Hendrik Wüst im Gespräch

hendrik wüst im gespräch

„Taktische Finesse gehört in der Politik gelegentlich dazu“: Hendrik Wüst im Garten der Düsseldorfer Staatskanzlei

Herr Ministerpräsident, wo ziehen Sie in der Politik die Grenze zwischen Taktik und Opportunismus?

In der Politik gehört taktische Finesse gelegentlich dazu. Aber Opportunismus ist nicht angezeigt. Den Menschen aufs Maul zu schauen ist klug – ihnen nach dem Mund zu reden, nicht, sagte Franz Josef Strauß.

hendrik wüst im gespräch

„Mit welchen Personen erreichen wir möglichst viele Wähler?“, fragt Wüst. Ob er CDU-Chef Merz meint, hier bei einer Parteiversammlung in Hannover?

Wir fragen das, weil Sie im vergangenen Jahr innerparteilich vor Populismus warnten, was als Positionierung gegen Parteichef Merz und seine Asylrhetorik wahrgenommen wurde. Jetzt zählen Sie zu den schärfsten Befürwortern einer Asylwende. Das kommt manchen als erstaunliche Wandlung vor.

Ich mache schon so lange Politik, dass ich es gewohnt bin, mal so und mal so beschrieben zu werden. Das ist mir ehrlich gesagt total egal. Meine Position in der Asylpolitik war jedenfalls immer dieselbe. Steuerung und Begrenzung der irregulären Migration, damit wir denen gerecht werden können, die wirklich unseren Schutz brauchen. Und den Widerspruch, den Sie in Ihre Frage gepackt haben, sehe ich gar nicht. Ich kann in einer so aufgewühlten gesellschaftlichen Situation für Verbindlichkeit in der Sache und in der Sprache werben – und trotzdem die Dinge klar beim Namen nennen. Das geht auch bei einem so schwierigen Thema wie der Asylpolitik.

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11.04.2024, Berlin: Björn Höcke (AfD, l) und Mario Voigt (CDU, r), Spitzenkandidaten für die Landtagswahl in Thüringen, stehen beim TV-Duell bei Welt TV. Foto: Michael Kappeler/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Sie haben sich für eine massive Senkung der Zuwanderungszahlen ausgesprochen.

Das tue ich nach wie vor.

War die Flüchtlingspolitik Ihrer Partei unter Angela Merkel ein Fehler?

Der humanitäre Impuls, in dem Moment, als die Menschen über Ungarn und Österreich zu uns kamen, diese nicht mit Gewalt zurückzuschieben, war richtig. Heute wissen wir aber auch, man hätte viel, viel zügiger an Lösungen wie dem EU-Türkei-Abkommen, die ja später eine Entlastung gebracht haben, arbeiten müssen. Das ist heute unbestritten.

Da sind Sie auf der Linie von Wolfgang Schäuble, der Merkel in seinen Memoiren vorgehalten hat, den Leuten keinen reinen Wein eingeschenkt zu haben und keine klaren Konsequenzen gezogen zu haben.

Ich weiß gar nicht, ob man ihr das vorhalten muss oder ob sie das in der Rückschau nicht selber so sieht. Was ich weiß, ist, dass wir uns heute mit jedem Asylsuchenden, der nicht schutzberechtigt ist und dennoch zu uns kommt, noch weiter von unserem Anspruch gegenüber den wirklich Hilfsbedürftigen entfernen. Wir haben die Aufgabe, das Aufstiegsversprechen der Bundesrepublik immer wieder zu erneuern. Das gelingt gerade für Zuwanderer nur, wenn die Menschen früh Deutsch lernen und sich früh integrieren können. Aber wir müssen als Staat auch dazu in der Lage zu sein, die notwendigen Integrationsangebote zu schaffen.

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ARCHIV – 29.10.2015, Bayern, Wegscheid: Flüchtlinge warten nahe Wegscheid an der deutsch-österreichischen Grenze. (zu dpa „Diese alten CDU-Zöpfe hat Merkel abgeschnitten“ vom 05.12.2018) Foto: Sebastian Kahnert/ZB/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Friedrich Merz ist es gelungen, der CDU innerhalb von zwei Jahren einen neuen Kurs zu verordnen, ohne dass es größere Probleme gegeben hat. Auch in den Umfragen steht die Partei ganz ordentlich da. Gibt es überhaupt noch einen Zweifel, dass Merz Kanzlerkandidat wird?

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Portrait Hendrick Wüst, Ministerpräsindent Nordrhein-Westfalen, am 10.04.2024 an der Staatskanzlei in Düsseldorf.

