Hanks Welt: Warum Kinderarmut nie verschwinden wird

hanks welt: warum kinderarmut nie verschwinden wird

Vor einer Kita in München: Ein Mann mit Kind auf dem Arm wirft einen Schatten auf eine Wand.

Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen. So hören wir es, wenn der Streit über die Kindergrundsicherung wieder einmal hochkocht. Der Ampelstreit dreht sich darum, ob eine neue Kasse mit neuen Sozialleistungen und 5000 neuen Beamten die Armut der Kinder lindern kann oder nicht. Die Voraussetzung indes – 20 Prozent unserer Kinder sind arm – wird von keiner Seite bestritten.

Mehr oder weniger unbestritten ist auch die Übereinkunft, dass die Armutsquote der Bevölkerung seit Langem bei 15 Prozent verharrt. Schwammig ist allenfalls der Begriff der Armut: Die einen sagen „armutsgefährdet“, die anderen sagen „von Armut betroffen“, viele sagen der Einfachheit halber „arm“. Dabei ist es auch umgangssprachlich und nicht erst definitorisch ein Unterschied, ob ich lediglich armutsgefährdet oder wirklich arm bin.

Wie kommt es, dass wir insgesamt immer reicher werden, noch dazu die Beschäftigungsquote so hoch ist wie seit Langem nicht – aber die Armen nicht weniger werden? Mehr noch: Auch die Sozialstaatsquote ist seit Jahren gestiegen. Die misst das Verhältnis staatlicher Sozialleistungen zum nominalen Bruttoinlandsprodukt und lag 2022 bei gut 30 Prozent. 1960 waren es 18 Prozent; 1991 dann schon 25 Prozent.

Der Sozialstaat lindert die Armut nicht

Das scheint mir ein Beleg dafür zu sein, dass es uns nicht nur immer besser geht, sondern dass das Land auch immer „sozialer“ wird (sofern sich das mit Geld quantifizieren lässt). Doch zur allgemeinen Verwunderung lindert ein großzügigerer Sozialstaat leider die Armut nicht.

Die gängige Antwort auf meine Frage lautet: Es liegt an der Armutsdefinition. Arm (oder armutsgefährdet) ist hierzulande, wer in einem Haushalt lebt, der über weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verfügt. Wenn also alle Deutschen (auch die Armen) gleichzeitig und gleichmäßig um 5 Prozent reicher werden, schrumpft die Gruppe der Armen trotzdem nicht. Werden lediglich die Reichen reicher, dann nimmt qua Definition die Armut sogar zu, obwohl das Einkommen der Armen nicht weniger wird.

Gemäß einer alternativen Definition der Armut ist arm, wer Hartz-IV-Leistungen (heute „Bürgergeld“) be­zieht. Werden diese Leistungen real erhöht, sind die Armen reicher geworden, bleiben aber so lange arm, wie sie Bürgergeld beziehen, selbst wenn dieses verdoppelt würde. Vergrößert der Staat den Kreis der Anspruchsberechtigten, so erhöht sich qua Definition die Zahl der Armen ebenfalls – und zwar paradoxerweise als Folge eines großzügigeren Wohlfahrtsstaates.

Menschen vermeiden die Lösung sozialer Probleme

Man kann diese Definitionen relativer Armut skandalisieren. Das finde ich wenig originell, zumal niemand ernsthaft behauptet, ein Obdachloser in einer Frankfurter U-Bahn-Unterführung sei materiell genauso übel dran wie ein Hungernder in Zentralafrika. Interessanter finde ich die Frage, wie es kommt, dass wir die Armut so definieren, dass der Anteil der Armen stabil bleibt, völlig unbeschadet materieller Verbesserungen für alle.

Das könnte etwas mit Psychologie zu tun haben und führt zu einem spannenden Experiment, das im Jahr 2018 in der Zeitschrift „Science“ für Aufsehen sorgte. Autoren sind die beiden Harvard-Forscher David Levari und Daniel Gilbert. Letzterer hat vor Jahren einen Bestseller über das menschliche Glück (und die Kunst, unglücklich zu werden) geschrieben. In dem „Science“-Aufsatz geht es darum, wie wir Menschen es vermeiden, soziale Pro­bleme zu lösen, und stattdessen merkwürdigerweise danach trachten, an ihnen festzuhalten.

