Energiekrise: Haben die Grünen wirklich beim Atomausstieg getäuscht?

Bislang unbekannte Akten aus Wirtschafts- und Umweltministerium zeigen, wie umstritten intern der endgültige Ausstieg aus der Atomkraft war. Kritiker rügen Habecks Rolle und die von Beamten aus seiner Partei. Die Hintergründe.

energiekrise: haben die grünen wirklich beim atomausstieg getäuscht?

Energiekrise: Haben die Grünen wirklich beim Atomausstieg getäuscht?

Zuerst hat Robert Habeck gar keine Lust, der Welt Deutschland zu erklären. »Langweilt Sie das nicht, wenn Sie von Deutschland hören?«, fragt er die Moderatorin im Weltsaal des Auswärtigen Amtes. Dort sitzen an diesem Donnerstag Staatenvertreter beim Petersberger Klimadialog zusammen. Nach der zweiten Frage aber lobt der Vizekanzler sich und die eigene Klima- und Energiepolitik dann doch gern.

»Wir haben das alles in den letzten zwei Jahren unter Druck hinbekommen. Wir haben die Hälfte unserer Gasversorgung verloren«, wegen Putin. Also im Jahr 2022. »Aber wir haben so viele Gesetze geschrieben und die ganze Energietransformation wieder auf Kurs gebracht.«

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Das ist die Geschichte, wie Habeck sie erzählen will: Gasmangel überwunden, Gasspeicher gefüllt, Mangelwinter abgewehrt, niemand fror, keine Maschinen standen still, trotzdem wird so wenig Kohle verbrannt wie lange nicht, die CO₂-Emissionen sinken.

Aber während er in Ruhe das eigene Loblied singt, kommen alte Fragen wieder hoch:

    Selbst wenn alles einigermaßen gut ging – hätte es in Wirklichkeit besser laufen können?

    Und war die Regierung zu lange bereit, ein Risiko in Kauf zu nehmen, dass es schlechter läuft?

    Hätte sie sich früher dazu durchringen müssen, die drei damals noch verbliebenen Atomkraftwerke über den Winter in den Streckbetrieb schicken?

Das Magazin »Cicero« hat Unterlagen aus Habecks Klimaschutzministerium (BMWK) und dem für Reaktorsicherheit zuständigen Umweltministerium (BMUV) seiner grünen Parteifreundin Steffi Lemke herausgeklagt – und erhebt schwere Vorwürfe: »Strippenzieher der Grünen« hätten »manipuliert«, die Grünen hätten beim Atomausstieg »getäuscht«.

Das BMWK weist das zurück: »Die Darstellung ist verkürzt und ohne Kontext, und entsprechend sind die daraus gezogenen Schlüsse nicht zutreffend.«

Einen Teil der Dokumente hat das Magazin öffentlich gemacht. Sie stellen nur einen Ausschnitt der Gesamtkommunikation im BMWK und zwischen den Ministerien dar, aber bereits sie gewähren einen Einblick in die Art, wie eine politisch heikle Entscheidung nur über Umwege zustande kam.

Am Ende blieben die drei Kernkraftwerke länger als geplant am Netz, bis zum 15. April 2023. Dafür verschoben sie einen Teil der Stromproduktion nach hinten, um im potenziell kritischen Winter zur Verfügung zu stehen.

Aber bis es so weit kam, brauchte es längere politische Debatten, einige Monate vergingen – und zwischendurch sah es so aus, als komme es anders.

Wäre es nach Habeck und anderen wichtigen Grünen gegangen, wäre diese Entscheidung früh gefallen. Aber seine Partei tat sich schwer, manche wollten das aus Prinzip nicht. Das weiß, wer die Debatte damals verfolgt hat. Das machen auch die Dokumente noch einmal klar.

Ohne den russischen Einmarsch hätte in der Koalition niemand darüber geredet. Der Atomausstieg stand nicht in Frage. Dann aber überfiel Putins Armee die Ukraine und alles war anders.

Europa wollte Russland sanktionieren, nicht weiter Unsummen für Energie an den Kriegstreiber überweisen, und musste davon ausgehen, dass der die Lieferungen einstellen könnte. Auf einmal fiel auf: Deutschland war über die Jahre extrem abhängig geworden von Russland. Selbst manche Gasspeicher waren in russischer Hand. Ziemlich leer waren sie außerdem.

Die Sorge wuchs, dass Deutschland am Ende des Jahres ein harter Winter bevorstehen könnte. Würden Menschen zu Hause frieren? Industrie lahmliegen? Massenproteste ausbrechen?

Frage der Laufzeitverlängerung

In dieser Lage drängten sich Fragen auf: Kann eine Laufzeitverlängerung helfen, etwaige Energiemangelsituationen im Jahr 2022 und 2023 abzufedern? Und wenn, wäre sie überhaupt möglich?

