Hohe Staatsschulden in EU: Das schwelende Krisenrisiko

hohe staatsschulden in eu: das schwelende krisenrisiko

Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire (links) mit seinem italienischen Kollegen Giancarlo Giorgetti Ende Februar

Die Aufregung über die schlechten Nachrichten aus Paris und Rom hielt sich dieser Tage in Grenzen. Dabei entwickeln sich die Staatsfinanzen in den beiden nach Deutschland größten Volkswirtschaften des Euroraums in eine unerfreuliche Richtung. Die Neuverschuldung fällt höher aus als geplant, obwohl die Wirtschaft anders als in Deutschland wächst. In Italien lag das Staatsdefizit 2023 mit 7,2 Prozent der Wirtschaftsleistung deutlich über den von der Regierung geplanten 5,3 Prozent, Ökonomen rechnen mit einer weiteren Revision nach oben.

In Frankreich war die Diskrepanz (5,5 statt geplanter 4,9 Prozent im vergangenen Jahr) nicht so hoch, die Regierung musste aber kürzlich einräumen, dass sie ihre Defizitziele auch für dieses und die folgenden Jahre verfehlen wird (siehe Grafik). Vom Maastrichter Referenzwert von 3 Prozent sind beide Länder erheblich entfernt. Vieles spricht insofern dafür, dass die beiden schon jetzt hoch verschuldeten Staaten ihre Staatsschuld nicht etwa – wie durch die Reform des EU-Stabilitätspakts angestrebt – drücken können, sondern dass die Schulden noch steigen.

Die Ursachen der Defizitkorrekturen unterschieden sich zwischen Frankreich und Italien, sagt Friedrich Heinemann vom Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). „Die italienische Regierung hat vor allem erhebliche handwerkliche Fehler im Umgang mit dem Superbonus gemacht, dessen Kosten sie jetzt nicht mehr in den Griff bekommt.“ Mit dem Superbonus hat die italienische Regierung ihren Bürgern Investitionen etwa in klimafreundliche Heizungen vollständig erstattet. „In Frankreich ist das Problem grundsätzlicher. Die politische Klasse will den Umfang der Staatsausgaben ausschließlich selbst definieren und sich dabei weder durch Regeln noch durch die Finanzmärkte einschränken lassen.“

Die Ratingagenturen halten sich noch zurück

Letztere sind bislang indes nicht beunruhigt. Die Zinsaufschläge auf italienische oder französische Staatsanleihen bleiben niedrig, und die Ratingagenturen haben ihre Bewertungen in letzter Zeit nicht angepasst. Das müsse sich aber schnell ändern, fordert der Chefökonom der LBBW, Moritz Kraemer, in einem Standpunkt für die F.A.Z. Die Agenturen müssten aufwachen. Wenn die Regierungen in Paris und Rom nicht signalisiert bekämen, dass sie ihre Haushaltspolitik ändern müssten, drohe eine Wiederholung der Eurokrise, womöglich noch in diesem Jahrzehnt, urteilt Kraemer. Er ist nicht irgendwer. Früher, auch in der Eurokrise, war er in der Ratingagentur Standard & Poor’s zuständig für das Staatenrating. Den Agenturen wurde in jener Krise wiederholt vorgeworfen, sie hätten das Kreditausfallrisiko vor allem in Griechenland viel zu lange unterschätzt.

Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer hält das Verhalten der Ratingagenturen freilich für nachvollziehbar. Diese vertrauten darauf, dass ein gefährdeter Eurostaat über eine weitreichende Gemeinschaftshaftung abgesichert sei. „Die heutige Lage unterscheidet sich in einem Punkt grundlegend. Damals war die No-Bailout-Klausel der Europäischen Verträge noch nicht ausgehebelt, heute gibt es dagegen eine weitreichende Vergemeinschaftung von Schulden. Dazu gehören die verschiedenen EZB-Kaufprogramme für Staatsanleihen, der Krisenfonds ESM und der Corona-Wiederaufbaufonds. Weil es all diese Programme gibt, sind die Finanzmärkte bisher wenig beunruhigt.“

Ähnlich sieht es ZEW-Ökonom Heinemann. „Die Investoren glauben, dass die EZB ausfallgefährdete Staatsanleihen aufkauft, wie sie das schon in der Eurokrise getan hat. Vielleicht nehmen die Ratingagenturen auch politische Rücksichten.“ Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), erinnert daran, dass auch die Banken, die Staatsanleihen halten, etwa durch die EU-Bankenabwicklung besser abgesichert seien als in der Eurokrise.