Der Versuch geht so: Probanden wird ein Bild mit 1000 Punkten gezeigt, deren Farbe von tiefblau bis tiefviolett graduell sich verändert. Die Aufgabe ist es, die blauen Punkte zu zählen. Nach ungefähr 200 Wiederholungen reduzierten die Versuchsleiter die Zahl der blauen Punkte. Doch, oh Wunder, die Versuchspersonen finden immer gleich viele blaue Punkte.

Ein Prozess der nachträglichen „Moralisierung“

Daraus folgt: Wenn die Verbreitung der blauen Punkte vermindert wird, dehnen wir unsere Definition von Blau auf solche Punkte aus, die wir zuvor als violett nicht mitgezählt hätten. Das machen die Versuchspersonen selbst dann, wenn sie vom Versuchsleiter explizit darauf hingewiesen werden, dass es jetzt weniger blaue Punkte gibt. Die Übertragung auf die Sozialpolitik liegt nahe: Wenn es objektiv weniger Arme gibt, definieren wir Personen als arm, die wir zuvor nicht als arm angesehen hätten.

Der Versuch wird schrittweise komplexer: Das nächste Mal werden den Probanden 800 computergenerierte Porträtfotos gezeigt, die von „sehr bedrohlich“ bis „nicht bedrohlich“ dreinblicken. Und siehe da: Werden sehr bedrohliche Porträts entfernt, füllen wir die Lücke mit Gesichtern, die uns zuvor nicht erschreckt hätten.

Im nächsten Schritt sollen die Versuchspersonen entscheiden, ob wissenschaftliche Studien ethisch bedenklich sind. Abermals ergibt sich: Werden eindeutig unethische Studien (mit grausamen Tierversuchen zum Beispiel) von den Versuchsleitern aussortiert, sehen wir andere Versuche als moralisch problematisch an, an denen wir zuvor keinen Anstoß genommen haben.

Es findet ein Prozess der nachträglichen „Moralisierung“ bislang neutral bewerteter Handlungen statt. Das könnte der Grund sein, warum wir heute ein Verhalten moralisch stigmatisieren (Fleisch essen, Kuhmilch trinken), das wir so lange ethisch für unbedenklich hielten, solange wir uns mit basalen ethischen Fragen quälen mussten. Der Versuch könnte zudem erklären, warum trotz rückläufiger Diskriminierung (etwa von Frauen im Berufsleben) die verbleibende Diskriminierung umso stärker skandalisiert wird.

Meist kommt es besser als befürchtet

Den Hinweis auf den „Science“-Aufsatz verdanke ich einem Podcast des Hirnforschers Volker Busch, der eine tröstliche Botschaft hat: Meist kommt es besser als befürchtet. Busch fasst die psychologische Regel so zusammen: Je besser es uns geht, umso kritischer wird unser Blick auf die Dinge. Das wäre die neutrale und weniger skandalisierende Deutung unserer Ausgangsfrage, warum wir die Armen nicht loswerden, obwohl es uns allen doch nachweislich besser geht.

Je weniger „echte“ Armut vorkommt (weniger tiefblaue Punkte), desto mehr kümmern wir uns um relativ Arme, die wir früher nicht als arm angesehen hätten (violette Punkte). Man könnte auch sagen: Wir werden umso kritischer und pessimistischer, je besser es uns geht. Schon ein bisschen paradox, unvernünftig und unflexibel, oder?

Wenn das so ist, heißt das auch: In Deutschland wird dauerhaft jedes fünfte Kind arm bleiben. Da kann sich Frau Paus auf den Kopf stellen und Finanzmittel und die Zahl der Beamten verdoppeln oder verdreifachen. Übrigens: Die Theorie der blauen und violetten Punkte trägt in der Wissenschaft den schönen Namen „prävalenzinduzierte Konzeptveränderung“.

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