Irakischer Flüchtling in Berlin erschossen: Verhindert zu großes Vertrauen in die Polizei die Aufklärung?

irakischer flüchtling in berlin erschossen: verhindert zu großes vertrauen in die polizei die aufklärung?

Zaman Gatea, die junge Witwe, zusammen mit ihrer Anwältin Beate Böhler

Das Foto auf dem Handy von Zaman Gatea zeigt einen Mann, der stolz in die Kamera lächelt. Auf dem Arm hält er seinen kleinen Sohn. Der Mann ist Zaman Gateas Ehemann Hussam Fadl, der Junge ihr jüngstes Kind. Aufgenommen wurde das Bild in Erbil. Es muss kurz vor der Flucht der Familie aus dem Irak entstanden sein.

Zaman Gatea drückt das Handy einen Moment an ihre Brust und schluckt die Tränen hinunter. Dann wischt sie auf dem Display entschlossen nach links, zu einer anderen Aufnahme. Wieder ist ihr Mann zu sehen. Er hockt schräg hinter den zwei Töchtern und dem kleinen Sohn im Gras. Zaman Gatea hat das Foto gemacht, als die fünfköpfige Familie schon die Heimat verlassen hatte und in der Türkei angekommen war.

Dann folgt das nächste Foto: Hussam Fadl steht in einer Reihe mit anderen Männern, sie tragen dunkle Uniformen und Baretts. „Die Uniform hat er sich selbst genäht“, erzählt Zaman Gatea ein wenig stolz. Hussam Fadl war im Irak Polizist. Als er von Milizen bedroht wurde, machte sich die Familie auf den Weg, so berichtet es die 33-Jährige über die Gründe ihrer Flucht.

Ihr Mann Hussam hatte nur ein Ziel: Deutschland. „Er war begeistert von diesem Land, schon als Fünfjähriger hatte er ein wenig die Sprache gelernt und die deutsche Fußballnationalmannschaft angefeuert. Er wollte unbedingt nach Berlin“, sagt Zaman Gatea, die bis zu ihrer Flucht nie aus Bagdad herausgekommen war.

Am 4. Juni 2016 kam die Familie in Berlin an. Doch noch nicht einmal drei Monate später war Hussam Fadl tot. Den jungen Polizisten aus dem Irak hatte eine Kugel getroffen, die aus der Waffe eines Polizisten aus Deutschland stammte. Sein Tod stand am Ende einer Reihe von tragischen Ereignissen, die für seine Witwe und ihre Anwälte bis heute nicht restlos aufgeklärt sind.

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Zaman Gatea zum Beginn des Prozesses, bei dem es um Schmerzensgeld nach dem tödlichen Polizeieinsatz im Jahr 2016 ging.

Zaman Gatea hat weiche, fast noch kindliche Gesichtszüge. Zu den Jeans trägt sie ein dunkles Oberteil und ein schwarzes Kopftuch. Sie hat sich bereiterklärt, in der Kanzlei ihrer Anwältin Beate Böhler über den Tag vor fast acht Jahren zu sprechen, an dem ihr Mann starb. Über die Ermittlungen gegen beteiligte Polizisten. Über die bisher ausgebliebene strafrechtliche Aufarbeitung des Vorfalls, der sie zur Witwe gemacht hat und zur alleinerziehenden Mutter von drei Kindern: Ihr Sohn ist jetzt zehn, die Töchter 14 und 15 Jahre alt.

Ihren Mann Hussam lernte Zaman Gatea erst bei der Hochzeit kennen. Im Irak sei es Tradition, dass die Familie die Ehe arrangiere, erzählt sie. Aus der Beziehung sei Liebe geworden. Ihren Mann beschreibt sie als liebevoll und sehr empathisch. Immer habe er den Armen Geld gegeben.

