Das Heidelberger Streichquartettfest

das heidelberger streichquartettfest

Ihren Namen wählten sie nach der Jugendliebe von Johannes Brahms, Agathe von Siebold: das französische Agate-Quartett.

Auf den Straßen Heidelbergs wird gegen rechts demonstriert, und im Saal der Alten Pädagogischen Hochschule, ein Ort des Heidelberger Streichquartettfests, eröffnet Oliver Wille seinen Workshop mit einer dringlichen Mahnung: Hochkultur auf internationalem Niveau fortzusetzen. Wille ist Geiger im Kuss Quartett, Professor für Streicherkammermusik und Vizerektor der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover sowie ein begnadeter Kunstvermittler. Denn darum ging es an diesem dicht gedrängten Wochenende zuerst: um die Kunst der drei Streichquartette von Johannes Brahms, als Auftakt für die Wiedergabe seines gesamten Kammermusikwerks im Festival Heidelberger Frühling im März.

Wer schon immer einmal wissen wollte, warum Arnold Schönberg Brahms als den „fortschrittlichen“ bezeichnet hat und was es mit der „entwickelnden Variation“ auf sich hat, wird Wille ewig dankbar sein für seine mikroskopische Durchleuchtung der Partituren von op. 67 und op. 51,2: dem a-Moll-Quartett, bei dem sich so gut wie jeder Ton auf eine Urzelle zurückführen lässt – das Novo Quartett aus Dänemark machte die Probe aufs Exempel –, und diese zugleich das Lebensmotto von Brahms ausgibt: f-a-e, „frei, aber einsam“.

Einblicke wie diese in die innersten kompositorischen Zusammenhänge lassen das Publikum nicht nur an den Gedankengängen des Komponisten teilhaben, sie verändern auch die Wahrnehmung. Wer um die Ableitungen in diesem Werk weiß, erfährt im hörenden Mitverfolgen ein intellektuelles Vergnügen über das emotionale hinaus. In einer Festivallandschaft, die meist werbewirksam auf „Genuss“ oder besser: Unterhaltung des Publikums ausgerichtet ist, hat das Heidelberger Fest damit ein Alleinstellungsmerkmal.

Kontraste im Überfluss

„Lieben Sie Brahms?“ Diese Frage muss man in Heidelberg nicht stellen. In den Konzerten und Workshops versammelt sich eine Bastion der Hochkultur, die Kammermusik noch aus der eigenen Praxis kennt: Laienmusiker, die sich regelmäßig zum Quartettspiel treffen und sich darüber in den Konzertpausen lebhaft austauschen. Früher, noch zu Brahms’ Lebzeiten, war dies normal, erzählt die englische Musikwissenschaftlerin Natasha Loges, seit Kurzem Professorin an der Musikhochschule Freiburg, in ihrem Vortrag. Da sei der Übergang zwischen Profi- und Laienmusikern noch fließend gewesen. Daher auch die Widmung der beiden Quartette op. 51 an den Brahmsfreund und Arzt Theodor Billroth, der Pianist und Bratscher war. Aber heute getraut sich kaum ein Liebhaber mehr, mit Profis zusammen aufzutreten. Deshalb blieb Loges angekündigtes Experiment „Brahms: Zuhause und auf der Konzertbühne“ leider Theorie.

Allerdings ist die Wissbegierde des Aktivpublikums so groß, dass es schon morgens um zehn den Saal füllt und unter Anleitung der vitalen Referentin zusammen mit dem Quiroga Quartett den Berg des c-Moll-Quartetts op. 51,1 erklimmt – Musik wie ein Roman, den man in einem Zug lesen muss, so Loges. Für die spanischen Musiker liest sich Brahms indessen wie die deutsche Sprache: verworren lange Sätze und das Verb am Ende. Aber, wie Oliver Wille schon sagte: Wer lang komponieren will, braucht Kontraste, und diese gibt es in Brahms’ Erstling im Überfluss.

Nicht nur Romane erkennt das französische Agate-Quartett bei Brahms, das sich nach der Jugendliebe des Komponisten, Agathe von Siebold, nennt und gerade alle drei Quartette auf CD aufgenommen hat. Die ganze Welt finden die vier polyglotten Herren in ihnen widergespiegelt, sowohl literarisch als auch musikalisch in der Dichte und im harmonischen Reichtum und sogar musikhistorisch in den vielen Rückgriffen auf alte, klassische und romantische Musik. Wie originell Brahms damit bei allem Beziehungsreichtum in seinem dritten Quartett op. 67 umgeht, demonstrierte das Agate-Quartett mit kammermusikalischer Gelöstheit und einer mutigen Umdeutung des dritten Satzes in ein Solokonzert für Bratsche und reduzierte Orchesterbegleitung.

Musikalische Selbstverständlichkeit

Die Viola hatte sich in Béla Bartóks sechstem Streichquartett ohnehin als geheime Jubilarin entpuppt. Und auch im jüngsten Ensemble, dem erst 2020 in Prag gegründeten und noch im Studium befindlichen Ševčík Quartett, spielte sie bei Bedřich Smetanas Quartett „Aus meinem Leben“ sowie dem ersten Streichquartett des hierzulande unbekannten Komponisten Vladimir Sommer die Hauptrolle: ein hervorragend gearbeitetes, emotional eindrückliches Werk von 1958. Das Ensemble unter der Doppelführung der Primaria Pavla Tesafová und des Cellisten Adam Klánský legte mit diesen Werken eine musikalische Selbstverständlichkeit an den Tag, die sich aus einer großen Tradition herleitet, hier lebt die Musik als Muttersprache weiter. Deshalb imponierte es auch in dem sonst weiträumig gemiedenen Quartett op. 41,2 von Robert Schumann, mit dessen Vertracktheiten es bewundernswert zurechtkam.

Neben Schumann stand Brahms vor allem Joseph Haydn mit seinem Zyklus op. 20 zur Seite, an Witz, Kapriolen, Verblüffung bis heute kaum zu übertreffen. Aber auch in der interpretatorischen Herausforderung. Das Arete Quartett aus Korea spaltete mit seiner Wiedergabe des d-Moll-Quartetts die Meinungen in zwei Lager: Begeisterung über die totale Zurücknahme der modernen Instrumente in den Consortklang der historischen Aufführungspraxis, Ablehnung eines unausgegorenen, viel zu leisen Klangbilds. Das Novo Quartett gab dem d-Moll-Werk mit einer fein abgestimmten Mischung aus Schönklang, Virtuosität und Melancholie eine noble Klanghülle, während das Quiroga Quartett im wahrhaft ausgefuchsten g-Moll-Werk Pointe auf Pointe servierte – ein Lacherfolg.

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