Habeck erklärte öffentlich, er werde das pragmatisch prüfen.

Ein Austausch begann, innerhalb der Ministerien, von den Fachabteilungen nach oben. Zwischen den Ministerien. Zwischen Regierung und Unternehmen.

Schon sehr früh setzte sich Habecks Ministerium mit den Betreibern auseinander, das zeigen die veröffentlichten Dokumente und auch solche, die dem SPIEGEL vorliegen.

    Bereits am 24. Februar 2022 vormittags ging im Ministerium ein Schreiben des E.on-Chefs Leonhard Birnbaum ein. Eine E.on-Tochter betrieb das AKW Isar 2 bei München. In dem Brief erklärte Birnbaum die Probleme: kein Brennstoff mehr, Mitarbeiter fehlen, Prüfroutinen nicht vorgesehen, schnelle Gesetzesänderungen nötig, erheblicher finanzieller Aufwand, und noch mehr. »Unter normalen Umständen nicht zu adressierende Themen. Deswegen unsere klare Positionierung in der Öffentlichkeit.«

    In den nächsten Tagen lieferten auch RWE und EnBW ihre Einschätzungen, die im Kern deutlich machten: Möglich wäre eine Laufzeitverlängerung wohl, gewünscht war es von ihnen nicht, und wenn, dann müsste die Politik reichlich Verantwortung übernehmen.

    Am 1. März erstellen zwei Fachleute aus dem Umweltministerium einen Vermerk, in dem sie auf vier Seiten »mit der nuklearen Sicherheit verträgliche Szenarien« beschreiben: »endgültige Abschaltung«, »kurzzeitiger Weiterbetrieb der Kernkraftwerke (Monate)« und »langzeitiger Weiterbetrieb der Kernkraftwerke (Jahre)«.

    In der Folge beschrieben sie notwendige Voraussetzungen und Hürden. Für den Streckbetrieb steht da nicht viel: »Die Betreiber der deutschen Kernkraftwerke werden gebeten zu prüfen, inwieweit ein Weiterbetrieb mit vorhandenen Brennelementen unter Einhaltung der notwendigen Sicherheit, möglich wäre«. Für den mehrjährigen Betrieb etwa: Die routinemäßigen Sicherheitsüberprüfungen, eigentlich 2019 fällig, seien wegen des Atomausstiegs ausgesetzt worden. Sie wären also überfällig, würden die AKW weiterlaufen.

Gewisse Täuschungsabsicht

Es ist, anders als der Titel nahelegt, keine Beschreibung, wie es geht. Eher die Beschreibung von Aufgaben und Problemen. Offen bleibt, ob diese Probleme lösbar wären. Der Eindruck ist aber eher: Sie können es sein, wenn man das politisch will.

Was nun bemerkenswert ist: Es existiert eine zweite Fassung dieses Vermerks, nach Darstellung des »Cicero« umgeschrieben vom zuständigen Abteilungsleiter. In dieser Fassung steht oben: »Die Abteilung (…) kommt zu dem Ergebnis, dass die Verlängerung der Laufzeit (…) sicherheitstechnisch nicht vertretbar ist.«

An dieser Stelle drängt sich der Eindruck auf: Die Schlussfolgerung hatten bestimmte Akteure schon vor der Bewertung parat. Sie wollten die Laufzeiten einfach nicht verlängern.

Ist es die Aufgabe eines Abteilungsleiters, so eine vereindeutigende Schlussfolgerung vorzunehmen, anstatt die Szenarien nüchtern weiterzugeben? Je nachdem, wie man dazu steht, kann man auf Grundlage der vorliegenden Dokumente eine gewisse Täuschungsabsicht erkennen.

Risiken bekannt, Chancen auch

Wie das BMUV dazu steht, teilt es auf Anfrage mit: »Es ist Aufgabe der Abteilungsleitung, diese Bewertung zusammenzuführen und umfassend die sicherheitstechnischen und sicherheitsrechtlichen Aspekte der Hausleitung mitzuteilen und zu bewerten. Dieser Entscheidungsprozess läuft dabei transparent ab.«

Eine zweite Frage, die sich aufdrängt, lautet: Wurde jemand getäuscht?

Im so genannten »Prüfvermerk«, dem ersten zentralen Dokument, in dem BMWK und BMUV am 7. März ihre Haltung festschrieben, finden die Sicherheitsbedenken Eingang. Sie werden aber milde formuliert. Es geht daneben ausführlich um die Frage, wie lange die AKW dann laufen müssten, um sich zu rechnen, ob das notwendig wäre, ob es energiewirtschaftlich helfen würde.