In Berlin kam die Familie in der Flüchtlingsunterkunft in der Kruppstraße in Moabit unter, einer auf einem Sportplatz aufgebauten Traglufthalle. Dort bildeten Trennwände Kabinen, die nach oben offen waren und den Familien eine Privatsphäre vorgaukeln sollte, die es nicht gab. Bis zu 300 Menschen lebten gemeinsam in der Massenunterkunft.

Am 27. September 2016 kam es dort zu einem Polizeieinsatz, der schicksalhafter kaum sein könnte. Zaman Gatea erinnert sich, dass die Familie zu Abend gegessen hatte. Danach traf sich ihr Mann vor der Halle mit Bekannten. Es war ein lauer Abend, und die Kinder baten, draußen noch ein wenig mit den anderen Mädchen und Jungen spielen zu dürfen. „Ich erlaubte es ihnen“, sagt Zaman Gatea.

Sie machte Tee, als eine Frau aus Syrien aufgeregt zu ihr kam und sagte, ein Bewohner der Unterkunft sei mit ihrer sechsjährigen Tochter verschwunden. Zaman Gatea dachte, das sei unmöglich. Weil ihre Kinder doch gerade erst hinausgegangen waren. Sofort schaute sie nach, fand bei den spielenden Mädchen und Jungen nur ihre älteste Tochter und den kleinen Sohn. Die Sechsjährige war verschwunden. Von Angst getrieben informierte sie ihren Mann und bat schließlich einen Security-Mitarbeiter, die Polizei zu rufen.

Andere Bewohner brachten die Kleine schließlich zur Mutter zurück. Im Büro der Heimleiterin sollte sie warten und sich beruhigen. Dann hörte sie Schüsse. Zaman Gatea weiß noch, dass sie zum Ausgang lief – und zurückgehalten wurde. Sie sah ihren Mann vor der Halle auf dem Boden liegen, durfte aber nicht zu ihm.

Was war geschehen? Der Bewohner, der sich an der sechsjährigen Tochter vergriffen hatte und der dafür später verurteilt werden sollte, war von Polizisten festgenommen worden. In Handschellen saß der aus Pakistan stammende Mann in einem Mannschaftswagen, als Hussam Fadl, der Vater des Kindes, aufgebracht auf ihn zustürmte. Vier Schüsse fielen. Ein Projektil traf Fadl in den Rücken. Es war tödlich.

Von Amts wegen wurden Ermittlungen gegen drei Polizisten eingeleitet, darunter auch den mutmaßlichen Todesschützen. Doch die Beamten beteuerten, dass Fadl ein Messer in der Hand gehabt habe. Die Staatsanwaltschaft ging von Notwehr und Nothilfe aus und stellte das Verfahren „mangels hinreichenden Tatverdachts“ zweimal ein.

Doch hatte der 29-Jährige wirklich ein Messer in der Hand, als er auf den Peiniger seiner Tochter losging? „Ich gehe davon aus, dass kein Messer im Spiel war“, sagt Beate Böhler, die Anwältin der Witwe. Sie ist seit 2017 mit dem Fall befasst. Damals war Zaman Gatea juristisch dagegen vorgegangen, dass das Verfahren gegen die Polizisten eingestellt wurde. Sie gab nicht auf, zog schließlich bis vor den Berliner Verfassungsgerichtshof – mit Erfolg. Erneut ist jetzt das Kammergericht am Zug. „Nun muss entschieden werden, ob endlich Anklage erhoben wird oder nicht“, sagt die Anwältin.

Beate Böhler betreute bereits viele Betroffene mutmaßlicher Polizeigewalt. Im Fall Fadl ist sie zuversichtlich, dass es auch Jahre nach dem tödlichen Schuss noch zu einem Strafverfahren gegen die beteiligten Polizisten kommt. Man habe nun ein „richtig starkes Beweismittel“ in den Händen, sagt sie.

