizier einen Vortrag in der „Parapsychologischen Gesellschaft“. Er spricht matt und zusammenhanglos über das Verhältnis von Materie und Geist, das Letzterer dominiere. Dafür wolle er nun einen „positiven Beweis“ liefern, doch seine Rede wird immer wirrer. Als er mitten im Satz aufhört, stellt ein Arzt fest, dass der Redner tot ist – seit mindestens einer Woche.

Hätte Kant diesen „Beweis“ für die postmortale Fortexistenz der Seele akzeptiert? In seiner Schrift „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“, die er 1765 publizierte, setzt er sich mit den damals ungeheuer populären Schriften Emanuel Swedenborgs auseinander, deren Verfasser von Visionen und seinem Umgang mit Geistern berichtet – „acht Quartbände voll Unsinn“, schreibt Kant, aber die habe er nun mal „gekauft und, welches noch schlimmer ist, gelesen“, woraus dann die Abhandlung entstanden sei.

Eigentlich ist es eine Polemik, schwungvoll und witzig. Kant beginnt noch einigermaßen sachlich, indem er diskutiert, was unter dem Begriff „Geist“ verstanden wird, er fragt nach der Wechselwirkung mit der Materie und was man von Dingen wissen könne, die per se unseren Sinneswahrnehmungen unzugänglich seien. Nichts, natürlich, aber was ist dann mit Berichten wie den von Swedenborg verbreiteten?

Kant dreht nun die Perspektive. Er beleuchtet die „ungewöhnlich große Reizbarkeit“ der Geisterseher von der Lust an „Ordnung und Schönheit der immateriellen Welt in Phantasien“ und widmet sich der Frage der psychischen Gesundheit der dafür Empfänglichen, die dafür zumindest mit einiger Isolation bezahlen, wenn nicht mehr. Kant jedenfalls ist sicher, dass „die anschauende Kenntnis der andern Welt allhier nur erlangt werden“ kann, „indem man etwas von demjenigen Verstande einbüßt, welchen man vor die gegenwärtige nötig hat“. Denjenigen, die sich nach den „Geheimnissen der anderen Welt“ verzehren, Swedenborgs Lesern also, rät Kant, „dass es wohl am ratsamsten sei, wenn sie sich zu gedulden beliebten, bis sie werden dahin kommen“.

In Graham Greenes Geschichte resümiert ein Zeuge des Vortrags, „bewiesen“ sei damit nicht das Fortleben der Seele nach dem Tod. Sondern nur, dass der Geist ohne lebendigen Körper nichts als Unsinn von sich gebe. (spre.)

Ideen zur Geschichte

Weltbürger in spe

Der natürliche Gang der Geschichte

Die Geschichtsphilosophie ist ins Hintertreffen geraten. Eine universelle Deutung vergangener und kommender Ereignisse assoziiert man heute mit despotischen Wirrköpfen, die ein partikularistisches Ziel in der Geschichte vor allem für sich selbst postulieren. Doch auch wir meinen mit Geschichte keine bloße Reihe kontingenter Ereignisse. Man kann es nicht abtun: Wir gebrauchen Vokabeln wie „fortschrittlich“, „rückschrittlich“ oder „mittelalterlich“, die auf ein Ziel oder zumindest eine Richtung der Geschichte hindeuten. Ganz unbemerkt schleicht sich dabei ein Leitfaden in unsere historische Perspektive, der dem Geschichtsbild Kants ähnlich ist. In einer kleinen Schrift, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, formuliert der Königsberger seine historischen Ideen.

Geschichte entzünde sich, nach Kant, an der speziellen menschlichen Natur, die zweigeteilt daherkommt. In Manier eines Thomas Hobbes schreibt der Philosoph von einer anthropologischen Neigung zur Vereinzelung, zur „Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht“. Also von einer ungeselligen Seite des Menschen, die als Voraussetzung jeglicher kultureller Bestrebungen zu begrüßen sei. Eine Neigung zur Vergesellschaftung trete aber ebenso hinzu, weil sich dank ihrer der Mensch „mehr Mensch“ fühle. Diese bipolare Anthropologie nennt Kant treffend „ungesellige Geselligkeit“. Aufgrund dieses Naturells erkenne der Mensch schnell: Sein volles Potential kann er nur in einer gerechten bürgerlichen Gesellschaft entfalten, in der zwischen beiden Trieben Balance gehalten wird. Auf Kultivierung folgt damit die Zivilisierung. Avanciert das bürgerliche Recht zum Normalfall, folgt dann der dritte wünschenswerte Schritt der Moralisierung. Spätestens jetzt wagt Kant ein Blick in die Zukunft. Was nämlich in der Beziehung zwischen Individuen gilt, das gilt ebenso zwischen Staaten, die in Not erkennen werden, dass Kriege der Vernunft widersprechen. Auch hier werde das Recht einkehren müssen. Und so ist der internationale Staatenbund der ideelle Schlusspunkt einer „Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ und gleichzeitig das Gattungsziel des Menschen.

