„Die Situation in Gaza ist nicht zu rechtfertigen“

„die situation in gaza ist nicht zu rechtfertigen“

Gastgeber des Weimarer Dreiecks: Stéphane Séjourné

Herr Minister, Sie empfangen an diesem Montag Außenministerin Baerbock und den polnischen Außenminister Sikorski zu einem Weimarer Dreiecksgipfel. Hat das polnische Wahlergebnis das europäische Gleichgewicht verändert?

Polen ist wieder voll nach Europa zurückgekehrt. Das macht einen echten Unterschied und verändert enorm viel für uns. Ein solches Treffen hätte wahrscheinlich nicht stattgefunden, wenn die PiS-Partei die Wahlen gewonnen hätte. Bei vielen wichtigen Themen – Umwelt, Rechtsstaatlichkeit, institutionelle Reformen – kann man Konvergenzen finden. Und Polen kann jetzt eine führende Rolle spielen, wo es früher Blockaden gab.

Sowohl Polen als auch Deutschland setzen bei der Verteidigung stark auf die USA . ..

Ja, aber man darf die beiden Optionen nicht gegeneinander ausspielen. Es ist ein politischer Fehler zu sagen, NATO oder Europa. Nein. Es muss NATO und Europa sein. Die Europäer brauchen eine zweite Lebensversicherung. Darüber sind sich alle ziemlich einig. Wenn wir uns untereinander organisieren, dann nicht als Ersatz für NATO. Das Schlüsselwort in diesem Bereich ist Komplementarität. Wichtig ist, dass sich die Demokratien schützen können, auch militärisch.

Sprechen Sie auch über russische Desinformation und Angriffe auf unsere Demokratien?

Genau das ist geplant. Unsere drei Länder sind Opfer der gleichen Destabilisierungsstrategie geworden. Wir werden eine neue Zusammenarbeit gegen russische Desinformation ankündigen.

Welche Art von Angriffen haben Sie beobachtet?

Das Wirken von Trollfabriken und gefälschten Nachrichtenseiten. Wir werden die Instrumente dieser Desinformation transparent offenlegen. Wir werden Angriffe enthüllen, die begangen wurden. Und zwar mit Beweisen. Wir haben übereinstimmende Hinweise darauf, dass es zudem Schläferoperationen gibt, das heißt Instrumente, die jederzeit aktiviert werden können, insbesondere während einer Wahl.

In allen drei Ländern?

Ja. Wir wollen zeigen, dass es sich um ein europäisches Thema handelt. Das Thema haben wir nicht erfunden, um russlandnahen politischen Parteien entgegenzuwirken. Es gründet auf Fakten. Wir alle sind damit konfrontiert. Russland hat es bislang nicht geschafft, uns zu spalten. Der Beweis dafür ist, dass wir am 1. Februar einstimmig für das 50-Milliarden-Paket für die Ukraine gestimmt haben. Die europäische Einheit war da. Aber es gibt eine Strategie der Destabilisierung und den Versuch, die Bevölkerung zu spalten.

Wie zum Beispiel?

Es sind Strukturen zur Desinformation aufgebaut worden, etwa in den sozialen Netzwerken und auf Informationsseiten. Damit soll Verwirrung unter den Bürgern gestiftet werden. Mit echten Fake News. Und mit dem Ziel, eine Polarisierung aufzubauen, die unsere Demokratien politisch destabilisieren. Wenn drei große EU-Länder dies gleichzeitig anprangern, hat das eine gewisse Kraft.

Befürchten Sie auch Desinformationsversuche vor den Europawahlen am 9. Juni?

Bei den Europawahlen besteht die reale Gefahr, dass das Parlament zur Sperrminorität im europäischen Institutionengefüge wird. Es wird oft nicht erwähnt, dass wir derzeit eine proeuropäische Mehrheit im Parlament haben. Aber wenn es diese Mehrheit nicht mehr geben sollte, wird es sehr kompliziert werden. Das wäre wie ein Brexit für alle. Es würde eine große institutionelle Blockade nach sich ziehen. Auf europäischer Ebene würde nichts mehr passieren. Die Nationalisten sind fast überall in Europa auf dem Vormarsch, was sehr beunruhigend ist.

Worauf führen Sie das Erstarken des Nationalismus zurück?