„Die Kommission hat sich mit Blick auf die Fiskalregeln noch nie als Hüterin der Verträge verstanden“

Für Heinemann sind die hohen Staatsschulden in der Eurozone – sie lagen 2023 im Euroraum-Durchschnitt bei rund 90 Prozent der Wirtschaftsleistung, in Italien bei rund 140 und in Frankreich bei rund 110 Prozent – dennoch ein wachsender Risikofaktor. „Das gilt umso mehr, weil mit den zuletzt gestiegenen Zinsen auch die Finanzierungskosten gestiegen sind.“ Zudem spreche wenig für eine Trendwende. „Schuldentragfähigkeit ist ja ein mittelfristiges Konzept, das stark mit der demographischen Entwicklung zusammenhängt. Letztere ist in Italien besonders schwierig, sie wird dazu führen, dass dort das Wachstumspotential kaum noch über null steigen wird. In Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron immerhin eine Rentenreform durchgesetzt, die Respekt verdient.“

Wird die Reform der EU-Schuldenregeln, die in der kommenden Woche die allerletzte Hürde im EU-Parlament nehmen muss, ihr Ziel erreichen, zum Schuldenabbau beizutragen? Das glaubt keiner der befragten Ökonomen. Dafür sei das Eigeninteresse der EU-Kommission, die mit dem neuen Regelwerk zusätzliche Kompetenzen erhält, zu groß. „Die Kommission hat sich mit Blick auf die Fiskalregeln noch nie als Hüterin der Verträge verstanden und hat jetzt ein Interesse, mit den betroffenen Mitgliedstaaten politisch verträgliche Abkommen für die Schuldenreduktion auszuhandeln. Solche Abkommen dürften nicht zu Schuldenabbau führen“, sagt Krämer. Die mittel- bis langfristigen Zielwerte, die künftig mit den Mitgliedstaaten vereinbart werden sollen, seien dazu nicht geeignet, ergänzt Heinemann. „Langfristige Fiskalprognosen haben keinerlei Informationswert.“

Neue EU-Schulden? „Früher oder später liegen sie wieder auf dem Tisch“

Die EU-Kommission habe ohnehin andere Interessen, meint ein EU-Diplomat. Die wiederholten Forderungen des zuständigen Kommissars Paolo Gentiloni belegten, dass die Brüsseler Behörde unverändert versuche, neue gemeinsame EU-Schulden einzuführen. Die Form solcher Schulden – die Neuauflage des Corona-Aufbaufonds oder eine Art Verteidigungsbonds – sei letztlich zweitrangig. Auf dem an diesem Mittwoch beginnenden EU-Gipfel in Brüssel dürften neue EU-Schulden noch kein ernsthaftes Thema sein. „Aber früher oder später liegen sie wieder auf dem Tisch.“

Das glaubt auch Commerzbank-Ökonom Krämer. „Anlass wird die nächste Krise sein, sei es eine tiefe Rezession oder – vielleicht schon vorher – eine drohende Niederlage der Ukraine im Krieg gegen Russland.“ Am Ende habe auch die Bundesregierung, die die Kommissionsforderung derzeit noch zurückweist, an Gemeinschaftsschulden Interesse. „EU-Schulden in Kombination mit nicht rückzahlbaren Zuschüssen der EU erleichtern es, die deutsche Schuldenbremse zu umgehen.“ Hinzu komme, so Heinemann, dass die EU-Schulden in keiner nationalen Schuldenbilanz auftauchen.

Kurzfristig gibt es nach Aussage des Mannheimer Ökonomen zwei Instrumente, die kurzfristig eine Schuldenkrise vermeiden helfen. „Das eine ist Inflation. In den Jahren 2022 bis 2024 dürften die Investoren um kumuliert etwa 7 bis 8 Prozent enteignet werden. Für die Schuldenstaaten ist das eine beträchtliche Entlastung.“ Das andere seien neue Gemeinschaftsschulden. Dieses „Schulden-Engineering“ löse das Problem nicht auf Dauer, könne es aber in die Zukunft verschieben. Die noch exzellente deutsche Bonität lasse sich für die ganze EU eine Weile nutzen, indem deren gesamtschuldnerische Haftung der EU ausgebaut werde. „Dass vor allem Italien und Frankreich immer wieder neue Gemeinschaftsschulden fordern, lässt sich darauf zurückführen. Auch wenn diese Länder vor allem die neuen Herausforderungen für die EU, von Investitionen in den Green Deal bis zum russischen Überfall auf die Ukraine, ins Feld führen, geht es ihnen vor allem darum, eigene Schulden auf die EU zu übertragen.“

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