Die Angst der Ampel vor dem nächsten Aufschlag, „der die Gesellschaft spaltet“

Eine Regierungskommission legt Ideen für eine weitreichende Liberalisierung von Abtreibungen vor – dazu zählt, Schwangerschaftsabbrüche zur Kassenleistung zu machen. Vor allem die Grünen sind für eine Reform. Die zuständigen Minister treiben aber Sorgen um, das Thema könnte „die politische Mitte“ spalten.

Er hoffe sehr, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Kraft habe, die Koalition davon abzubringen, einen weiteren gesellschaftlichen Großkonflikt in dieses Land hineinzutragen, hatte CDU-Chef Friedrich Merz vergangene Woche gesagt. Doch wie es aussieht, wird dies kaum zu vermeiden sein: Denn nach dem Beschluss des umstrittenen Selbstbestimmungsgesetzes, mit dem sich Männer per Sprechakt zu Frauen erklären können und umgekehrt, kommt jetzt auch die bisherige Abtreibungsgesetzgebung auf den Prüfstand.

Die von der Regierung eingesetzte Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin stellte am Montag ihren Abschlussbericht vor, in dem eine weitgehende Liberalisierung des Abtreibungsrechts vorgeschlagen wird. Der vor 30 Jahren gefundene Kompromiss zum Abtreibungsparagrafen 218, wonach eine Abtreibung in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft rechtswidrig ist, nach einer Pflichtberatung gemäß Paragraf 218a aber straffrei bleibt, will die Kommission aufkündigen. Stattdessen sollen Abbrüche in der Frühschwangerschaft grundsätzlich erlaubt sein.

Mehr noch: Auch in der mittleren Phase der Schwangerschaft bis zur potenziellen Lebensfähigkeit des Fötus können sich die von der Regierung berufenen neun Expertinnen rechtmäßige Abtreibungen vorstellen – und zwar nicht nur nach medizinischer oder kriminologischer Indikation. Hier habe der Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum, führten sie aus: „Je kürzer die Schwangerschaft besteht, desto eher ist ein Schwangerschaftsabbruch zulässig, und je fortgeschrittener das Gestationsalter (Alter des ungeborenen Kinds, d. Red.) ist, desto gewichtiger sind die Belange des Ungeborenen“, heißt es in den Empfehlungen.

Im grundrechtlichen Güterkonflikt zwischen dem Lebensrecht des Ungeborenen und den Grundrechten der Schwangeren geben die Expertinnen vor allem in der Frühschwangerschaft eindeutig der Mutter den Vorzug. „Wegen der existenziellen Abhängigkeit des Ungeborenen vom Körper der Schwangeren spricht viel dafür, dass das Lebensrecht pränatal mit geringerem Schutz zum Tragen kommt als für den geborenen Menschen“, heißt es in der Expertise. „Ob dem Embryo/Fetus der Schutz der Menschenwürdegarantie zugutekommt, ist fraglich.“ Bei einem Konzept des pränatal gestuften oder kontinuierlich anwachsenden Lebensschutzes nehme die Schutzintensität des Lebensrechts dann mit fortschreitender Entwicklung des Fötus zu. In der Spätphase der Schwangerschaft müsse eine Abtreibung bis auf medizinisch begründete Ausnahmefälle weiterhin verboten sein.

Damit stellt sich die Kommission in einem wesentlichen Punkt gegen die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, das 1975 und 1993 in zwei Grundsatzurteilen festgestellt hatte, dass ungeborenem menschlichen Leben von Beginn an die gleiche Schutzwürdigkeit und Menschenwürde zukämen wie dem geborenen Leben. Die Überzeugungskraft und Konsistenz dieser beiden Entscheidungen sei „überschaubar“, sagte Frauke Brosius-Gersdorf, Rechtswissenschaftlerin an der Universität Potsdam. „Diese Entscheidungen würden so heute nicht mehr getroffen werden.“

Die derzeit verpflichtende Beratung der Schwangeren bewertete die Kommission gleichwohl positiv, sie könne auch bei der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs beibehalten werden. „Die Pflicht zur Beratung wird oft als Last, danach aber oft als Gewinn empfunden“, sagte die Konstanzer Strafrechtsprofessorin Liane Wörner. Die Kommission sprach sich zudem dafür aus, den Schwangerschaftsabbruch bei einer Liberalisierung zur Kassenleistung zu machen und die Versorgungslage zu verbessern.

