Fall Dramé: Polizist rechtfertigt tödliche Schüsse in Dortmund

fall dramé: polizist rechtfertigt tödliche schüsse in dortmund

Die fünf angeklagten Polizeibeamten kommen im Dezember 2023 in den Gerichtssaal des Landgerichts.

Thorsten H. ist ein erfahrener Polizist, der sich auch in besonders herausfordernden Einsätzen wie dem Umgang mit im Dienstjargon „Suizidenten“ genannten Personen bewährt hat. Gut zwanzigmal im Jahr werde er mit seinen Kollegen zu Menschen gerufen, die drohen, sich selbst zu töten, berichtet H. am Mittwoch im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Dortmund. Bis zum 8. August 2022 sei es stets gelungen, die „Suizidenten“ von ihrer Absicht abzubringen. Mal durch gutes Zureden, mal durch einen überraschenden Zugriff von hinten, einige Male auch durch den Einsatz von Pfefferspray. „Denn danach lässt jemand ein Messer fallen oder eine abgebrochene Flasche, weil er sich die Augen reiben muss“, sagt H.

fall dramé: polizist rechtfertigt tödliche schüsse in dortmund

Seine Brüder sitzen im Januar hinter einem Foto des von Polizeischüssen getöteten Mouhamed Dramé.

Seit Dezember müssen sich fünf Polizisten und Polizistinnen für den Tod des erst 16 Jahre alten Senegalesen Mouhamed Dramé bei einem Einsatz auf dem Gelände einer Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt vor Gericht verantworten. Deren Leiter hatte den Notruf gewählt, weil er keine andere Möglichkeit mehr sah, Dramé davon abzuhalten, sich etwas anzutun.

Auftrag, Dramé mit Pfefferspray zu besprühen

Seit längerem schon kauerte der Junge apathisch in einer Nische, hielt sich ein großes Küchenmesser mit der Spitze nach oben vor den Bauch, reagierte nicht, als nacheinander mehrere Sozialarbeiter ihn ansprachen. Zunächst trafen zwei Beamte in Zivil ein, danach Thorsten H., der damals Dienstgruppenleiter in der Nordstadt-Wache war, und weitere Streifenbeamten. Kurz darauf lief der Einsatz aus dem Ruder.

Von den Zivilbeamten habe er erfahren, dass jeder Versuch, mit dem Jugendlichen in Kontakt zu treten aussichtslos sei – ob durch direkte Ansprache in verschiedenen Sprachen oder mithilfe einer Übersetzungs-App. Die Situation „statisch“ zu halten, sei keine Alternative gewesen. „Sollte ich warten, bis Dramé sich das Messer in den Bauch rammt?“ Auch die Anforderung von Spezialkräften habe er nicht als Option gesehen. „Die wären erst in einer Stunde da gewesen.“

Also legte H. nach einer kurzen Einsatzbesprechung die Rollen fest: Eine Beamtin bekam den Auftrag, Dramé mit Pfefferspray zu besprühen. Zur Eigensicherung wies er zwei Polizisten an, sich mit Elek­troschockpistolen (sogenannten Tasern) zu positionieren, ein weiterer Beamter nahm mit einer Maschinenpistole Aufstellung. H. gab den Befehl zum Pfefferspray-Einsatz. Aber Dramé ließ das Messer nicht fallen, sondern richtete sich auf und bewegte sich auf die Beamten zu. Zwei Polizisten versuchten ihn mit Tasern zu stoppen. Als auch das nicht funktionierte, gab der zur Einsatzsicherung abgestellte Beamter sechs Schüsse aus seiner Pistole ab.

Dieser 30 Jahre alte Beamte, Fabian S., steht im Zentrum des Verfahrens; er soll voraussichtlich im Mai aussagen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Totschlag vor. Zwei Polizistinnen und ein Polizist im Alter zwischen 29 und 34 Jahren haben sich aus Sicht der Anklage wegen des unangemessenen Pfefferspray- und Tasereinsatzes der gefährlichen Körperverletzung im Amt schuldig gemacht. Dem 55 Jahre alten Dienstgruppenleiter H. wirft die Staatsanwaltschaft vor, seine Kollegen angestiftet zu haben.

Einsatz der Situation nicht angemessen

Am 8. August vor zwei Jahren hätten er und seine Kollegen zunächst gedacht, dass der Einsatz alles in allem gut gelaufen sei, sagt H. Er habe nicht geglaubt, dass der Jugendliche tödlich getroffen worden sein könnte. Erst später habe er erfahren, dass Dramé „leider verstorben“ sei. „Ich war erschrocken, entsetzt, dass das in meinen Einsatz passiert ist.“ Eine persönliche Schuld sieht er nicht: „Hätte Dramé das Messer fallen lassen, wären nach dem Pfefferspray weder der Taser noch die Maschinenpistole eingesetzt worden.“

Schon bei der ersten Aufarbeitung im Innenausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags im Frühherbst 2022 war klar geworden, dass der Einsatz von Beginn an nicht der Situation angemessen war. Im Strafprozess geht es nun vor allem um die Frage, ob die Beamten trotzdem für sich in Anspruch nehmen können, aus Notwehr oder im Fall des Beamten S. zum Schutz seiner Kollegen gehandelt zu haben. Von erheblicher Bedeutung dafür ist, wie schnell sich Dramé in Richtung der Polizisten bewegte und wie gefährlich das wirkte. Umso bedeutsamer war aus der Sicht der Angeklagten, dass zwei Sozialarbeiter der Einrichtung, in der Dramé untergebracht war, Ende Februar aussagten, der Jugendliche habe sich schnell auf die Einsatzkräfte zubewegt.

Ende März hatte ein selbst nicht angeklagter Polizist ausgesagt. Der Beamte zählte zu einem Trupp in Zivil, der die Situation im Hof der Einrichtung vor dem eigentlichen Einsatz aufklären sollte. Auch nach seiner Erfahrung sei das Spray das mildeste Mittel, um eine Person dazu zu bringen, ein Messer fallen zu lassen. Zwar sei man zunächst nicht davon ausgegangen, dass Dramé die Polizisten habe angreifen wollen. Doch weil der Jugendliche nicht auf diverse Anspracheversuche reagiert und sich das Messer weiter vor den Bauch gehalten haben, sei die Lage sowohl für Dramé selbst als auch für die Einsatzkräfte bedrohlicher geworden.

Ebenso schildert das neben Dienstgruppenleiter H. am Mittwoch auch Markus B. – einer der Beamten, die sich mit dem Taser positioniert hatten. Als das Pfefferspray ohne Wirkung geblieben war, habe sich Dramé mit dem Messer aufgerichtet und habe sich rasch in Richtung der Einsatzkräfte bewegt. Das habe er für sich und seine Kollegen als Gefahr wahrgenommen. Auf die Frage des Richters, ob ihm Paragraf 59 des nordrhein-westfälischen Polizeigesetzes bekannt sei, in dem das sogenannte Übermaß-Verbot bei Einsätzen geregelt ist, antwortet B.: Bedenken gegen die Art und Weise des Vorgehens habe es auch bei der kurzen Einsatzbesprechung weder bei ihm noch bei seinen Kollegen gegeben.

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