Friedrich Merz macht eine exzellente Arbeit als Oppositionsführer im Deutschen Bundestag. Er ist ein pointierter Angreifer. Bei wesentlichen Fragen ist er zur konstruktiven Mitarbeit mit der Ampel bereit, siehe Sondervermögen Bundeswehr, siehe den Versuch auch mit Olaf Scholz beim Thema Migration in den Gesprächen im Kanzleramt. Er hat einen Riesenverdienst als Parteivorsitzender daran, dass die Unionsparteien wieder einen guten Umgang miteinander haben, und er hat den Prozess des Grundsatzprogramms in hervorragender Weise so weit getrieben, dass wir jetzt eine gute Diskussionsgrundlage für den Parteitag haben. Unsere Freunde in den ostdeutschen Ländern wollen, dass die Wahlkämpfe im Herbst über Landespolitik ausgefochten werden – und die Kanzlerkandidaten-Frage später entschieden wird. Friedrich Merz hat dem zugestimmt. Auch ich werde mich an diesen Fahrplan halten und ihn nicht durch öffentliche Äußerungen konterkarieren.

Mit anderen Worten: Es gibt noch Zweifel an einem Kanzlerkandidaten Merz.

Das habe ich ausdrücklich nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass der Zeitplan eingehalten wird.

Haben Sie denn vor, sich für ihn starkzumachen?

Ich werde mich selbstverständlich für jeden Kanzlerkandidaten der Union starkmachen. Die CDU ist eine loyale Partei, das schätze ich sehr, und davon profitiere ich selbst.

Demoskopen sagen, dass die Union unter Ihnen noch erfolgreicher sein könnte als unter Merz.

Man sollte diese ganzen Umfragen nicht überbewerten. Wenn ich einen Beitrag leisten kann, dass die CDU Deutschlands erfolgreich ist, werde ich ihn leisten.

Wie dürfen wir das verstehen?

So, dass der Vorsitzende des mitgliederstärksten Landesverbandes auf verschiedene Weise helfen kann. Die CDU ist dann erfolgreich als Volkspartei, wenn wir als Team und breit aufgestellt sind. Dass wir uns natürlich als CDU vor einer Wahl auch immer die Frage stellen: Mit welchen Inhalten und welchen Personen erreichen wir möglichst viele Wählerinnen und Wähler, ist ja selbstredend. Das tut in einer Demokratie jede Partei.

Sie regieren in Düsseldorf mit den Grünen zusammen. Finden Sie deren Wokeismus grundsätzlich sympathisch, befremdlich oder eher gefährlich?

Ich finde ihn ganz überwiegend entbehrlich.

Heißt das, dass Sie ein bisschen neidisch sind auf die CDU in Hessen, die nun, da sie nicht mehr mit den Grünen regieren muss, das Gendern verbieten kann?

Das Gendern spielt bei uns in Nordrhein-Westfalen keine große Rolle. Die beste Antwort auf kulturkämpferische Ansätze ist nicht Kulturkampf, sondern Gelassenheit. Und Sie sehen mich in dieser Frage sehr gelassen, weil ich weiß, dass viele der damit verbundenen Dinge bei den Menschen im Alltag überhaupt keine Rolle spielen.

Sie bezeichnen sich manchmal als „Brückenbauer“. Warum nennen Sie dann die AfD, hinter der 20 Prozent der Deutschen stehen, eine „Nazi-Partei“?

Längst nicht alle Wählerinnen und Wähler der AfD sind Nazis – natürlich nicht! Aber wer wie Herr Höcke offensichtlich denkt wie ein Nazi und redet wie ein Nazi, den muss man auch so bezeichnen. Übrigens auch, um manchem Wähler, der aus Frust über die Ampel oder wem auch immer darüber nachdenkt, sein Kreuz bei der AfD zu machen, das Signal zu geben: Vorsicht, verschenk nicht deine Stimme. Ich kämpfe um jeden, der für die Demokratie zurückzugewinnen ist. Ich erinnere daran, dass es uns in Nordrhein-Westfalen gelungen ist, bei der jüngsten Wahl die AfD sogar fast unter die Fünfprozenthürde zu bringen. Gute Politik in der Sache wirkt auch hier.

Aber ist diese Strategie, die AfD in die Nazi-Ecke zu stellen, nicht gescheitert? Die Partei ist stärker denn je, sie ist radikaler denn je. Muss man nicht einen anderen Weg finden, mit ihr umzugehen?

Ich teile Ihren Befund so nicht. Die Strategie war lange dadurch geprägt, dass man versucht hat, die AfD totzuschweigen. Die Dinge klar beim Namen zu nennen und die AfD – wie der Thüringer CDU-Chef Mario Voigt – auch im Duell argumentativ zu stellen ist aber richtig. Um jede Form von Extremismus kleinzuhalten, muss die politische Mitte in der Lage sein, ganz offensichtliche Herausforderungen zu benennen, sie anzugehen. Die jüngste Wahl in den Niederlanden hat das klar vor Augen geführt: Wenn die Mitte Probleme nicht gelöst bekommt und eine Regierung am Thema Migration sogar scheitert, macht das nur die Ränder stark.

In den europäischen Nachbarländern werden rechtspopulistische Parteien oft in Regierungen eingebunden. Viele Parteien haben sich so normalisiert und ihrer radikalen Mitglieder entledigt. Was spricht dagegen, so auch mit der AfD zu verfahren?

