Hitler-Vergleiche und Schmähungen – Steinmeiers Härtetest in Ankara

Bundespräsident Steinmeier besucht zum ersten Mal in seiner Amtszeit die Türkei, trifft dort auch auf Präsident Erdogan. Die Vorzeichen für das Zusammentreffen mit dem Hamas-Unterstützer könnten kaum schlechter sein – doch der Westen braucht Erdogan in mehreren kritischen Bereichen.

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Protestierende stören Steinmeiers Besuch in Istanbul und halten Schmähplakate in die Höhe REUTERS

Wie sollte das deutsche Staatsoberhaupt einem Gesprächspartner gegenübertreten, der die Terrororganisation Hamas als „Freiheitskämpfer“ bezeichnet und wenige Tage zuvor noch den Auslandschef der Hamas, Ismail Haniyya, empfangen hat? Wie diskutiert man mit jemandem, der Israel des Völkermordes bezichtigt, Netanjahu mit Hitler vergleicht und immer wieder Antisemitismus befeuert?

Selbst für einen Staatsmann mit jahrzehntelanger außenpolitischer Erfahrung sind diese Fragen nicht einfach zu beantworten. Für Frank-Walter Steinmeier dürfte der Besuch beim türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan zu einem der heikelsten Termine seiner Amtszeit gehören.

In der Welt der Diplomatie ist nicht nur von Bedeutung, wen man wo trifft, sondern auch wann. Deshalb ist das Timing von Steinmeiers Reise in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum ersten Mal überhaupt seit seinem Amtsantritt vor sieben Jahren besucht der Bundespräsident die Türkei. Und sein erster Termin führt ihn nicht, wie allgemein üblich, in die Hauptstadt Ankara, sondern nach Istanbul. Dort trifft der Bundespräsident den Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der Oppositionspartei CHP, die Präsident Erdogan bei den Kommunalwahlen kürzlich eine schmerzhafte Niederlage zugefügt hat.

Für das Treffen wurde der historische Istanbuler Bahnhof Sirekci ausgewählt. Von hier aus brachen Tausende türkische Auswanderer in Richtung Deutschland auf. Ihre Geschichte will Steinmeier nachzeichnen und ihren Beitrag zum deutschen Wirtschaftswunder würdigen.

Doch der Rundgang durch den symbolträchtigen Bahnhof wird von propalästinensischen Demonstranten gestört, die plötzlich an einem gegenüberliegenden Gleis auftauchen. Etwa 50 Menschen brüllen auf Türkisch Parolen wie „Mörder Deutschland“ und „Genozidunterstützer“. Steinmeiers Foto haben sie auf Plakate gedruckt – in einer Reihe mit Benjamin Netanjahu und Adolf Hitler.

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Pro-palästinensische Demonstranten REUTERS

Deutschlands Solidarität mit Israel stößt in Teilen der türkischen Gesellschaft auf Ablehnung. Auffällig ist, dass die Demonstranten trotz der großen Polizeipräsenz überhaupt in die Nähe des deutschen Staatsoberhauptes kommen. Und es überrascht, wie viel Zeit sich die Sicherheitskräfte lassen, um den Protest aufzulösen. In der Türkei ist man ein wesentlich schnelleres Durchgreifen gewohnt. Mancher in der deutschen Delegation will da nicht an Zufall glauben. Vielleicht habe ja Erdogan ein Empfangskomitee der ganz besonderen Art geschickt, heißt es hinter vorgehaltener Hand.

Die Unterstützung der Hamas durch Erdogan ist offenbar nicht nur symbolischer Natur. Israelische Geheimdienste werfen seiner Regierung vor, die finanzielle Infrastruktur der Terrororganisation in der Türkei zu billigen. „Die Hamas unterhält in der Türkei ein weit verzweigtes und sehr bedeutendes Geschäftsnetz. Die Türkei ist das Finanzzentrum der Hamas. Das Hauptfinanzbüro der Organisation befindet sich in Istanbul und ist für das Finanzgebaren der Hamas verantwortlich, auch in Zusammenarbeit mit dem Iran“, sagt der frühere israelische Geheimdienstoffizier Uzi Shaya WELT.

„Die Türkei fungiert mithilfe von Wechselstuben als wichtiges Transitland für den Austausch von Hamas-Geldern aus dem Iran ins Westjordanland und Gaza. Außerdem besitzen die Hamas und ihre Führer legale Unternehmen, die auf dem türkischen Aktienmarkt tätig sind, unter anderem in den Bereichen Immobilien, Hotels und Tourismus“, so Shaya. Der Gesamtwert dieser so genannten „Hamas-Unternehmen“ in der Türkei belaufe sich auf mehrere hundert Millionen Dollar.

Es wird interessant, ob der Bundespräsident das Thema Terrorfinanzierung bei Erdogan zumindest unter vier Augen ansprechen wird. Öffentlich Kritik am türkischen Präsidenten zu üben, ist ein heikles Unterfangen. Denn es gibt realpolitische Zwänge. Deutschland braucht Erdogan für einen neuen Flüchtlings-Deal, als Partner in der Nato und möglicherweise als Vermittler im Ukraine-Krieg.

Westen kann nicht auf Erdogan verzichten

Obwohl Erdogan seine Verbundenheit mit Kiew erklärt hat, pflegt er weiterhin einen engen Draht nach Moskau und hat geholfen, ein Abkommen auszuhandeln, das es der Ukraine zwischenzeitlich ermöglicht hat, auf dem Seeweg Getreide zu exportieren. Erdogan beherrscht es meisterhaft, Abhängigkeiten zu schaffen und sich dann als geopolitischen Player zu inszenieren.

Der Machiavelli vom Bosporus könnte als Nächstes versuchen, sich zum Vermittler in den Verhandlungen über die Freilassung der israelischen Geiseln aufzuschwingen. Denn dem Vernehmen nach gerät Katar, das diese Rolle bisher ausgefüllt hat, immer mehr an seine Grenzen. Die Verhandlungen sind massiv ins Stocken geraten. Erdogan mit seinen guten Kontakten zur Hamas-Führung könnte diese Lücke füllen.

Kurzum: Der Westen kann es sich nicht leisten, auf Erdogan zu verzichten. Auch deshalb kommt es auf jedes Wort an, das der Bundespräsident an diesem Mittwoch im Präsidentenpalast von Ankara wählt. Das gilt für das Gespräch hinter verschlossenen Türen und noch viel mehr für die anschließende gemeinsame Pressekonferenz. Der Bundespräsident steht auf der weltpolitischen Bühne vor einem Härtetest. Gelingt es ihm, trotz aller Abhängigkeiten von Erdogan in dessen Gegenwart den Hamas-Terror klar zu verurteilen?

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