„Ich habe noch nie eine solche kollektive Trauer erlebt“

Die Fotografin Halina Hildebrand hat nach dem 7. Oktober die Verwüstung der Hamas in Israel festgehalten. Ihre Aufnahmen geben einen intimen Einblick, wie sehr der Terror das Leben der Menschen verändert hat. Und wie die Hoffnung der Angehörigen der verschleppten Geiseln Tag um Tag schwindet.

„ich habe noch nie eine solche kollektive trauer erlebt“

Eine komplett zerstörte Wohnung im Kibbuz Be’eri, in der bis zum 7. Oktober eine Familie mit zwei Kindern lebte Halina Hildebrand

Halina Hildebrand zeigt auf das Foto einer verwüsteten Wohnung. Ein Teil des Dachs ist weggerissen, die Ziegel auf dem Boden in Tausend Teile zerbrochen. Durch das klaffende Loch scheint die Sonne auf eine verbrannte Küchenzeile. Nur die Spülmaschine steht noch, darin eine Handvoll Schalen und Becher. „Diese Zeichen von scheinbarer Normalität waren es, die mich fertig gemacht haben“, sagt Hildebrand. „Ich war wie gelähmt. Wie ein Roboter mit einer Kamera.“

Hunderte solcher Bilder hat die Fotografin in den vergangenen Monaten gemacht. Sie sollen die Zerstörung dokumentieren, die der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober in Israel hinterlassen hat – und sie sollen den Schmerz zeigen, der noch immer allgegenwärtig ist. „Natürlich ist die Situation in Gaza schrecklich“, sagt die 70-Jährige. „Aber die Welt darf das anhaltende Leid in Israel nicht vernachlässigen.“

Darum ist Hildebrand seit Anfang November immer wieder in das Land gereist. Insgesamt vier Wochen lang war sie unterwegs, hat Orte wie den besonders stark zerstörten Kibbuz Be’eri besucht und Menschen getroffen, deren Leben sich für immer verändert hat. „Ich habe noch nie eine solche kollektive Trauer erlebt“, sagt die Fotografin, die selbst Jüdin ist und Familie und Freunde in Israel hat. „Die Fröhlichkeit, die ich immer so bewundert habe, ist verschwunden.“

Stattdessen: Wut, Entsetzen, Angst. Vor allem um die mehr als 100 Geiseln, die noch immer in der Hand der Hamas sind. Auch einige Angehörige der Entführten hat Hildebrand getroffen. „Viele Geschichten, die ich gehört habe, rauben einem den Atem, weil sie so schrecklich sind“, sagt sie. Da ist etwa Asif, ein junger Mann, den sie auf einer Demo für die Freilassung der Geiseln kennenlernte.

„ich habe noch nie eine solche kollektive trauer erlebt“

Asif aus dem Kibbuz Nir Oz vor dem Bild seiner ermordeten Mutter Halina Hildebrand

Auf dem Foto, das sie von ihm gemacht hat, steht er mit rot unterlaufenden Augen vor einer Plakatwand mit Bildern der Entführten. Er zeigt auf das Foto einer älteren Frau mit geflochtenen Haaren, der Schriftzug „Bring her home now“ steht darunter. „Ich sagte zu ihm: ‚Ich erkenne sie, sie wurde vor ein paar Tagen ermordet‘“, erzählt Hildebrand. „Und er antwortete: ‚Ich weiß, das ist meine Mutter.‘“

Oder Danny, ein älterer Mann mit Glatze und weißem Bart. Er sitzt auf einer Treppe, in seinem Blick liegt Schmerz und Erschöpfung. Auf seinem T-Shirt das Foto eines lächelnden jungen Mannes: sein Sohn Omri, ebenfalls von der Hamas entführt. Das Smartphone hält Danny mit beiden Händen umklammert wie einen Rettungsring. „Das Erste, was die Israelis jeden Morgen machen, ist der Griff zum Handy“, berichtet die Fotografin, „um zu schauen, was passiert und wer gestorben ist.“

„ich habe noch nie eine solche kollektive trauer erlebt“

Dannys Sohn Omri wurde von Hamas-Terroristen entführt Halina Hildebrand

Und dann sind da natürlich die Geiseln selbst – die, die unter schlimmsten Bedingungen seit Monaten in der Gewalt der Terroristen ausharren. Und die, die freigelassen wurden, aber für immer mit den traumatischen Erfahrungen leben müssen. Es gebe noch immer Hoffnung, sagt Hildebrand, auch wenn sie in diesen Tagen und Wochen schwierig zu finden sei. „Ohne Hoffnung könnte Israel gar nicht existieren. Aber im Moment ist es, als würde ein Laken darüber liegen.“

Der Wunsch nach einem Ende des Konflikts

In ihrer Verzweiflung gehen Tausende Menschen demonstrieren – für die Freilassung der Geiseln, und immer häufiger auch gegen die Regierung von Benjamin Netanjahu und den zunehmenden Antisemitismus in der Welt. „Alle wünschen sich, dass dieser Konflikt endlich gelöst wird.

Aber wie genau, da ist die Gesellschaft sehr gespalten“, berichtet Hildebrand. Viele würde eine Zwei-Staaten-Lösung befürworten; gleichzeitig sei ein friedliches Zusammenleben im Moment schwer vorstellbar.

Was bei dieser ungewissen Zukunft bleibt, ist die Solidarität untereinander. „Das ist das Einzige, das diesen Staat noch zusammenhält“, sagt die Fotografin. Denn während in vielen Teilen des Landes wieder so etwas wie Normalität eingekehrt sei, sind Zehntausende Israelis noch immer entwurzelt.

