Englands Kampf gegen Tragedy Chanting: "Keine Vorstellung davon, wie sehr das verletzt"

35 Jahre nach der Hillsborough-Katastrophe sind die Erinnerungen immer noch schmerzhaft. Ligen, Verbände und Fans kämpfen gegen das gezielte Verhöhnen von Unglücksopfern – bald auch an Schulen.

Bei Liverpools Heimspiel gegen Crystal Palace wurde am Sonntag der 97 Menschen gedacht, die durch die Hillsborough-Katastrophe den Tod fanden.

35 Jahre nach Hillsborough

Punkt 15.06 Uhr Ortszeit am heutigen Montag wird das öffentliche Leben in Liverpool wieder für eine Minute stillstehen. Im Gedenken an die 97 Menschen, die durch die Hillsborough-Katastrophe vor genau 35 Jahren den Tod fanden. 27 Jahre lang kämpften Hinterbliebene und Überlebende, der Klub, die Stadt und dort bei weitem nicht nur die Anhänger der Reds um Gerechtigkeit. Dann endlich wurde von der Regierung nach langer und zuvor lange vermiedener Untersuchung festgestellt: Die Liverpool-Fans trugen keine Schuld an der Tragödie am 15. April 1989 in dem maroden Stadion in Sheffield beim FA-Cup-Halbfinale gegen Nottingham Forest. Auslöser waren Fehler in der Organisation, speziell der verantwortlichen Polizeistellen.

Dieser traurige Tag und seine Folgen mit den Vertuschungen und dem Rufmord, den vor allem das Schmutzblatt The Sun, aber auch staatliche Stellen begingen, hat sich in die Geschichte und die Seele der Stadt eingebrannt. Und immer noch und immer wieder gibt es aktuelle Anlässe, die wehtun: durch “Tragedy Chanting”.

Im Deutschen gibt es kein Äquivalent zu “Tragedy Chanting”

Für diesen feststehenden Begriff hat die deutsche Sprache kein Äquivalent. Er bezeichnet Sprechchöre, Gesänge, auch eindeutige Gesten, mit denen Opfer von Unglücken verhöhnt werden. Sie sind vor allem bei Auswärtsspielen des FC Liverpool zu hören, wenn “Die Sun hatte Recht, ihr seid Mörder” skandiert wird oder ähnliches.

“Wer das ruft oder entsprechende Gesten macht, hat keine Vorstellung davon, wie sehr das Überlebende verletzt und Familien, die einen geliebten Menschen verloren haben”, sagt Joe Blott, viele Jahre Vorsitzender der unabhängigen Fan-Organisation “Spirit of Shankly”. Blott arbeitet und spricht heute für die nationale Fan-Vereinigung Football Supporters Association (FSA). Tragedy Chanting hat in der jüngeren Vergangenheit zugenommen, es betrifft nicht nur den FC Liverpool, dessen Anhang nicht frei von schwarzen Schafen war: Die Verhöhnung der Opfer des Flugzeug-Unglücks der “Busby Babes” von Manchester United in München-Riem 1958 war auf der Insel über Jahrzehnte weit verbreitet.

  • Hillsborough-Chronologie: Der lange Kampf um Gerechtigkeit

Neben Fans von Liverpool und United verhöhnt das Tragedy Chanting auch die Opfer aus anderen Klubs im Zusammenhang mit Todesfällen beim Fußball. Der Brand 1985 im Stadion von Bradford City, bei dem 56 Menschen ums Leben kamen, zwei Fans von Leeds United, die 2000 vor einem UEFA-Pokal-Spiel bei Galatasaray Istanbul erstochen wurden, der Hubschrauber-Absturz am Stadion von Leicester City 2018, der Absturz des Flugzeugs mit Cardiff Citys Neuzugang Emiliano Sala 2019 – Tragödien im unmittelbaren Zusammenhang mit Fußball, über die sich Einzelne oder Gruppen lustig machen. Blott weiß sogar von Vorfällen, in denen bei Auftritten von Queens Park Rangers abstoßend Bezug genommen wurde auf die Grenfell-Towers in London. 2017 forderte ein Feuer-Inferno dort 72 Menschenleben, Zweitligist QPR ist den Hochhäusern am nächsten gelegen.

Auch Klopp und ten Hag appellierten zuletzt – mit Erfolg

Den Kampf gegen das Tragedy Chanting haben vor allem Supporter-Vertreter des FC Liverpool wie Blott sowie Andy Mitten von Manchester United aufgenommen, weil diese Klubs am meisten betroffen sind. Sie erhalten dabei immer mehr Unterstützung. Vor dem FA-Cup-Spiel Liverpools im Old Trafford nahmen kürzlich die Trainer Jürgen Klopp und Erik ten Hag den Ball auf, appellierten an alle Zuschauer, dagegen anzugehen. Jamie Carragher und Wes Brown, Ex-Profis beider Seiten, besuchten Schulklassen gemeinsam mit Margaret Aspinall, der Galionsfigur der Hillsborough-Familien im Kampf um Gerechtigkeit. Beim späteren Aufeinandertreffen der Reds und der Red Devils in der Premier League war die Anzahl der Vorfälle schon erfreulich gering.

Die Premier League, die English Football League, der Verband und staatliche Stellen arbeiten seit einem Jahr auf Initiative der engagierten Fan-Sprecher sowie des Liverpooler Parlamentariers Ian Byrne eng zusammen, damit Tragedy Chanting, das sich sehr stark über Soziale Netzwerke verbreitet, eingedämmt wird. Blott berichtet, er habe schon in vielen Arbeitsgruppen mitgewirkt. “Doch keine hat so schnell und gut erste Erfolge erzielt.” Die nächste Stufe des “Real Truth and Legacy Projects” soll sein, dass das Thema landesweit und verpflichtend in den Schulbetrieb aufgenommen wird. Die Wahrheit über Hillsborough stehe dabei im Mittelpunkt. In der Region Merseyside gehört das bereits zum Unterricht.

“Einige von uns gehen zu Begegnungen mit bestimmten Klubs nicht mehr ins Stadion, weil sie es nicht ertragen können”

Es reiche nicht aus, dass neuerdings Stadionverbote ausgesprochen werden können und der Gesetzgeber zudem Strafmaßnahmen ermöglicht, die darüber hinausgehen. “Die Bildung in erster Linie der Jüngeren, die nicht einmal geboren waren, als sich die Tragödien ereigneten, ist das Wichtigste”, sagt Blott.

Stadionverbote hält Peter Scarfe, Vorsitzender der Hillsborough Survivors Support Alliance (HSA), eine Selbsthilfegruppe von Überlebenden der Hillsborough-Tragödie, ebenso wenig wie Blott für das alleinige und geeignetste Mittel, Tragedy Chanting zu begegnen. Er setzt auf den Erfolg kommunikativer und erzieherischer Maßnahmen. “Bildung ist der Schlüssel.” Sein Vorschlag: “Eine Teilnahme an einem Kursus, wie er nach wiederholten Verkehrsverstößen verpflichtend ist.” Außerdem müssten Plattformen wie X (vormals Twitter) viel mehr reguliert werden. “Es ist unglaublich, wieviel Hass dort verbreitet wird”, sagt Scarfe. “Einige von uns gehen zu Begegnungen mit bestimmten anderen Klubs nicht mehr ins Stadion, weil sie es nicht ertragen können.”

Die schmerzhaften Erinnerungen an den 15. April 1989 verlöschen nicht. Umso bedeutender ist es, dass Liverpool an Jahrestagen wie dem 35. zusammensteht und der Opfer gedenkt.

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