Europas neue Härte: Balkanroute – an diesem Grenzzaun scheitern immer mehr Geflüchtete

europas neue härte: balkanroute – an diesem grenzzaun scheitern immer mehr geflüchtete

Innenministerin Nancy Faeser (SPD) besichtigt die “grüne Grenze” zwischen der Türkei und Bulgarien

Neue Regeln sollen irreguläre Migration nach Europa begrenzen. Wird das was? Unterwegs mit Innenministerin Faeser an der Balkanroute.

Nancy Faesers Grenzerfahrung lässt sich recht präzise vermessen: drei Meter in der Höhe, 280 Kilometer in der Gesamtlänge.

Bei 29 Grad steht die Innenministerin an der sogenannten grünen Grenze im bulgarischen Kapitan Andreevo am Doppelzaun zwischen Europa und der Türkei. Die Grenzgitter sind mit Stacheldraht bestückt, werden von Wärmebildkameras und Alarmsirenen flankiert. Sieht nicht so einladend aus, aber dafür ist das Konstrukt gedacht: zur Abschottung und Abschreckung.

Faeser ist hier, um sich ein Bild von der Lage zu machen, vor allem aber um eines ihrer wichtigsten politischen Projekte ins Ziel zu bringen. Ihren Besuch Anfang der Woche will sie als Botschaft verstanden wissen: Die hart erstrittene und jüngst beschlossene EU-Asylreform nutzt wenig, wenn sie nicht auch in der Praxis angewendet wird.

Asylverfahren an den europäischen Außengrenzen, einheitlich und schnell durchgeführt in Grenzlagern, aus denen heraus eine gerechtere Verteilung der Geflüchteten unter den Mitgliedsstaaten erfolgt – so lässt sich das Update der europäischen Asylpolitik grob umreißen. Beschlossen hat es das EU-Parlament erst in der vergangenen Woche. Es war mal wieder knapp, nicht wenige kritisieren die neuen Härten im Umgang mit Geflüchteten scharf, anderen war selbst diese nicht hart genug. Nun haben die Länder an der Außengrenze zwei Jahre lang Zeit, die neuen Regeln umzusetzen.

Zwei Jahre? Ginge es nach Faeser, dürfte es gern einen Tick schneller gehen. Bulgarien könnte dabei eine wichtige Rolle zukommen.

Die Indizienkette

Wer es vom Nachbarland Türkei auf die bulgarische Seite des Grenzzauns schafft – ob mit Hilfe einer Leite drüber, mit Schaufeln darunter durchgebuddelt oder mittels Schleusern auf dunklen Kanälen –, der steht am Beginn der Balkanroute. Nicht selten führt sie irregulär eingereiste Migranten nach Deutschland – und damit zu Asylzahlen, die Kommunen an die Grenze der eigenen Möglichkeiten bringen, vielleicht auch Innenministerinnen.

Die Zahlen der Asylerstanträge stiegen von 218.000 (2022) auf 330.000 (2023), die Umfragewerte der AfD von 11 auf bis zu 23 Prozent. Eine Indizienkette, die Bundeskanzler Olaf Scholz mit einer robusteren Migrationspolitik zerschlagen will. Wem Asyl zusteht, der soll es weiterhin bekommen – wer jedoch keinen Anspruch hat, soll konsequent zurückgeschickt werden. Verantwortlich für Erfolg oder Misserfolg ist nicht zuletzt Innenministerin Faeser. Beide wissen: Ohne ein neues, funktionierendes EU-Asylsystem wird’s nicht gehen.

Am Grenzzaun stehen neben Faeser nun Kalin Stoyanov, der bulgarische Innenminister, und Anton Zlatanov, Leiter der Grenzpolizei, in ihren dunklen Anzügen unter der Sonne. Ihre Zahlen stimmen sie zuversichtlich.

