Getir verlässt offenbar den deutschen Markt, das Geschäft der schnellen Lebensmittellieferdienste in Deutschland steht vor einem Umbruch. Branchenkennerin Eva Stüber erklärt, was sich ändert.
Getir: »Die schnelle Lieferung braucht es langfristig vielleicht gar nicht«
Der türkische Lebensmittelbringdienst Getir, der hierzulande erst 2022 den angeschlagenen Konkurrenten Gorillas übernommen hat, steht Medienberichten zufolge vor einem Rückzug aus Deutschland. Offiziell heißt es seitens des Unternehmens, man äußere sich »grundsätzlich nicht zu Marktgerüchten«. Handelsexpertin Eva Stüber erklärt die Tücken des Geschäfts mit den schnellen Lieferungen bis vor die Tür.
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SPIEGEL: Frau Stüber, Getir und Gorillas ziehen sich wohl aus Deutschland zurück. Was heißt das für den Markt für Lebensmittellieferdienste?
Stüber: Durch einen Rückzug sind es erst mal weniger Anbieter im Markt. Wir sehen aber auch, dass die Nachfrage noch deutlich größer ist als das Angebot. 2021 konnten überhaupt erst 21 Prozent der Menschen in Deutschland aus mehr als zwei Lieferdiensten für Lebensmittel auswählen. Und so werden aktuell weniger als drei Prozent der Lebensmittel online verkauft. Zugleich sind aber auch die Zeiten durch die Inflation herausfordernd, viele achten mehr auf Preise und gehen wieder stärker zum Discounter.
SPIEGEL: Unter den großen Schnelllieferdiensten für Lebensmittel könnte vor allem Flink übrig bleiben. Werden die Preise jetzt teurer und die Lieferzeiten länger?
Stüber: Das kommt darauf an, wie sich der Markt weiterentwickelt. Übernimmt Flink vielleicht einen Teil der Lager und Kapazitäten von Getir und Gorillas? Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Schnelllieferdienste nur ein kleiner Teil des Lebensmittelliefermarktes sind, der klassischerweise von Anbietern wie Rewe oder Picnic bedient wird, die vor allem Wocheneinkäufe nach Hause bringen.
SPIEGEL: Flink, Getir und Gorillas könnten sich in Europa zumindest die Märkte für die schnellen Lieferungen auch einfach aufteilen. Schließlich ist an den drei Firmen derselbe Investor beteiligt.
Stüber: Da ist noch viel Dynamik drin. Es ist nachvollziehbar, dass ein Investor nicht mit drei Marken den deutschen Markt bedienen will, denn das ist teuer. Lebensmittel online zu verkaufen, geht mit hohen Kosten einher. Es sind verderbliche Produkte in verschiedenen Kühlzonen und das bei geringen Margen.
SPIEGEL: Und viele Kunden schrecken noch davor zurück, Lebensmittel online zu bestellen.
Stüber: Die Schnelllieferdienste waren gerade während der Pandemie gefragt, weil so Kontakte vermieden werden konnten. Für viele Menschen waren sie ein Einstieg in die Onlinebestellung von Lebensmitteln. Es war aufregend, innerhalb von zehn Minuten beliefert zu werden. Aus Versorgungsgründen muss niemand darauf zurückgreifen, wir haben in Deutschland das weltweit stärkste stationäre Handelsnetz – gerade in den großen Städten, wo die Schnelllieferdienste unterwegs sind. Die Frage ist, welche Rolle Schnelllieferdienste in zehn Jahren überhaupt noch haben werden. Der Markt entwickelt sich schließlich weiter.
SPIEGEL: Sind die Angebote auf Dauer überlebensfähig?
Stüber: Das Besondere ist die minutenschnelle Lieferung. Es muss sich anders als bei anderen Lebensmittellieferdiensten nicht zwei Tage im Voraus überlegt werden, was man kaufen möchte. Das Marketingversprechen ist ein bisschen wie früher bei Zalando. Auch Mode galt damals als nicht tauglich für den Onlinehandel. Doch dann kam das Versprechen »Schrei vor Glück! Oder schicks zurück« und so hat Zalando Befürchtungen ausgeräumt, dass es bei Nichtgefallen oder nicht passenden Kleidern kompliziert wird. Kurz gesagt: Die schnelle Lieferung braucht es langfristig vielleicht gar nicht.
