Eine Handvoll Länder auf der Welt produzieren ihren Strom nahezu vollständig aus erneuerbaren Energien. Deutschland tut das nur zur Hälfte. Die Vorreiter setzen dabei auf eine Energiequelle, die in hierzulande nur vier Prozent der Stromerzeugung ausmacht. Denn sie ist risikoreich.
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In der Kleinstadt Ulfborg an der dänischen Nordseeküste steht ein Windrad, das einmal das größte der Welt war. Fast 50 Jahre ist es her, dass es von Schülern, Lehrern und Freiwilligen aus dem 2000-Seelen-Ort aufgebaut wurde. Was damals ein Zeichen gegen einen möglichen Einstieg in die Kernenergie war, ist längst zum Symbol der dänischen Energiewende geworden. Die Regierung gab ihre Atom-Pläne auf und setzte auf den Ausbau von Windkraft an Land und auf dem Wasser.
Heute produziert Dänemark mehr als 80 Prozent seines Stroms aus erneuerbaren Energien. In anderen Ländern, darunter etwa Norwegen, Albanien, Costa Rica oder Paraguay, liegt der Anteil sogar bei nahezu 100 Prozent. Die deutsche Energiewende hängt dagegen hinterher, nur die Hälfte des Stroms stammt aus erneuerbaren Quellen. Bis 2030 sollen es 80 Prozent sein, doch bei der aktuellen Ausbaugeschwindigkeit wird dieses Ziel kaum zu erreichen sein.
Ein genauer Blick zeigt, was sich Deutschland von den Vorreitern der Energiewende abschauen kann – und wo die Bundesrepublik einen anderen Weg gehen sollte.
Eine Gemeinsamkeit der Länder mit großem Ökostrom-Anteil fällt sofort ins Auge: Sie setzen in hohem Maße auf Wasserkraft. So gehen in Norwegen mehr als 90 Prozent des Stroms darauf zurück, in Paraguay und Albanien sogar fast 100 Prozent. „Wasserkraft hat den Vorteil, dass sie einfach zu nutzen ist und sehr günstigen Strom liefert“, erklärt Andreas Löschel, Professor für Umwelt- und Ressourcenökonomik an der Ruhr-Universität Bochum. Bei Speicherkraftwerken sei die Energieerzeugung zudem steuerbar – anders als etwa bei Wind- oder Sonnenenergie.
In Deutschland macht die Technologie aktuell nur rund vier Prozent der Stromerzeugung aus, weil die Möglichkeiten für einen Ausbau aus geografischen Gründen sehr begrenzt sind. Zudem müsse für den Bau von Wasserkraftwerken stark in die Umwelt eingegriffen werden, sagt Löschel – mit potenziell großen Risiken für Natur und Mensch. Hinzu kommt, dass der Klimawandel diese Form der Energiegewinnung zunehmend anfällig für Schwankungen macht, da Dürren im Schnitt häufiger werden und länger andauern. Das kann für Länder, die fast ausschließlich auf diese Energiequelle setzen, schnell zum Problem werden.
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So hat etwa Ecuador, wo mehr als drei Viertel des Stroms aus Wasserkraft stammen, vor wenigen Tagen wegen Engpässen durch eine akute Dürre den Notstand ausgerufen. „Wasserkraft ist ein Beispiel, warum wir es in Deutschland anders machen müssen“, resümiert Löschel.
Anders, das bedeutet nach den Plänen der Bundesregierung vor allem mehr Windenergie und mehr Fotovoltaik. „Insbesondere beim Ausbau der Solarenergie wurden viele Hemmnisse abgebaut und deswegen geht es auch relativ schnell voran“, sagt Claudia Kemfert, Energieexpertin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Bei der Windenergie sei Deutschland dagegen „längst nicht auf dem dynamischen Pfad, wo wir sein müssten“. Wie es schneller geht, zeigt ein Blick nach Norden: Dänemark gewinnt 54 Prozent seines Stroms allein aus Windenergie.
Das liegt einerseits an den idealen geografischen Voraussetzungen des Landes, aber auch an den frühen und entschlossenen Schritten in Richtung Energiewende. So hat Dänemark schon Anfang der 2000er-Jahre mit dem Bau riesiger Offshore-Windanlagen begonnen. Das neueste Pionierprojekt ist eine künstliche Insel, die als Drehkreuz für Ökostrom in der Nordsee mehrere Offshore-Windparks bündeln soll. Ganze 28 Milliarden Euro lässt sich die dänische Regierung den Bau kosten. Innovative Projekte dieser Größenordnung gibt es in Deutschland nicht.
