Die Modigliani-Retro im Museum Barberini: Plötzlich Maler selbstbewusster Frauen

Bislang galten Amedeo Modiglianis Akte als voyeuristisch. Die Potsdamer Ausstellung räumt mit diesem Klischee auf und entdeckt seine starken Porträts neu.

Anderthalb Jahrzehnte liegt die letzte Modigliani-Retrospektive in Deutschland zurück, damals ein Supergau. Schon nach kurzer Zeit musste die Ausstellung im Bonner Kunstmuseum geschlossen werden, nachdem sich 17 Werke als Fälschung erwiesen hatten. Wer es nun erneut versucht, spürt diesen dunklen Schatten und muss sich wappnen.

Anderthalb Jahrzehnte liegt die letzte Modigliani-Retrospektive in Deutschland zurück, damals ein Supergau. Die Ausstellung im Bonner Kunstmuseum musste wieder schließen, nachdem sich 17 Werke als Fälschung erwiesen. Wer es nun erneut versucht, spürt diesen Schatten und muss sich wappnen.

Das Potsdamer Museum Barberini hat zusammen mit der Stuttgarter Staatsgalerie diese Herausforderung angenommen und eine Retrospektive mit 56 Porträts und Akten Amedeo Modiglianis gewagt. Sie liefert nicht nur Sicherheit durch die ausschließliche Verwendung offiziell verbürgter Werke aus dem Nachlass direkter Sammler, sondern einen neuen Blick auf diesen Maler elegischer Akte, der bislang gerne als Frauenheld und drogensüchtiger Bohemien gesehen wurde.

Fälscher legten gleich nach Modiglianis Tod los

Die von anderen Künstlern vollendeten Bilder, die sich nach Modiglianis vorzeitigem Tod 1920 mit gerade 35 Jahren in seinem Atelier ohne Signatur befanden, eröffneten späteren Fälschern alle Möglichkeiten. André Salmons Biografie brandmarkte den früheren Freund mit einem Image, das bis zuletzt Gültigkeit besaß und nun revidiert werden kann. Aus dem von ihm kolportierten Modellverführer wird nun ein Promotor der selbstbewussten, modernen Frau.

Das Barberini landet also wieder einen Coup, nachdem die Ausstellung zuvor in Stuttgart zu sehen war. Nur vier Museen in Deutschland besitzen Werke des Künstlers, der international zu den Highlights jeder Sammlung gehört. Dem Potsdamer Privatmuseum gelingt dank seiner exzellenten Kontakte erneut eine Ausstellung, die nicht nur ein Kunsterlebnis ist, sondern wissenschaftlich neue Standards setzt.

In Porträts sammelte er die Pariser Szene um sich

Von Modigliani entsteht ein Bild, das ihn inmitten einer ungeheuer inspirierenden Szene abstrakter, kubistischer, realistischer Maler am Pariser Montparnasse zeigt, wohin der junge Mann aus Livorno nach seinem Studium in Florenz und Venedig 1906 gezogen war. In seinen Porträts behält dieser kosmopolitische Kreis dauerhaft Bestand. Insbesondere seine während des Ersten Weltkriegs geschaffenen Bildnisse wirken wie eine Rückversicherung der Freundschaften mit Malern, Sammlern, Händlern und Schriftstellern.

Sie reichen vom Bildnis der jungen Malerin Maud Abrantès, deren schwere Lider und Augenringe sie als Morphinistin verraten, bis hin zu einer abstrahierten Zeichnung seines Sammlers und Förderers Paul Alexandre, der Modigliani in einem Abrisshaus am Montparnasse unterbrachte. In dem Blatt von 1913 taucht das für Modigliani typische Motiv des einen offenen und anderen geschlossenen Auges auf, das die Sicht auf eine umgebende wie innere Welt erfasst.

Modiglianis Porträts faszinieren durch ihre Frontalität, die unmittelbare Nähe zum Menschen. Wie bei den Malerfreunden Moise Kiessling oder Juan Gris können sich dabei die Gesichtshälften gegeneinander verschieben, die Augen schief stehen. Doch wird er nicht zum Gefolgsmann von Picassos Kubismus, sondern bleibt seinem eigenen Realismus treu.

Modigliani ist zwar keiner bestimmten Stilrichtung zuzuordnen, ließ sich aber dennoch inspirieren. Auch dies zeigt die Ausstellung anhand zahlreicher Werke anderer Künstler. Der Vergleich wird zu ihrem aufregendsten Teil. In den Blick auf seinen „Liegenden Frauenakt auf weißen Kissen“ von 1917, der sich ganz nach vorne an den Bildrand schiebt und den Betrachter unverwandt anschaut, gerät eine Wand weiter Paula Modersohn-Beckers „Liegender weiblicher Akt“, der zwölf Jahre zuvor ebenfalls in Paris entstand und in seiner Direktheit eine ähnliche Autonomie ausstrahlt.

Zu den verblüffendsten Nachbarschaften gehört Modiglianis „Sitzende Frau“ von 1918/19, eine Italienerin, die er während seines Nizza-Aufenthaltes malte, neben dem Porträt „Johanna Staude“ von Gustav Klimt, das etwa zeitgleich entstand. Eine neue Kühle hat Einzug in die Bilder des Künstlers gehalten, der sich vor dem Krieg ans Mittelmeer zurückgezogen hatte. Beide Bilder bestechen durch ihre Direktheit und die melancholische Strenge der Frauen, die durch den leuchtend orangen Hintergrund wieder abgemildert wird.