SPIEGEL: Aber wie können die versprochenen Lieferzeiten bei Lebensmitteln eingehalten werden?
Stüber: Durch viele Einzelfahrten. Im Übrigen sind sie auch in den vergangenen Jahren bereits länger geworden. Das liegt an fehlenden Kapazitäten, aber auch daran, dass gespart werden muss. Wenn jeder Haushalt binnen zehn Minuten nach der Bestellung beliefert wird, besteht keine Chance, Bestellungen zu bündeln. Diese hohen Kosten auf der letzten Meile sind eines der größten Probleme – auch bei anderen Onlinelebensmittellieferungen, denn mit den klassischen Logistikstrukturen wie dem Paketversand lassen sich Lebensmittel nur bedingt zustellen.
SPIEGEL: Worauf kommt es also an?
Stüber: Die Automatisierung von Prozessen ist ein Thema. Vor allem geht es aber darum, über wie viele Minuten Zustellzeit wir in Zukunft sprechen. Wann brauchen Kundinnen und Kunden überhaupt eine so schnelle Lieferung? Was ist in welchen Situationen angemessen? Um die letzte Meile günstiger zu gestalten, setzt Picnic beispielsweise auf feste Routen und Zeiten nach dem Milchmannprinzip. So können sie die Auslieferungen bündeln. Flaschenpost wiederum zeigt seiner Kundschaft bei der Wahl der Lieferslots an, wann ein Fahrzeug in der Nähe beliefert und vermarktet den Slot öffentlich als umweltschonender.
SPIEGEL: Bei Getir und Gorillas lief es zuletzt nicht so gut. Sie sind geschrumpft, Gewinne ausgeblieben. Sollten auch sie aufs Milchmannprinzip setzen?
Stüber: Das klassische Milchmannprinzip bietet nicht die Flexibilität, die Schnelllieferdienste benötigen. Bei der Gorillas-Übernahme durch Getir hätte der Abbau von Doppelstrukturen und die Nutzung von Synergien den beiden Anbietern schon mal einen Kostenvorteil verschaffen können.
SPIEGEL: Doch dann kamen auch noch die sich verändernden Bedürfnisse nach dem Ende der Pandemie.
Stüber: Genau. Nachdem lange viel zu Hause gekocht wurde, hatten die Menschen wieder das Bedürfnis, unterwegs zu sein und auch außerhalb zu essen. Die Tagesrhythmen stellten sich um, der Bedarf zumindest an Schnelllieferdiensten sank. Dabei wächst der Markt für gelieferte Lebensmittel gegen den Trend insgesamt sogar an.
SPIEGEL: Investoren sind wegen der wirtschaftlichen Lage zuletzt vorsichtiger geworden. Trifft das auch die Lieferdienste?
Stüber: Das Geld sitzt in der Start-up-Szene nicht mehr so locker. Doch die Modelle, die Potenzial bieten, können sich finanzieren. Picnic hat beispielsweise erst vor Kurzem eine neue Finanzierungsrunde abgeschlossen.
SPIEGEL: Bei Lieferdiensten wird oft die Lage der Beschäftigten kritisiert. Sie gelten häufig als unterdurchschnittlich bezahlt. Ließe sich das Geschäft anders überhaupt wirtschaftlich betreiben?
Stüber: Es hat sich schon viel getan. Wenn eine neue Branche entsteht, gibt es häufig erst mal verbesserungswürdige Arbeitsbedingungen. Das kennt man schon aus der Industrialisierung. Doch mit der Zeit ändert sich das. Das wird nicht nur am Gehalt deutlich, sondern beispielsweise auch an der nach und nach verbesserten Kleidung der Fahrer und Fahrerinnen oder an der Ausstattung mit stabileren Rädern.
SPIEGEL: Das gilt für Beschäftigte. In der EU entsteht derzeit auch eine neue Richtlinie für offiziell selbstständige Arbeiter von Onlineplattformen. Bedroht die auch noch das Geschäftsmodell?
Stüber: Alle Geschäftsmodelle, die zukunftsfähig sein wollen, müssen nachhaltig sein, und da gehören faire Arbeitsbedingungen mit dazu.
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