Frank-Walter Steinmeier bei Recep Tayyip Erdoğan: »Wir brauchen einander«

Die Beziehungen mit dem Erdoğan-Regime sind unterkühlt, was kann Bundespräsident Steinmeier da ausrichten? In Ankara kommt es zum Treffen mit dem türkischen Staatschef. Der hat für seinen deutschen Gast eine Überraschung.

frank-walter steinmeier bei recep tayyip erdoğan: »wir brauchen einander«

Am Mittwochmorgen steht Frank-Walter Steinmeier im Kemal-Atatürk-Mausoleum und verbeugt sich. Zuvor hat er einmal an dem schwarz-rot-goldenen Kranz mit der Aufschrift »Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland« gezupft, den er aus Berlin mitgebracht hat. Die Aufwartung vor dem Marmor-Sarkophag des Staatsgründers der türkischen Republik gehört zum Standardprogramm bei einem politischen Besuch in Ankara.

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Von Atatürk, dessen Konterfei in der modernen Türkei nach wie vor an jeder Ecke zu sehen ist, ist es allerdings nicht mehr weit zum Präsidentenpalast des aktuellen Machthabers Recep Tayyip Erdoğan. Und damit zum Finale der dreitägigen Türkeireise des deutschen Staatsoberhaupts – und ihrem schwierigsten Teil.

Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei waren schon immer kompliziert, aber aktuell knirscht es wegen Erdoğan mal wieder besonders. Vor allem liegt das am Krieg in Gaza: Erdoğan nennt die Terror-Miliz Hamas auch nach deren Überfall auf Israel eine Befreiungsorganisation. Erst vor wenigen Tagen hat er den Hamas-Auslandschef Ismail Hanija empfangen.

Ein bisschen wirkt es also so, als würden sich Hanija und der Bundespräsident in Ankara die Klinke in die Hand geben.

Und es dürfte kein Wunder sein, dass Steinmeier bei seinen Türkei-Terminen seit Beginn der Reise am Montag immer mal wieder Demonstranten begegnet, die wegen der Position Berlins Parolen wie »Mörder Deutschland« brüllen und mit Palästinenser-Flaggen wedeln.

In Ankara am Mittwochmittag ziehen sich Steinmeier und Erdoğan zu einem gut 100-minütigen Gespräch unter vier Augen zurück – deutlich länger als geplant. Für das anschließende sogenannte Delegationsformat bleiben am Ende nur noch wenige Minuten.

International spielt die Erdoğan-Türkei eine Art Doppelspiel: Man ist Nato-Partner – verfolgt aber auch ganz eigene Interessen. Ankara pflegt inzwischen intensive Kontakte nach Moskau, gleiches gilt für die Beziehungen nach Iran.

Das kann sich Erdoğan – seit 2014 im Amt, zuvor bereits elf Jahre Ministerpräsident des Landes – auch deshalb erlauben, weil er um den eigenen Wert für die Nato weiß. So doppelgesichtig das Land unter Erdoğan erscheint, es ist immer noch eine Art Stabilisator in der Region.

Und was Deutschland und die Türkei angeht, so ist man wohl auf einzigartige Weise miteinander verbunden: Drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln leben heute in der Bundesrepublik, Millionen aus Almanya machen wiederum jedes Jahr Urlaub an den Mittelmeer- und Schwarzmeerküsten der Türkei, auch die Wirtschaftsverbindungen sind eng. Und dann gibt es ja auch noch das EU-Flüchtlingsabkommen mit Ankara, das seinerzeit vor allem auf deutschen Druck zustande kam.

Dennoch hat Steinmeier lange gewartet mit diesem Besuch, dem ersten in seinen sieben Jahren als Bundespräsident. Er hat einen besonderen Aufhänger gefunden, weil Deutschland und die Türkei vor genau 100 Jahren diplomatische Beziehungen aufnahmen. Und Steinmeier hat sich eine Reiseroute gebaut, die zeigen sollte, dass die Türkei mehr ist als Erdoğan, den der Bundespräsident schon aus seinen langen Jahren als Außenminister kennt.

Er traf zunächst in Istanbul den dortigen Oberbürgermeister und Oppositions-Hoffnungsträger Ekrem İmamoğlu und erinnerte dort an die Hunderttausenden Türkinnen und Türken, die sich vom Bosporus aus als »Gastarbeiter« auf den ungewissen Weg nach Deutschland machten. Am Dienstag reiste Steinmeier dann in die Region um Gaziantep in Südostanatolien, die vor zwei Jahren von einem schrecklichen Erdbeben heimgesucht wurde, Deutschland fungiert hier als größter bilateraler Aufbauhelfer.

