Holocaustüberlebende in EZB: Für die Toten sprechen

holocaustüberlebende in ezb: für die toten sprechen

Nach jüdischer Tradition: EZB-Präsidentin Christine Lagarde legt einen Stein auf die Gedenkstele im Keller der ehemaligen Großmarkthalle.

Eine Rampe führt in den Bauch der Europäischen Zentralbank (EZB) und damit in das düsterste Kapitel deutscher Geschichte. Denn die zwei gläsernen Türme, in denen die euro­pä­ische Geldpolitik gemacht wird, wachsen aus den denkmalgeschützten und in den Neubau integrierten Resten der früheren Großmarkthalle, seinerzeit entworfen vom Architekten Martin El­saesser. Und in deren Keller wurden zwischen 1941 und 1945 etwa 11.000 Frankfurter Juden von den Nationalsozialisten zusammengetrieben, gequält, gedemütigt und schließlich in Konzentrationslager deportiert. Nur 179 überlebten den Terror.

Oben ging der Marktbetrieb weiter: Während sich Juden im Keller nackt ausziehen mussten, geschlagen wurden und oh­ne eine Toilette für viele Stunden zwischen den grauen Steinen ausharren mussten, um dann einem ungewissen Schicksal in überfüllten Viehwaggons entgegenzurollen, feilschten die Frankfurter oben um den besten Preis für einen Apfel oder ein paar Kartoffeln. „Spüren Sie die Scham? Spüren Sie die Angst?“, fragt Eva Szepesi. Ihre Stimme hallt durch den Keller. Vor ihr stehen Oberbürgermeister Mike Josef (SPD), Mitglieder des Vorstands der Jüdischen Gemeinde und Rabbiner Avichai Apel, Mirjam Wenzel, die Direktorin des Jüdischen Museums, sowie etliche Mitar­beiter der EZB, allen voran Präsidentin Christine Lagarde.

Szepesi spürt die Scham und die Angst. Sie stand im November 1944 auf einer anderen Rampe als der, die heute in die Erinnerungsstätte Großmarkthalle führt – in Auschwitz. Sie hat das Konzentrations­la­ger überlebt. Elf Jahre war sie alt und vollkommen allein, als sie dort ankam. Ihre Zöpfe wurden abgeschnitten, ihr Arm tätowiert. Fortan war sie nur noch A26877, eine Nummer. Ein Mädchen, das täglich stundenlang im Schnee stehen musste und durch die Misshandlungen so schwach wurde, dass es irgendwann nicht mehr von seiner Pritsche hochkam. Bis ein Rotar­mist sich am 27. Januar 1945 über das Kind beugte und ihm Schnee einflößte. An diesem Tag hatten die Sowjets Auschwitz erreicht.

Mehr als 50 Jahre hat sie geschwiegen

Am Tag der Befreiung wird jedes Jahr an die Opfer des Holocaust erinnert. Nach einer Erhebung der Jewish Claims Conference, die Entschädigungsansprüche von Überlebenden vertritt, sind nicht mehr viele übrig, die selbst von dem Leid berichten können, das die Nationalso­zialisten ihnen zugefügt haben. 245.000 Schoaüberlebende gibt es demnach noch auf der Welt; fast die Hälfte von ihnen lebt in Israel. Die meisten waren am Ende des Zweiten Weltkriegs noch Kinder, so wie Eva Szepesi.

Lange hat sie geschwiegen, mehr als 50 Jahre sprach sie nicht über das Erlebte. Jetzt sagt sie: „Es ist meine Lebensaufgabe, für alle zu sprechen, die es nicht mehr können.“ In diesem Jahr, nach dem Massaker der Hamas in Israel und dem sprunghaften Anstieg antisemitischer Taten und verbaler Angriffe auch in Deutschland, sei es wichtiger denn je. „Ich weiß, dass ich das Trauma an meine Töchter, Enkelkinder und Urenkel weitergegeben habe“, sagt Szepesi, deren Enkel ihre Rede simultan ins Englische für das internationale Publikum überträgt. „Aber dass sie selbst einmal existenzielle Angst erleben müssen, tut mir weh.“

Am Donnerstagabend, zwei Tage vor dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, hat Szepesi ihre Geschichte auf der Gedenkveranstaltung der EZB erzählt. Es ist ein bewegendes Zeitzeugnis, und Lagarde sagt nach der Holocaustüberlebenden: „Es ist schwer, nach Ihnen zu sprechen.“ Schon in ihrer Begrüßung hatte die EZB-Präsidentin gezeigt, dass ihr das Thema wichtig ist: Deutschland stehe heute für Respekt und Toleranz. Doch das sei keine Selbstverständlichkeit. Diese Werte müssten verteidigt werden, auch durch Erinnerungsveranstaltungen wie die im Keller der EZB.

Mike Josef hebt in seiner Ansprache die europäische Dimension der Verbrechen der Nationalsozialisten hervor. Die hätten nicht im Dunkel der Nacht stattfanden, sondern für alle sichtbar – auch für die Besucher der Großmarkthalle. Mirjam Wenzel, deren Team des Jüdischen Museums im vergangenen Jahr 1400 Besucher in den Keller geführt hat, mahnt, der Ort solle ei­ne Warnung sein, dass die Gräuel, die dort geschahen, sich nicht wiederholten. Doch immer wieder würden Häuser von Juden markiert, und auch am öffentlichen Teil der Gedenkstätte an der Großmarkthalle müssten regelmäßig Schmierereien entfernt werden. Solche Vorfälle sind es, die die „existenzielle Angst“ schüren, von der Eva Szepesi spricht, und die sie inzwischen zweifeln lassen, ob Juden heute in Deutschland sicher sind.

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