Wir reden doch längst nicht mehr über eine euroskeptische Professoren-Partei von vor über einem Jahrzehnt. Die AfD steht heute sogar in ganz Europa am äußersten rechtsextremen Rand der Parteienlandschaft. Eine Zusammenarbeit mit Nazis ist kategorisch ausgeschlossen – daran kann es keinen Zweifel geben.

In der Asylpolitik sprechen Sie sich mittlerweile vehement für die Drittstaatenregelung nach dem Ruanda-Modell oder dem Albanien-Modell aus. Haben Sie ein Land im Auge, das für Deutschland in Betracht kommen könnte?

Eine Vielzahl von Ländern käme in Betracht. Das Problem ist, dass die Ampel offenbar selbst nicht weiß, was sie will. Die Bundesregierung muss in einem ersten Schritt klären, mit welchen Ländern Abkommen Sinn machen. Dann müsste festgelegt werden, was man einem potentiellen Partnerland im Gegenzug für die Abnahme von Flüchtlingen anbietet. Das könnte beispielsweise ein Ausbildungssystem nach europäischen Standards sein, um dann Fachkräften einen legalen Zugang nach Europa zu ermöglichen. Das Gesamtpaket muss für ein Partnerland attraktiv sein. Ich kann nicht erkennen, dass die Ampelregierung an solchen Fragen überhaupt arbeitet. Dabei haben wir das bei der Ministerpräsidentenkonferenz im November mit dem Kanzler verabredet. Monate später erst sind Experten eingeladen worden, die jetzt im Sommer erst mal Empfehlungen abgeben sollen. Das ist ein desolates Tempo für eine so wichtige Frage.

Warum ist so wenig Bewegung in dem Thema?

Das Verzögern der Ampel hat rein innenpolitische Gründe. Ich halte das für grob fahrlässig, weil das weltweite Flucht- und Migrationsgeschehen auch in diesem Jahr wieder dazu führen wird, dass viele Menschen kommen. Ich werde nicht aufhören, all jene zu fragen, die da in der Ampelregierung verzögern und verschleppen: Was ist Ihre Antwort auf das Sterben im Mittelmeer? Denn das Ziel muss doch sein, dass sich diese vielen Menschen nicht mehr in die Hände von kriminellen Schleppern begeben und wir geregelte Verfahren außerhalb der EU bekommen. Ich empfinde die bisherige Politik in Teilen als zynisch, weil die Flüchtlinge erst in den Blick genommen werden, wenn sie hier sind, und die, die es nicht schaffen oder im Mittelmeer ertrinken – Frauen, Kinder, Babys –, einfach ausgeblendet werden. Wer aus der Warte vermeintlich höherer Moral Drittstaatenlösungen rundweg ablehnt, muss sich die Frage gefallen lassen: Was ist denn Ihre Antwort auf das Sterben im Mittelmeer?

Wann erwarten Sie ein Ergebnis?

Es ist verabredet, dass die Bundesregierung am 20. Juni Ergebnisse der Prüfung vorlegt. Ich erwarte, dass die Bundesregierung dann klar sagt, ob sie eine Drittstaatenlösung will und wie das im Detail aussehen könnte, auch rechtlich. Ich habe den Hochkommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen getroffen, der Drittstaatenlösungen natürlich für möglich hält und auch bereit ist, zu helfen. Alle, die das internationale Fluchtgeschehen kennen, halten das für möglich. Es kommt auf den politischen Willen an.

Sie brechen gerade zu einer USA-Reise auf – an die Westküste, nicht nach Washington. Wollen Sie kein transatlantisches Zeichen setzen?

Der freie Westen, seine Werte und unser Handeln im Rahmen einer regelbasierten Ordnung sind enorm herausgefordert. Die Despoten und Diktatoren werden stärker, offensiver, disruptiver – und vernetzen sich. Wir müssen alles daransetzen, weiter mit den Amerikanern im Schulterschluss zu handeln. Aus unserem ureigenen Interesse müssen wir Europäer und vor allen Dingen auch wir Deutschen für unsere Sicherheit im Bündnis mit den Vereinigten Staaten einen stärkeren Beitrag leisten. Die Reise, die ich jetzt mache, hat insbesondere den Zweck, wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Bindungen zu vertiefen. Es geht mir darum, die an der Westküste starken Spieler in Sachen Künstliche Intelligenz mit unseren KI-Fachleuten zu vernetzen. Gleichzeitig startet sozusagen die praktische Umsetzung der Zeitenwende. Denn in diesen Tagen werden die Mitarbeiter von Rheinmetall aus Nordrhein-Westfalen in Amerika mit ihrer Einarbeitung beginnen, um dann später, hier am Niederrhein, für das Kampfflugzeug F-35 wesentliche Teile zu fertigen.

In welchem Ausmaß muss Deutschland aufrüsten. Reichen zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts?

Ich wäre schon froh, wenn wir nach dem offenkundig schon voll verplanten Sondervermögen dauerhaft die zwei Prozent halten können. Aber es sind auch sicherheitspolitische Konstellationen denkbar, die einen größeren Verteidigungsbeitrag erfordern. Dafür braucht man Antworten.

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