Sie meint damit die gerichtliche Aussage eines Polizeibeamten im Zivilverfahren, mit dem Zaman Gatea für den Tod ihres Ehemannes Schmerzensgeld und Schadensersatz vom Land Berlin gefordert hatte. Der Polizist war bei dem Einsatz in der Flüchtlingsunterkunft dabei, bei dem Hussam Fadl starb.

In dem Prozess vor einer Zivilkammer des Berliner Landgerichts hatte der 36-Jährige vor genau zwei Wochen ausgesagt, dass der mutmaßliche Sexualstraftäter schon im Polizeiwagen gesessen hatte, als ein schreiender Mann auf ihn zugelaufen sei. Der Zeuge gab an, sich schon auf eine körperliche Auseinandersetzung mit diesem Mann vorbereitet zu haben. Dann aber fielen Schüsse. „Ich war sauer deswegen“, sagte der Beamte.

Warnende Rufe seiner Kollegen, dass der sprintende Mann mit einem Messer bewaffnet sei, habe er nicht gehört. Auch gesehen habe er keine Stichwaffe. „Dann hätte ich mit Sicherheit auch meine Waffe gezogen.“ Als Hussam Fadl zusammengebrochen war, atmete er noch, erinnerte sich der Zeuge. Ein Kollege habe ihn gefragt, wo das Messer sei. Der Zeuge schüttelte bei der Erinnerung leicht den Kopf. Er habe den Verletzten abgetastet, auch unter den Mann geschaut. „Da war kein Messer“, sagte er.

Die Klage der Witwe auf Schmerzensgeld und Schadensersatz wurde eine Woche nach der Aussage des Beamten und weiterer Zeugen überraschend abgewiesen. Beate Böhler muss die Begründung noch genau prüfen, dann wird sie voraussichtlich in Berufung gehen.

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Die Klage der Witwe auf Schmerzensgeld und Schadensersatz wurde eine Woche nach der Aussage des Beamten und weiterer Zeugen abgewiesen.

Doch das Zivilverfahren hat schon jetzt etwas Gutes gebracht. Die klare Aussage des Polizisten vor Gericht, die nun in einem Strafverfahren als Beweismittel verwendet werden könne, sagt Böhler. Selbst dann, wenn der Beamte beim Prozess nicht mehr greifbar sein sollte. Die Anwältin erklärt, dass damit Aussagen seiner Kollegen aus dem Ermittlungsverfahren widerlegt worden seien.

So will einer der Beamten, der auf Fadl geschossen hatte, zu dem sterbenden Mann gelaufen sein und das Messer weggekickt haben. Die Stichwaffe sei dann von einem angeblich nicht mehr zu ermittelnden Beamten ausgerechnet dem Polizisten gegeben worden, der den tödlichen Schuss auf Fadl abgefeuert hatte.

Dieser Beamte wiederum will das Messer nicht etwa in eine Beweismitteltüte, sondern in einen Briefumschlag gesteckt haben. „Kein einziger Fingerabdruck und auch keine DNA-Spur wurden auf dem Messer gefunden“, sagt die Anwältin. Sie nennt es eine Farce, „uns so eine Geschichte aufzutischen“.

Beate Böhler geht nicht davon aus, dass die Polizisten damals „todeswütig“ gewesen seien. „Aus meiner Sicht war es eine Fehleinschätzung, die aber vermeidbar gewesen wäre.“ Sie glaube auch, dass die beteiligten Polizisten die Tat mit ihren Folgen – auch für sich selbst – bereuten. „Aber es muss in diesem Fall in einem Strafprozess einen deutlichen Schuldspruch geben“, sagt sie.

Im Jahr, als Hussam Fadl starb, wurden nach einer Statistik der Deutschen Hochschule der Polizei in der Bundesrepublik insgesamt elf Menschen durch Polizeikugeln getötet und 28 verletzt. Die Kriminologin und Juristin Laila Abdul-Rahman von der Goethe-Universität Frankfurt am Main hat mit Kollegen im vorigen Jahr eine Studie zu übermäßiger Polizeigewalt und deren Aufarbeitung veröffentlicht.