Eine Neuregelung empfahl die Expertenkommission für die bisher verbotene Eizellspende. Neben Luxemburg sei Deutschland das einzige Land, das diese Spende nicht erlaubt. Das vor 30 Jahren im Embryonenschutzgesetz verankerte Verbot sei im Lichte der jüngsten Erkenntnisse nicht mehr zeitgemäß, sagte die Medizinethikerin Claudia Wiesemann von der Universität Göttingen. Das Argument der „gespaltenen Mutterschaft“ sei keine so große Hürde für das Kindeswohl, dass ein Verbot sich halten ließe.

Skeptischer ist die Kommission bei der Zulassung der Leihmutterschaft. Das Verbot könne nach wie vor begründet werden, sei aber nicht zwingend geboten, so Wiesemann. Bei einer engen Bindung zwischen Leihmutter und Wunschelternpaar oder einer Vereinbarung, die eine langfristige Beziehung zwischen den Parteien begründe, könne eine Zulassung erwogen werden.

Lauterbach sagt, „was wir nicht brauchen“

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), Justizminister Marco Buschmann (FDP) und Familienministerin Lisa Paus (Grüne), die die Expertise in Auftrag gegeben hatten, bedankten sich einhellig für die „hervorragende Arbeit“ der Kommission. Zugleich waren sie erkennbar bemüht, die bereits laufende Diskussion über die Vorschläge herunterzukochen.

die angst der ampel vor dem nächsten aufschlag, „der die gesellschaft spaltet“

V. l.: Minister Marco Buschmann (FDP, Justiz), Karl Lauterbach (SPD, Gesundheit) und Lisa Paus (Grüne, Familie) picture alliance/dpa

„Was wir nicht brauchen, ist eine weitere Debatte, die die Gesellschaft spaltet“, sagte Lauterbach. „Ich appelliere an alle, sachlich zu diskutieren und nicht in ideologische Debatten abzurutschen.“ Lisa Paus, die schon in der Vergangenheit nie einen Hehl daraus gemacht hatte, dass sie Abtreibung aus dem Strafrecht herausholen will, sprach sich betont zurückhaltend für einen „offenen und faktenbasierten Diskurs“ aus.

Wie groß die Sorge der Ampel vor der nächsten gesellschaftspolitischen Großbaustelle ist, zeigte der Hinweis von Buschmann auf emotional geführte Abtreibungsdebatten in den USA und in Polen: „Was wir nicht brauchen, sind Debatten, die die politische Mitte spalten und die Ränder stärken.“ Er deutete an, dass das Parlament bei dieser zentralen ethischen Frage jenseits von Partei- und Fraktionslinien entscheiden könnte. „Entscheidungen über Leben und Tod sollten wir nicht nach Parteienlogik führen.“

Dass es hier innerhalb der Ampel keine Einigkeit gibt, zeigten erste Reaktionen nach Vorlage des Berichts. „Die grüne Position ist bekannt: Wir wollen das Selbstbestimmungsrecht von Frauen stärken und haben uns schon lange für eine differenzierte Regelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuches starkgemacht“, teilten die Grünen-Politikerinnen Maria Klein-Schmeink und Ulle Schauws mit.

Die FDP-Rechtspolitikerin Katrin Henning-Plahr sprach sich dagegen aus, den seit 30 Jahren geltenden Abtreibungskompromiss aufzukündigen. „Die derzeitige Regelung des Abtreibungsrechts ist Ergebnis einer langen gesellschaftlichen Diskussion. Sie bringt das Selbstbestimmungsrecht der Frau und den Schutz des ungeborenen Lebens angemessen in Ausgleich“, so Helling-Plahr. Die vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigten gesetzgeberischen Gestaltungsspielräume blieben eng. „Das Rechtsgut Leben ist heute richtigerweise nicht weniger wert.“

Eindeutigen Handlungsbedarf sieht die Ampel hingegen beim verbesserten Zugang zu Abtreibungen. Vor allem in Bayern müssen Frauen oft unzumutbar lange Wege zurücklegen, um entsprechende Kliniken und Arztpraxen zu erreichen, wie die von Lauterbach in der vergangenen Woche vorgelegte „Elsa“-Studie ergeben hatte. „Daran müssen wir unabhängig von der Frage der Legalisierung etwas ändern“, sagte Lauterbach. Er zeigte sich auch offen für die Legalisierung der Eizellspende.

Aus der Opposition kam hingegen scharfe Kritik. „Wenn unser Staat sagt, dass das Beenden menschlichen Lebens kein grundsätzliches Unrecht mehr ist, dann kommt das einem Dammbruch unseres Werteverständnisses gleich“, sagte die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Dorothee Bär (CSU). Die Warnung der Minister vor einer spalterischen Debatte spielte Bär zurück: „Die Ampel bohrt den längst befriedeten Kulturkampf ohne Not wieder auf und riskiert damit eine gefährliche Spaltung.“

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