Fazit: »Im Ergebnis einer Abwägung von Nutzen und Risiken ist eine Laufzeitverlängerung der drei noch bestehenden Atomkraftwerke auch angesichts der aktuellen Gaskrise nicht zu empfehlen.«

In diesem Dokument wie in Gesprächen in jener Zeit wurde deutlich, dass den relevanten politischen Akteuren die Lage einigermaßen klar war. Die Risiken waren bekannt, die Chancen auch.

Neuer Stresstest

So verhält es sich auch mit einem Vermerk aus der Fachebene des BMWK vom 3. März 2022. Darin wird der Streckbetrieb bis zum 31. März 2023 diskutiert, um im Sommer weniger, im Winter und Frühjahr mehr Atomstrom zu haben.

Da heißt es: »Eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke bis zum 31.3. kann helfen, diese Situation zu entschärfen.« Konkret geht es um ein Szenario, in dem im Winter eine Hochdrucklage klirrende Kälte und wenig Wind bringt und so dafür sorgt, dass sehr viel Gas verfeuert werden muss – von dem damals niemand wusste, ob es verfügbar sein würde. Eine Laufzeitverlängerung sollte deshalb »als Vorsorgemaßnahme geprüft« werden.

Dieser Vermerk, so berichtet der »Cicero«, sei Habecks damaligem Energiestaatssekretär Patrick Graichen vorgelegt worden, habe Habeck aber nie erreicht. Wusste er also nichts davon? Und wenn, kannte er dann auch die Information nicht, die in jenen Wochen doch breit diskutiert wurde?

Noch einmal zum gemeinsamen Papier von BMWK und BMUV vom 7. März. Darin steht: »Der Mehrwert aus energiewirtschaftlicher Sicht läge vielmehr darin, im Winter 2022/2023 eine zusätzliche Leistung im System zu haben, um zur Versorgungssicherheit bei Stromnachfragespitzen beizutragen.« Das, im Kern, ist genau die Information aus jenem Vermerk.

Nur dass der Vermerk gewisse offene Fragen anmeldet, was die Möglichkeit angeht, das Ganze über Kohlekraftwerke aus der Reserve notfalls abzufangen.

Und: »Mit Blick auf die aktuelle Gaskrise kann die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke also nur einen begrenzten Beitrag leisten.« Einen geringen Beitrag, nicht: keinen. Geprüft, wie im Vermerk des Fachmanns gefordert, wurde ohnehin.

Aus dem Ministerium kommt der Verweis, dass sich über den Sommer die Lage zugespitzt und damit auch die Kalkulation gewandelt habe. Französische AKW hatten reihenweise Probleme; Putin drehte Deutschland das Gas ab; überdies veränderte sich die Position mancher Betreiber, es schien nun doch möglich, im Streckbetrieb netto etwas mehr Strom zu erzeugen.

So habe man dann nach dem Stresstest fürs Energiesystem einen neuen Stresstest erstellt, Habeck sprach sich im Sommer für die Überführung der AKW in eine Einsatzreserve aus – und für einen Streckbetrieb, sofern nötig.

Das hieße: Die Wirklichkeit hat sich durchgesetzt, die politischen Quertreibereien waren am Ende nicht entscheidend. Sie machten allerdings den Prozess streckenweise quälend.

Scholz greift ein

Am Ende musste sogar der Kanzler demonstrativ per Machtwort den Streckbetrieb durchsetzen – nach allem, was man weiß, war das vor allem politisch notwendige Show. Für Habeck und einige Grüne keine Demütigung, sondern in ihrem Sinne, um den Rest der Partei nicht gegen sich aufzubringen. Aber dennoch: ungewöhnlich.

Die Dokumente, soweit sie öffentlich zugänglich sind, lassen damit einmal mehr erkennen, wie groß die Widerstände innerhalb der Grünen gegen eine Laufzeitverlängerung waren. Noch im Sommer feierten sich wichtige Grüne aus Fraktion und Kabinett dafür, die Verlängerung verhindert zu haben.

Die Dokumente machen auch deutlich, wie schon weit unterhalb der Ministerebene politische Haltungen die Arbeit prägen. Nicht in allen Fällen lässt sich detailliert nachvollziehen, ob Beamte damit ihre Kompetenzen überschritten haben. In einigen Fällen drängt sich der Eindruck auf.

Die Frage ist, ob sich Lemke und Habeck unzureichend informiert oder übergangen fühlen und entsprechende Konsequenzen ziehen.

Am Ende liefen die Atomkraftwerke im Streckbetrieb weiter. Die Gasspeicher waren nach intensiven Bemühungen auch des BMWK unerwartet voll, ein Gasmangel kein Problem, die Strompreise sinken. Nicht einmal so viele Kohlereserven wie befürchtet wurden gebraucht.

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