Das mag nach Utopie klingen, ist aus heutiger Sicht aber zutreffend: Rechtlicher Fortschritt auf nationaler wie internationaler Bühne, siehe UN und EU, ist nicht zu verneinen. Aber an Gegenbeispielen mangelt es trotzdem nicht. Man blicke nur in den Osten Europas.

Ein Widerspruch? Nicht unbedingt, denn auch Kant ist nicht naiv: Es gebe eindeutig Zeiten, in denen die „Ungeselligkeit“ überwiege. Aber: Unser Sichtfenster auf den Gang der Geschichte sei zu klein, wenn wir einzelne „Rückschritte“ als Beweise für Stagnation oder Niedergang heranziehen. Eine solche Sicht klingt zynisch angesichts individuellen Leids, sie weist aber auch auf eine weitere anthropologische Konstante hin: die Hoffnung. Denn der despotische Wirrkopf, der seine eigene Geschichte schreiben möchte, wird tatsächlich Glied einer universellen Gattungsgeschichte. Aber anders, als er es wollte. Nämlich als lehrreiches Negativbeispiel, um dem „krummen Holz“, aus dem ein Mensch gefertigt ist, zukünftig mit internationalem Recht beizukommen. (hbuc.)

Die Notlüge

Der faule Fleck der Menschheit

Auch bei Gefahr für Leib und Leben ehrlich bleiben

Von Voltaire stammt das Bonmot, dass alles, was man sagt, wahr sein sollte, aber nicht alles, was wahr ist, auch gesagt werden sollte. Keine Frage: Ob in der Politik, im Privaten oder in der Wirtschaft, gelogen wird überall. Von der Steuererklärung bis zum Eid („I did not have sexual relations with that woman“) unterscheiden sich lediglich Ausmaß und Häufigkeit. Dass Deutsche und Franzosen sich in der Bewertung uneins sind, zeigte sich bereits zu Zeiten der Aufklärung. In Lessings Drama „Minna von Barnhelm“ sucht bekanntlich ein abgebrannter Spieler und entlassener Soldat bei selbiger sich Geld für neue Spieleinsätze zu verschaffen. Als Minna ihm entgegnet: „Falsch spielen? Betrügen?“, entgegnet dieser: „Vous appelez cela betrügen? Corriger la fortune . . . O, was ist die deutsch Sprak für ein arm Sprak! für ein plump Sprak!“

Natürlich, „corriger la fortune“ bedeutet falsch spielen, wird im Französischen jedoch euphemistisch zur „Korrektur des Glücks“. Auch zwischen Kant und dem frankophonen Schweizer Benjamin Constant gab es Unstimmigkeiten über diesen Sachverhalt. Während Constant in seiner Schrift „Von den politischen Gegenwirkungen“ 1797 die Auffassung vertrat, dass jede Gesellschaft zum Scheitern verurteilt sei, in der die Wahrheit zur Pflicht erklärt würde, reagierte Kant im selben Jahr verschnupft mit seinem Aufsatz: „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“. Für Constant war das Recht auf Wahrheit verwirkt, sofern sie anderen schade. Kant hingegen stellt sich auf den kategorischen Standpunkt, dass die Lüge – „der eigentliche faule Fleck in der menschlichen Natur“ – jederzeit und überall Schaden anrichte, und wenn nicht dem einzelnen Menschen, so „doch der Menschheit überhaupt“.

Daher bleibt es für ihn das heilige, durch nichts „einzuschränkende Vernunftgebot, in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein“. Dafür wurde er heftig kritisiert. „Platt, kindisch und abgeschmackt“ befand Schopenhauer, dass Kant den kategorischen Imperativ selbst der Chance auf Konfliktlösung vorzog. Der Princeton-Professor Harry G. Frankfurt benannte 2005 sein Buch nach dem, was das Paradigma der Authentizität seiner Ansicht nach produziere: „Bullshit“. Doch seit einem amerikanischen Präsidenten nachgewiesen wurde, im Amt täglich mindestens 24 Mal gelogen zu haben, und Fake News die Websites fluten, wird einem der Kant’sche Rigorismus wieder sympathisch. Sosehr Lügen furchtbare Zustände mitunter erträglich machen, so sehr sehnt man sich im Zeitalter der organisierten Lüge nach ein bisschen Wahrheit. (S.K.)

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