Habecks Furcht vor der Europawahl: Atomausstieg gelungen, Grüne im Absturz

Haben grüne Staatssekretäre ihren Ministern Bedenken der Fachleute verschwiegen? Die Affäre wird keine Rücktritte erzwingen, aber Habecks Umgang mit ihr zeigt seine Nervosität.

habecks furcht vor der europawahl: atomausstieg gelungen, grüne im absturz

Da hatte er noch gut lachen: Wirtschaftsminister Robert Habeck geht auf dem Weg zur Vorstellung der Ergebnisse des Stresstests zum Weiterbetrieb von Atomkraftwerken an Demonstranten vorbei.

Bemerkenswertes ist am Freitagmorgen in Berlin geschehen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck verschob die Pressekonferenz, bei der er die Erfolge der Grünen bei der Energiewende herausstreichen wollte.

Stattdessen musste er sich vor dem Klima- und Energieausschuss des Bundestags rechtfertigen. Der Vorwurf: Grüne Ideologen in seinem Ministerium hätten die Bedenken der Fachleute gegen einen zügigen Atomausstieg 2022 zurückgehalten. Dieses Ur-Anliegen der Grünen sollte nicht durch die Folgen des Ukrainekriegs für die Energieversorgung gefährdet werden.

Parallel musste Umweltministerin Steffi Lemke, auch sie eine Grüne, dem Umweltausschuss Rede und Antwort stehen wegen des gleichen Verdachts: Auch in ihrem Ministerium hätten Parteigänger Informationen zurückgehalten, damit es bei der Akw-Abschaltung bleibt. Das Magazin „Cicero“ hat per Klage die Herausgabe interner Unterlagen erzwungen, die diesen Vorwurf belegen sollen.

Verkehrte Welt für die Grünen

Die Bedeutung der Affäre liegt nicht darin, dass sie den grünen Ministern persönlich gefährlich werden könnte. Für Rücktrittsforderungen reicht ihre Dimension nicht. Sondern sie macht sichtbar, in welcher Not die Grünen sechs Wochen vor der Europawahl sind. Es gelingt ihnen nicht, mit ihren Erfolgen zu punkten. Sie finden sich wegen der Projekte, die sie durchgesetzt haben, auf der Anklagebank wieder. Eine verkehrte Welt aus Sicht ihrer Anhänger.

Habecks Erklärung, warum er der Defensive im Ausschuss den Vorzug vor der Wahlkampf-Offensive bei der Pressekonferenz gab, klingt charmant. Er zeigt Respekt vor dem Parlament, nimmt die Vorwürfe ernst, will zur Aufklärung beitragen.

Das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Er will das Feuer austreten, damit daraus kein Flächenbrand mitten im Wahlkampf wird. Die Grünen gehen mit Nervosität, ja: Furcht in diese Europawahl. Bei der letzten, 2019, waren sie beliebt und landeten mit 20,5 Prozent weit vor der SPD auf Platz zwei.

Nach den Umfragen werden sie der große Verlierer in diesem Juni sein – verbunden mit der bangen Frage, ob sie „nur“ ein Viertel ihrer Wähler verlieren oder ein Drittel oder ihren Rückhalt gar halbieren. Im nächsten Europäischen Parlament wird es wohl keine Chance mehr auf eine progressive Mehrheit geben. Das wird in Brüssel als markanteste machtpolitische Folge prognostiziert.

Auch für die Grünen hat sich der Ukrainekrieg als Zeitenwende erwiesen. Themen, die ihnen früher Zuspruch einbrachten, sind zur Belastung geworden: die ehrgeizigen Wenden in der Klima- und Energiepolitik, dazu ihre Gesellschaftspolitik, von Genderfragen bis zur Kindergrundsicherung.

Passen die Grünen ihre Vorstellungen schnell genug an die Anforderungen der neuen Zeit an? Haben sie die Verschiebung der Prioritäten im Wahlvolk zu Fragen der Sicherheit innerlich akzeptiert? Oder treiben sie ihre Lieblingsprojekte weiter voran, auch wenn sie nicht mehr so gut zur neuen Weltlage passen?