Es gibt einen Faktor, den wir an diesem Montag gemeinsam anprangern werden: die russische Erzählung von einem dekadenten Europa. Sie erleben das auch in Polen. Als ob der Westen in seiner Lebensweise, in seiner im politischen Sinne liberalen Gefasstheit völlig dekadent wäre. Es muss ein politischer und kultureller Kampf geführt werden, um ins Bewusstsein zu rufen, dass unsere Lebensweise eine Chance ist.

Die russische Erzählung vom dekadenten Europa hat also die Gesellschaften durchdrungen . . .

Das führt zu einer Verzerrung dessen, was Europa ist und welches Glück wir haben, hier zu leben. Aber es gibt noch viele andere Ängste. Migrationskrise, Angst vor Fremden, Inflation. All unsere Bemühungen bestehen darin, in Europa Punkt für Punkt darauf zu reagieren. Der Asyl- und Migrationspakt oder die Reform des Energiemarktes sind Beispiele dafür.

Führt der Krieg zu einer neuen Kriegstüchtigkeit?

Wir sind bereits dabei, Großes zu leisten, insbesondere bei der Interoperabilität, damit die Ukrainer Material aus verschiedenen Ländern verwenden können. Der Krieg in der Ukraine macht eine Reihe von Dingen möglich, die unmöglich schienen. Gemeinsame Beschaffungen von Munition und Marschflugkörpern und bald auch von europäischem Militärmaterial zum Beispiel.

Die mögliche Rückkehr von Donald Trump an die Macht birgt die Gefahr eines amerikanischen Rückzugs aus der NATO. Sind die Europäer darauf vorbereitet?

Man darf sich nicht einreden, dass man bei einem Sieg der Republikaner nicht in der Lage wäre, sie zu überzeugen. Aber es stimmt, dass wir uns auf alle Szenarien vorbereiten müssen. Ich glaube, dass man immer überzeugen kann. Und wir werden umso überzeugender sein, wenn wir auf gleicher Augenhöhe sprechen. Wir müssen militärisch stärker werden.

Sie sind gerade von einer Reise in den Nahen Osten zurückgekehrt. Sollte ein palästinensischer Staat anerkannt ­werden?

Wir wollen einen dauerhaften Waffenstillstand erreichen. Das ist eine Vor­bedingung für jede Diskussion. Man kann die Sicherheitsfrage nicht lösen, ohne parallel dazu eine politische Diskussion in Gang zu setzen, die es uns ermöglicht, eine Zweistaatenlösung zu erreichen.

Die Anerkennung kann auch ein diplomatischer Hebel sein. Werden Sie diesen Hebel nutzen?

Es gibt in diesem Punkt keine Tabus. Entscheidend ist, dass dieser Staat entsteht und dass die Bedingungen dafür gegeben sind, einschließlich der Sicherheitsbedingungen für Israel.

Wie haben Sie Benjamin Netanjahu in Ihrem Gespräch erlebt?

Man muss verstehen, dass die israelische Gesellschaft nach dem 7. Oktober nicht mehr dieselbe ist. Und zwar dauerhaft. Das habe ich erst vollends begriffen, als ich dort war. Der Schock, den das größte antisemitische Massaker dieses Jahrhunderts ausgelöst hat, ist immens. Auf der anderen Seite muss man ihnen auch einige Dinge sagen können. Die humanitäre Lage in Gaza ist heute katastrophal und eigentlich untragbar. Das Trauma der Israelis ist real, und wir teilen es. Ich muss aber auch sagen, dass die Situation in Gaza nicht zu rechtfertigen ist. Wir sind gegen Zwangsumsiedlungen, und die Gewalt der Siedler im Westjordanland muss aufhören.

Was haben Ihre arabischen Gesprächspartner gesagt?

Sie erwarten von Frankreich, dass wir auf eine europäische Einheit hinwirken, da sie an einer einheitlichen arabischen Position arbeiten. Das wird mein Ziel sein, insbesondere auf der Münchner Sicherheitskonferenz, wo sich die europäischen und die arabischen Länder hoffentlich abstimmen können.

Die Fragen stellten Michaela Wiegel, Laurent Marchand („Ouest-France“) und Bartosz Wielinski („Gazeta Wyborcza“).

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