Und erst zum Abschluss nun also Erdoğan in Ankara.

Mitgebracht hat der Bundespräsident neben allerlei heiklen Themen allerdings auch noch die sogenannte Döner-Debatte. In deutschen wie türkischen Medien sorgt das Thema für hitzige Diskussionen, weil Steinmeier – neben Künstlern, Wirtschaftsvertretern und Politikern mit türkischen Wurzeln – auch den Berliner Dönerimbiss-Besitzer Arif Keles mitsamt einem seiner Fleischspieße mit auf die Reise nahm.

Keles durfte am Montagabend bei einem Empfang des Bundespräsidenten in Istanbul seinen Döner Berliner Art feilbieten, Steinmeier selbst säbelte zwischenzeitlich mit langer Klinge, seitdem tobt die Debatte.

Auch die ist bei der Pressekonferenz der beiden Präsidenten am Mittwochnachmittag Thema. Was Steinmeier und Erdoğan denn davon hielten, dass trotz all der schwerwiegenden Fragen nun so viel über den Döner und so wenig über andere Themen berichtet werde, will eine Journalistin wissen.

Steinmeier sagt, es sei »ein Zeichen für die Oberflächlichkeit der Debatte«. Und er verweist noch mal auf die diverse Zusammensetzung seiner Gästetruppe mit türkischen Wurzeln. Aber natürlich sei es so, dass »der Döner von Arif Keles auch zu der Vielfalt gehört, die Deutschland geprägt hat«.

Und Erdoğan? Der sagt lapidar: »Ich glaube, der Döner ist in Istanbul schon aus.« Was er damit meint, wird sich eine Stunde später zeigen.

Trotz der Differenzen ist bei der Pressekonferenz zu beoachten, dass es zwischen den beiden harmonischer zugeht als vermutet. Erdoğan nennt seinen Gast »mein verehrter Freund«, Steinmeier wiederum spricht ihn als »werter Freund« an.

Dann die Gegensätze: Erdoğan macht noch mal seine Perspektive auf den Gazakrieg klar, in dem der Angriff der Hamas als Auslöser quasi nicht vorkommt – Steinmeier stellt seine Sichtweise und die der deutschen Bundesregierung dagegen. Aber es fällt auf, dass der türkische Präsident, anders als bei manchem Auftritt in der Vergangenheit, viel moderater formuliert.

Dafür beklagt er sich anderer Stelle direkt über die deutsche Politik: Er nennt Solingen in Nordrhein-Westfalen, wo im Mai 1993 fünf Menschen mit türkischen Wurzeln einem rassistisch motivierten Brandanschlag zum Opfer fielen – und zieht Parallelen zu einem Brand in der gleichen Stadt, bei dem vor gut einem Monat eine vierköpfige Familie mit türkischem Pass ums Leben kam.

Allerdings stand der damalige Anschlag in einer Reihe fremdenfeindlicher Attacken, zudem wurde zunächst schlampig ermittelt, diesmal scheint in Solingen alles auf ein nicht-politisches Motiv eines ehemaligen Mieters hinzuweisen. Der Gast aus Deutschland weist den neuerlichen Vorwurf dennoch nicht zurück, sondern sagt mit Blick auf die aktuellen Brand-Opfer in Solingen: »Das schmerzt mich nicht weniger als den türkischen Präsidenten.« Und Steinmeier betont, dass er diesmal absolutes Vertrauen in die zuständige Justiz habe.

Erkennbar ist, wie beide Seiten trotz aller Probleme die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellen wollen. »Wir brauchen einander«, sagt Steinmeier mit Blick auf die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verflechtungen beider Länder. Erdoğan betont mehrfach die türkisch-deutsche Freundschaft. Am Ende sagt er zweimal auf Deutsch: »Danke schön«.

Dann geht es zum gemeinsamen Essen. Und plötzlich wird klar, wie Erdoğans Satz aus der Pressekonferenz zum Döner zu verstehen war. Denn der Präsident hat sich für seinen Gast etwas einfallen lassen, das nicht ohne Witz ist: Zum Abschied aus Ankara bekommt Steinmeier Fleisch von einem Dönerspieß serviert.

Aber diesmal auf türkische Art.

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