Einen anderen Ansatz verfolgt Costa Rica, wo die Politik neben Wasserkraft stark auf Geothermie setzt. In dem Land steht eine der effizientesten Geothermie-Anlagen des amerikanischen Kontinents, die jüngst, während einer Flaute der Wasserkraftwerke, die Energieversorgung im Land stabilisiert hat. In Deutschland wird die Technologie nahezu gar nicht zur Stromerzeugung genutzt – obwohl das Potenzial durchaus da wäre, meint Experte Löschel. „In der aktuellen Diskussion wird das leider unterbewertet – auch, weil die Akzeptanz in der Bevölkerung noch gering und die Datenlage schlecht ist.“
Tankstellen in Norwegen bald obsolet
Blickt man über den Stromsektor hinaus in andere Energiesektoren, zeigt sich ein ähnliches Bild. Der Anteil erneuerbarer Energien am Endenergieverbrauch, der auch die Sektoren Verkehr, Wärme, Industrie und Gebäude einschließt, lag im Jahr 2022 in Deutschland gerade einmal bei knapp 21 Prozent. Besonders gering ist der Anteil im Verkehrssektor mit rund 7 Prozent. Dabei sind auch diese Bereich entscheidend, um die bis 2050 angepeilte Klimaneutralität zu erreichen. Wieder sind es vor allem die skandinavischen Länder, die Deutschland einen Schritt voraus sind.
In Norwegen sticht der schon weitgehend elektrifizierte Verkehrssektor heraus. Die norwegische Politik fördert Elektroautos intensiv durch Steuervergünstigungen und Subventionen. 2021 lag der Anteil von E-Autos an den Autoverkäufen bei knapp zwei Dritteln; ab dem kommenden Jahr werden nur noch emissionslose Pkw zugelassen. Der öffentliche Nahverkehr soll bis 2028 vollständig emissionsfrei sein. „Es ist absehbar, dass dort in zehn bis fünfzehn Jahren die Tankstellen theoretisch geschlossen werden könnten“, sagt Löschel, „weil es praktisch keinen Verbrenner-Bestand bei den Pkws mehr geben wird.“
Dänemark wiederum habe bei der Wärmeversorgung einen großen Vorsprung, sagt Expertin Kemfert. Schon Ende der 1970er-Jahre wurde dort eine kommunale Wärmeplanung aufgebaut, die vor allem auf Fernwärme zurückgreift. Im Hafen von Esbjerg im Südwesten des Landes entsteht gerade eine riesige Meerwasser-Wärmepumpe, die 25.000 Haushalte mit Wärme versorgen soll.
Ein effizientes Energiemanagement wie in Dänemark ist laut Kemfert auch für die Versorgungssicherheit entscheidend, über die im Zusammenhang mit erneuerbaren Energien so häufig diskutiert wird. „Dafür bedarf es einer verbesserten Digitalisierung, etwa Smart Meter in Gebäuden, und einer intelligenten Steuerung von Angebot und Nachfrage“, sagt sie. In diesem Bereich seien fast alle europäischen Länder weiter als Deutschland.
Schließlich wird ein Teil des Energiebedarfs, insbesondere in der Industrie, auch in Zukunft nicht vollständig durch grünen Strom abgedeckt werden können – weil damit nicht die Temperaturen hohen erreicht werden, die in manchen Industrien notwendig sind. Experte Löschel schätzt den Anteil auf etwa ein Drittel. „Stand heute braucht es in diesen Prozessen einen Ersatz für Öl und Gas. Dabei wird Wasserstoff eine wichtige Rolle spielen“, sagt er. Schon jetzt nutzen die nordischen Länder ihre großen Offshore-Windkapazitäten, um grünen Wasserstoff herzustellen und zu exportieren. In Deutschland wurde erst im vergangenen Jahr erstmals eine nationale Wasserstoffstrategie verabschiedet, die hauptsächlich auf Importe setzt.
Auch die Einlagerung von CO₂ im Boden, „Carbon Capture“ genannt, wird hierzulande erst seit Kurzem überhaupt von der Politik in Erwägung gezogen. Die Methode soll dort Klimaneutralität ermöglichen, wo sich der Ausstoß von Treibhausgasen nicht vermeiden lässt – ist allerdings nicht ohne Risiken. Derweil werden in Dänemark längst Lizenzen für die CO₂-Speicherung ausgestellt. Norwegen ist mit entsprechenden Projekten vor der Küste und an Land ebenfalls bereits weit vorangeschritten und investiert Milliardenbeträge.
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