In diesem Jahr hätten sie rund 7000 Versuche gezählt, die Grenze illegal zu überqueren – im letzten Jahr seien es im selben Zeitraum noch 27.000 gewesen, insgesamt an die 180.000. “Prevented Attempts”, also verhinderte Versuche, seien das gewesen. Keine illegalen “Pushbacks”, bei denen Geflüchtete mit Gewalt zurückgedrängt werden. Darauf legen sie wert.

Der Unterschied? Geflüchtete versuchen von türkischer Seite aus den Grenzzaun zu passieren. Wärmebildkameras entdecken sie, eine Sirene schlägt Alarm, die Grenzschützer rasen mit ihren Autos an Ort und Stelle. Meist seien die Geflüchteten dann schon im Hinterland verschwunden. Attempt prevented, zumindest wird es so an der grünen Grenze erzählt.

Zugegeben: “Vereinzelte, isolierte Fälle” von Pushbacks durch die bulgarische Grenzpolizei habe es gegeben, winkt Innenminister Stoyanov ab. Diese sollten “auf Null” gesenkt werden, konsequent bestraft sowieso. Faeser kennt die entsprechenden Medienberichte. Auffällig oft spricht die Innenministerin von der europäischen Grenzpolizei Frontex als Garanten dafür, dass rechtstaatliche Standards eingehalten würden, immer wieder appelliert sie, dass deren Hilfe angefordert werden könne Doch auch Faeser weiß: Für den Schutz der jeweiligen Außengrenze bleibt der dortige Mitgliedsstaat verantwortlich.

Die EU hat ein durchaus attraktives Lockmittel, die Bulgaren zusätzlich zu motivieren: Seit dem 31. März gehört das Land zwar dem Schengenraum an, somit entfallen Visa-Kontrollen an den Luft- und Seebinnengrenzen – aber noch nicht auf dem Landweg. Geht es nach Innenminister Stoyanov, soll sich das in diesem Jahr ändern.

“Relativ sinnlos”

Für Faeser geht es dabei aber auch um Glaubwürdigkeit, um den Beweis, dass die humanitären Standards durch den “neuen Rahmen” für Kontrolle und Ordnung nicht unter die Räder geraten. Das neue Asylsystem sei der Schlüssel, um Migration zu steuern und ebendiese Standards für Geflüchtete zu schützen, sagt Faeser. “Das geht nur mit europäischen Lösungen, die auch in der Realität funktionieren.”

Nun gehe es um die “schnellstmögliche Umsetzung”. Das ist die zentrale Botschaft auf Faesers Reise, die sie auch nach Rumänien führt, ebenfalls ein Land mit EU-Außengrenze und Teil der Balkanroute. Sie sichert den Ländern die deutsche Unterstützung zu, schon ihre Besuche sollen als Ausweis der Solidarität verstanden wissen. Es liegt aber auch in ihrem eigenen Interesse. Denn auch das betont Faeser immer wieder: Offene Grenzen im Inneren könne es nur geben mit einem starken Schutz der EU-Außengrenzen.

“Hundert Prozent Zustimmung”, sagt Andreas Roßkopf, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, Abteilung Bundespolizei/Zoll, zum stern. Einzig an den EU-Außengrenzen könne tatsächlich verhindert werden, dass Menschen unberechtigt die deutsche Grenze übertreten würden. “Ergo: Die Grenzkontrollen, die wir eingeführt haben, sind in unseren Augen relativ sinnlos.”

Die meisten Menschen, die irregulär nach Deutschland einreisen, würden eingeschleust. “Diese Schleuser reagieren binnen kürzester auf unsere Kontrollen”, sagt Roßkopf: Das vermeintliche Hindernis würde einfach umfahren.

Seit Mitte Oktober setzt Deutschland auf die stationären Kontrollen an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz. An der Grenze zu Österreich gab es diese bereits seit Jahren. Faeser vollzog damit einen Kursschwenk. Im Sommer 2023 hatte sie sich noch vehement gegen Binnengrenzkontrollen ausgesprochen, seien diese stets eine “Ultima Ratio”: Ihre Einführung setze eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit voraus, sagte sie. Angesichts hoher Asylzahlen und öffentlichem Druck lenkte die Innenministerin schließlich ein.