Die Kriminologin berichtet, der Schusswaffengebrauch sei eine Ausnahmebefugnis der Polizei, das allerletzte Mittel. Er komme in Deutschland nicht so häufig wie in anderen Ländern vor. „Allerdings haben wir mit der Aufarbeitung solcher Fälle ein Problem“, sagt sie. Bei Ermittlungen gegen Polizisten würde nur in zwei Prozent dieser Fälle Anklage erhoben. Das sei extrem wenig.

Warum das so ist, erklärt Laila Abdul-Rahman so: In Deutschland sei das Vertrauen in die Polizei sehr hoch. Dadurch hätten Betroffene von übermäßiger Gewaltanwendung häufig ein Glaubwürdigkeitsproblem. „Die Beweislage ist oft schwierig, Aussage steht gegen Aussage. Polizeibeamte sagen nicht gerne gegen ihre Kollegen aus“, berichtet die Kriminologin.

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Demonstration gegen Polizeigewalt, gegen Rassismus und für offene Grenzen am Görlitzer Park in Berlin am 15. März 2024.

Zudem gebe es ein „institutionelles Näheverhältnis“ zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei, das in solchen Fällen problematisch sei. Polizisten würden im Auftrag der Staatsanwaltschaft gegen Polizisten ermitteln. Die Studie habe gezeigt, dass die Staatsanwaltschaft dazu neige, der polizeilichen Version zu glauben. Sie hinterfrage sie nicht kritisch genug. Deswegen gebe es auch schon seit langer Zeit die Forderung, solche Fälle von unabhängigen Stellen ermitteln zu lassen.

Auch Beate Böhler sieht das so. Sie erzählt, dass die Staatsanwaltschaft im Fall Fadl der Pflicht, nachzuermitteln, nur halbherzig nachgekommen sei. Seit 25 Jahren schon fordere sie, dass eine unabhängige Kommission Polizeigewalt untersucht. „So etwas darf doch nicht in den Händen der Polizei liegen.“

Zaman Gatea will nur eines: endlich Gerechtigkeit. Auch für ihre Kinder, die noch immer unter dem gewaltsamen Verlust ihres Vaters leiden würden. Sie erzählt, dass ihr jüngstes Kind lange Zeit nicht realisiert habe, dass sein Papa tot sei. So weigerte sich ihr Sohn in der Kita, mit ihr zu gehen. Plötzlich wollte er nur noch von seinem Vater abgeholt werden. Die damals sechsjährige Tochter ist heute 14 Jahre alt und schwer depressiv. „Sie gibt sich die Schuld am Tod ihres Vaters“, erzählt Zaman Gatea.

Wie alle Mütter hat die junge Witwe Träume für die Zukunft ihrer Kinder. Sie wünscht sich, dass sie glücklich werden in Berlin, dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Vielleicht, so sagt es Zaman Gatea mit einem leichten Lächeln, werde ihre Älteste einmal Zahnärztin und die jüngere Tochter Anwältin. Ihren Sohn könne sie sich gut als Piloten vorstellen.

Sie selbst denke jeden Tag an ihren Mann, erzählt sie. Besonders der Tag vor seinem Tod sei ihr im Gedächtnis geblieben. „Ich habe eine schöne Nachricht, eine Überraschung“, habe Hussam zu ihr gesagt. Schon bald würde er das Geheimnis lüften, versprach er lächelnd.

Erst nach seinem Tod erfuhr Zaman Gatea, wie nah ihre Familie dem ersehnten Glück in Berlin gekommen war. Hussam Fadl hatte eine Wohnung gefunden. Der Schlüssel für die eigenen vier Wände war ihm bereits ausgehändigt worden. Er wurde nach dem tödlichen Schuss in seinen Sachen gefunden.

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