„Viele haben für die Binnenflüchtlinge gespendet oder sie sogar bei sich zu Hause aufgenommen“, berichtet Hildebrand. Auch Nataro und ihre Mutter Tziparo aus Sderot – einer Stadt nahe dem Gazastreifen, die am 7. Oktober brutal attackiert worden war – haben in einem anderen Teil des Landes Zuflucht vor den Raketen der Hamas gesucht.

„ich habe noch nie eine solche kollektive trauer erlebt“

Nataro und Mutter Tziparo sind aus dem Kibbuz Magen geflohen Halina Hildebrand

Auf dem Foto, das die Fotografin von ihnen gemacht hat, trägt die ältere Frau einen dicken Fleecepullover mit Sternen und eine Wollmütze. Aus ihrem von tiefen Falten durchzogenen Gesicht blicken leere Augen in die Kamera. Ihre Tochter umarmt sie liebevoll, die Hände liegen sanft auf denen ihrer Mutter. „Tziparo hat immer wieder gesagt: ‚Wo bin ich hier? Ich will nach Hause!‘“, erzählt Hildebrand. „Sie wollte aufstehen und nach Hause gehen, darum hält ihre Tochter sie auf dem Foto fest.“

Die ersten Binnenflüchtlinge kehrten langsam in ihre Heimat zurück, andere seien noch immer in Schockstarre. Und manche können vielleicht nie mehr zurückkehren. Weil ihre Häuser vollkommen zerstört sind – oder weil sie für immer untrennbar mit den Schrecken des 7. Oktober verbunden sein werden. Auf einem Foto aus dem Kibbuz Kfar Aza ist ein Wohnzimmer zu sehen, fast bis zur Unkenntlichkeit verwüstet. Das Sofa ist auf die Seite gekippt und aufgeschlitzt, der Spiegel an der Wand zersplittert. Einschusslöcher und verblasste Blutflecken sprenkeln die Wand.

„ich habe noch nie eine solche kollektive trauer erlebt“

Eine Wohnung im Kibbuz Kfar Aza, in der ein junges Paar lebte Halina Hildebrand

Ein anderes Bild zeigt die Wohnung von Yuri. Der junge Mann steht auf seinem Bett, die Hand auf ein offenes Fenster gelegt. Den Überlebenden aus Kfar Aza habe die Hamas im Schlaf überrascht, erzählt die Fotografin aus ihrem Gespräch mit Yuri. Er sei durch das Fenster geflohen und habe sich 36 Stunden lang in einem Gebüsch vor den Terroristen versteckt.

„Er sagte mir: ‚Ich wusste, wenn ich bleibe, bin ich zu 100 Prozent tot. Wenn ich laufe, habe ich zumindest eine Chance von zehn Prozent‘.“ Sie habe ihn gefragt, ob er sich für das Foto auf sein Bett setzen könnte. Doch er, so erzählt es Hildebrand, hat geantwortet: „Auf diesem Bett kann ich nur noch stehen.“

Das Trauma hat sich irreversibel eingebrannt in die israelische Gemeinschaft.

„ich habe noch nie eine solche kollektive trauer erlebt“

Yuri kann auf seinem Bett nur noch stehen Halina Hildebrand

Die Ausstellung der Fotos in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin dauert noch bis zum 26. April.

News Related

OTHER NEWS

Ukraine-Update am Morgen - Verhandlungen mit Moskau wären „Kapitulationsmonolog" für Kiew

US-Präsident Joe Biden empfängt Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus. Evan Vucci/AP/dpa Die US-Regierung hält Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zum jetzigen Zeitpunkt für „sinnlos”. Bei einem Unwetter in Odessa ... Read more »

Deutschland im Wettbewerb: Subventionen schaden dem Standort

Bundeskanzler Olaf Scholz am 15. November 2023 im Bundestag Als Amerikas Präsident Donald Trump im Jahr 2017 mit Handelsschranken und Subventionen den Wirtschaftskrieg gegen China begann, schrien die Europäer auf ... Read more »

«Godfather of British Blues»: John Mayall wird 90

John Mayall hat Musikgeschichte geschrieben. Man nennt ihn den «Godfather of British Blues». Seit den 1960er Jahren hat John Mayall den Blues geprägt wie nur wenige andere britische Musiker. In ... Read more »

Bund und Bahn: Einigung auf günstigeres Deutschlandticket für Studenten

Mit dem vergünstigten Deutschlandticket will Bundesverkehrsminister Wissing eine junge Kundengruppe dauerhaft an den ÖPNV binden. Bei der Fahrkarte für den Nah- und Regionalverkehr vereinbaren Bund und Länder eine Lösung für ... Read more »

Die Ukraine soll der Nato beitreten - nach dem Krieg

Die Ukraine soll nach dem Krieg Nato-Mitglied werden. Die Ukraine wird – Reformen vorausgesetzt – nach dem Krieg Mitglied der Nato werden. Das hat der Generalsekretär des Militärbündnisses, Jens Stoltenberg, ... Read more »

Präsidentin droht Anklage wegen Tod von Demonstranten

Lima. In Peru wurde eine staatsrechtlichen Beschwerde gegen Präsidentin Dina Boluarte eingeleitet. Sie wird für den Tod von mehreren regierungskritischen Demonstranten verantwortlich gemacht. Was der Politikerin jetzt droht. Perus Präsidentin ... Read more »

Novartis will nach Sandoz-Abspaltung stärker wachsen

ARCHIV: Das Logo des Schweizer Arzneimittelherstellers Novartis im Werk des Unternehmens in der Nordschweizer Stadt Stein, Schweiz, 23. Oktober 2017. REUTERS/Arnd Wiegmann Zürich (Reuters) – Der Schweizer Pharmakonzern Novartis will ... Read more »
Top List in the World