Es war auch das Eingeständnis, dass der “starke Schutz” der EU-Außengrenzen, für den Faeser engagiert wirbt, noch ausbaufähig ist. Und die deutschen Kontrollen zu den Nachbarländern, die eigentlich als vorübergehende Maßnahme gedacht waren, erstmal unabdingbar sind. Erst vor wenigen Tagen machte Faeser deutlich, dass diese auch während der Fußball-EM im Juni und Juli bestehen bleiben sollen.

Zwar zeigten die Binnengrenzkontrollen erste Erfolge, seit ihrer Einführung seien 708 Schleuser festgenommen und 17.600 unerlaubte Einreisen verhindert worden, gab Faeser vor wenigen Tagen bekannt. Zudem sei die Zahl der Asylanträge aktuell um ein Fünftel geringer als im gleichen Vorjahreszeitraum. Doch Andreas Roßkopf von der Polizeigewerkschaft ist skeptisch, ob es bei diesen Erfolgsmeldungen bleibt.

Die deutschen Grenzkontrollen hätten insofern einen positiven Effekt gehabt, dass sich die Nachbarländer in die Pflicht genommen fühlten, mit eigenen Kontrollen nachzuziehen. “Allerdings werden diese Kontrollen auch wieder heruntergefahren”, sagt Roßkopf. Folglich könnte der positive Effekt auch rasch wieder verpuffen.

“Durch die Binnengrenzkontrollen haben wir eine hohe Beifangquote, stellen häufig andere Straftaten fest: Drogenschmuggel, Fahren ohne Führerschein”, sagt Roßkopf. Kein Grund zur Beschwerde, nur sei das nicht der Grund, warum die Grenzkontrollen eingeführt wurden: “zur Bekämpfung der unkontrollierten Migration”.

Zumal die Bundespolizei an ihre Belastungsgrenze komme. Laut dem GdP werden aktuell 2300 Kilometer Grenzlänge an knapp 30 Grenzkontrollstellen überwacht. Zusätzlich seien 1600 Kollegen aus der Bereitschaftspolizei gebunden. Damit sei man an der Grenze des Möglichen, sagt Roßkopf, viel mehr Beamte könnten im regulären Betrieb nicht mobilisiert werden.

“Jetzt kommt die EM, das heißt, wir haben an der Westgrenze nochmal 1300 Kilometer zu schützen”. Während des Turniers sollen an allen neun deutschen Außengrenzen Kontrollen durchgeführt werden. Man plane derzeit “händeringend”, wie das überhaupt gehen soll.

Wo das neue Asylsystem erstmals Wirklichkeit werden könnte

Und damit zurück zur grünen Grenze in Bulgarien, wo das neue “Gemeinsame Europäische Asylsystem” (GEAS), wie es im Fachjargon heißt, einen ersten Testlauf erleben könnte.

Im Mai will die EU-Kommission ihre Pläne für ein Pilotprojekt vorstellen, um die geplanten Grenzlager und Schnellverfahren erstmals in der Praxis zu erproben. Noch sind viele Fragen offen, zum Beispiel diese: Lassen sich haftähnliche Grenzlager und humanitäre Standards tatsächlich miteinander vereinbaren – oder drohen überfüllte Einrichtungen, in denen es an allem fehlt, nicht zuletzt an humanitären Standards?

Bulgarien habe sich bereiterklärt, die neuen Regeln in einem Pilotprojekt bereits umzusetzen, wie Faeser in Kapitan Andreevo freudig verkünden kann. Wenn sich das neue Asylsystem hier bewährt, an einem der laut Faeser “stärksten frequentierten” Grenzpunkte zur Türkei, könnte das auch den Elan anderer EU-Staaten mit Außengrenze wecken, die Regeln rasch umzusetzen.

“Wir werden irreguläre Migration wirksam begrenzen”, sagt Faeser entschlossen. Das zumindest ist der Plan. Ob er aufgeht?

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