Die Grünen empfinden diese Dynamik als große Ungerechtigkeit. Aus ihrer Sicht hat die Ampel-Koalition die Folgen des Ukrainekriegs bisher gut abgefedert – nicht trotz grüner Vorstellungen, sondern weil die Grünen die Abwendung von fossilen Brennstoffen schon lange gefordert und manche Weichen entsprechend gestellt hatten.

In der Tat sollten sich alle noch einmal die Schreckensszenarien vergegenwärtigen, die 2022 in den Monaten nach dem russischen Angriff auf die Ukraine und der Abkehr von russischem Gas kursierten. Wird die Energie im nächsten Winter zum Heizen reichen, wird es Stromabschaltungen geben, wie viele Firmen gehen pleite, wie viele Menschen werden arbeitslos?

Zorn über das Heizungsgesetz

Politik, Wirtschaft und Gesellschaft haben diese Herausforderungen im Großen und Ganzen gemeistert. Die Folgen, die Bürgerinnen und Bürger am stärksten spüren, betreffen das Portemonnaie. Ihr Zorn aber richtet sich vor allem gegen die Grünen, weil ihnen der Verdacht anhängt, dass zumindest einigen von ihnen in der Großkrise die Ideologie wichtiger war als der Pragmatismus, zum Beispiel beim Heizungsgesetz. Deshalb ist selbst eine Mini-Affäre wie der Vorwurf zurückgehaltener Informationen in von Grünen geleiteten Ministerien plötzlich brisant.

Atomausstieg gelungen. Und die Grünen werden bestraft. So grausam, so nachtragend kann Politik manchmal sein.

News Related

OTHER NEWS

Ukraine-Update am Morgen - Verhandlungen mit Moskau wären „Kapitulationsmonolog" für Kiew

US-Präsident Joe Biden empfängt Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus. Evan Vucci/AP/dpa Die US-Regierung hält Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zum jetzigen Zeitpunkt für „sinnlos”. Bei einem Unwetter in Odessa ... Read more »

Deutschland im Wettbewerb: Subventionen schaden dem Standort

Bundeskanzler Olaf Scholz am 15. November 2023 im Bundestag Als Amerikas Präsident Donald Trump im Jahr 2017 mit Handelsschranken und Subventionen den Wirtschaftskrieg gegen China begann, schrien die Europäer auf ... Read more »

«Godfather of British Blues»: John Mayall wird 90

John Mayall hat Musikgeschichte geschrieben. Man nennt ihn den «Godfather of British Blues». Seit den 1960er Jahren hat John Mayall den Blues geprägt wie nur wenige andere britische Musiker. In ... Read more »

Bund und Bahn: Einigung auf günstigeres Deutschlandticket für Studenten

Mit dem vergünstigten Deutschlandticket will Bundesverkehrsminister Wissing eine junge Kundengruppe dauerhaft an den ÖPNV binden. Bei der Fahrkarte für den Nah- und Regionalverkehr vereinbaren Bund und Länder eine Lösung für ... Read more »

Die Ukraine soll der Nato beitreten - nach dem Krieg

Die Ukraine soll nach dem Krieg Nato-Mitglied werden. Die Ukraine wird – Reformen vorausgesetzt – nach dem Krieg Mitglied der Nato werden. Das hat der Generalsekretär des Militärbündnisses, Jens Stoltenberg, ... Read more »

Präsidentin droht Anklage wegen Tod von Demonstranten

Lima. In Peru wurde eine staatsrechtlichen Beschwerde gegen Präsidentin Dina Boluarte eingeleitet. Sie wird für den Tod von mehreren regierungskritischen Demonstranten verantwortlich gemacht. Was der Politikerin jetzt droht. Perus Präsidentin ... Read more »

Novartis will nach Sandoz-Abspaltung stärker wachsen

ARCHIV: Das Logo des Schweizer Arzneimittelherstellers Novartis im Werk des Unternehmens in der Nordschweizer Stadt Stein, Schweiz, 23. Oktober 2017. REUTERS/Arnd Wiegmann Zürich (Reuters) – Der Schweizer Pharmakonzern Novartis will ... Read more »
Top List in the World