Zwanzigmal porträtierte er die Geliebte

Anders als beim schwarzen Kleid von Modiglianis Italienerin führt das wild gemusterte Oberteil von Johanna Staude ein Eigenleben und wirkt sehr viel mehr durchpulst. Eine Mattigkeit teilt sich mit. Im Jahr darauf kehrte der Künstler nach Paris zurück, wo er schwer an Tuberkulose erkrankt im Januar 1920 verstarb.

Die Künstlerlegende entstand sogleich, wenig später beging seine mit ihrem gemeinsamen zweiten Kind hochschwangere Verlobte Jeanne Hébuterne Suizid. Über zwanzigmal hatte sie Modigliani porträtiert. Im Barberini hängt eines seiner letzten von ihr, mit den typisch überlängten Gliedmaßen und dem schmalen Gesicht, das sie mit gelbem Pullover über dem schon gewölbten Bauch zeigt.

Zur Wahrnehmung Modiglianis hat immer sein spezifischer Blick auf die Frau gehört. Seine einzige Ausstellung bei der Galeristin Berthe Weill in Paris ausschließlich mit Aktdarstellungen wurde bereits nach wenigen Tagen wieder geschlossen, nachdem die Polizei in der gegenüberliegenden Wache durch einen Menschenauflauf vor dem Schaufenster der Galerie aufmerksam gemacht worden war.

Seine erste Ausstellung wurde zum Skandal

Laut Protokoll soll die Darstellung des Schamhaars für Aufregung gesorgt haben. Barberini-Direktorin Ortrud Westheider bezweifelt dies und vermutet vielmehr, dass die offensive Nacktheit verstörte als eine Form der weiblichen Selbstermächtigung. Das Skandal auslösende Modell könnte Kiki de Montparnasse mit dem dunklen Bubikopf gewesen sein. Der Typ Frau war nicht erwünscht. Zu den Trouvaillen der Potsdamer Retrospektive gehört der damalige Katalog aus dem Besitz von Guillaume Apollinaire.

Und noch eine Entdeckung wurde bei den Recherchen gemacht: ein Briefwechsel mit dem Berliner Maler Ludwig Meidner. Die beiden kannten sich aus Paris, im Stadtarchiv von Darmstadt tauchte jetzt Modiglianis Teil der Korrespondenz auf: eine Karte und ein Brief vom August und September 1907.

Darin schreibt er an „Mon cher Meidner“ in die Charlottenburger Schillerstraße und bittet ihn darum, die mitgegebenen Zeichnungen zu verkaufen. In seinen Erinnerungen charakterisierte ihn Meidner als weltgewandten und kultivierten Mann, der fließend Petrarca zitierte. Ob es mit den Verkäufen klappte, hat sich nicht überliefert. Für Modigliani war die Zeit in Berlin noch zu früh. Herwarth Walden hatte in seiner Sturm-Galerie die Futuristen unter Vertrag genommen, für einen weiteren italienischen Künstler, der sehr viel sanfter war und beim Aktbild blieb, gab es keinen Platz.

Modiglianis Frauen tragen Hemd und Krawatte

Dabei hätte Modigliani gut in die Stadt gepasst, wie der Exkurs in einer Vitrine belegt. Darin sind drei Skizzenblöcke der Jahre 1910-14 von Jeanne Mammen aus dem Stadtmuseum aufgeklappt, auf denen der ebenfalls von ihm gemalte Typus der femme garconne mit dem bezeichnenden Kurzhaarschnitt zu sehen ist. Genderfluidität gab es schon damals, also sehr viel früher als erst in den wilden 1920er Jahren, wie gemeinhin angenommen. Modigliani schuf eine ganze Galerie dieser Figur, der die Ausstellung einen großen eigenen Saal widmet.

Allein die Vielzahl dieser Porträts untermauert schlagkräftig das Argument der Ausstellungsmacher, der Maler habe insbesondere freigeistige Frauen unterstützen wollen. Zum Bubikopf tragen sie gestreifte Blusen samt Krawatte oder im Stil der Kindermode Matrosenhemden, um das Maskuline zu betonen oder sich von der Mutterrolle zu distanzieren.

Zu den schönsten Vertreterinnen gehört die Malerin Renée Gros, die Moise Kisling heiratete und für Modiglianis „Mädchen mit einer gestreiften Bluse“ 1917 Modell stand. Ein Foto zeigt sie zwei Jahre zuvor mit ihrem späteren Mann. Beide tragen den gleichen kurzen Pony, wie er heute wieder Mode ist. Zur weiteren Entdeckung wird die Malerin Èmilie Charmy. Von ihr stammen ein Selbstporträt à la garconne und mehrere Akte, die sich ebenfalls selbstbewusst präsentieren.

Der Bildhauer Modigliani kommt allerdings nur am Rande mit Zeichnungen vor, die seine Skulpturen vorbereiteten. Auch hier lässt sich verfolgen, wie er geschlechtliche Festschreibungen auflöst. Für seinen geplanten „Tempel der Schönheit“ skizzierte er Karyatiden, die weiblichen Trägerfiguren der griechischen Kunst, jedoch in männlicher Pose mit den erhobenen Armen über dem Kopf und nicht seitlich am Körper. Passenderweise nannte er sie „Säulen der Zärtlichkeit“.

Wieder gibt es eine Überraschung: Seine gemalte „Karyatide“ von 1911/12 mit dunkelbraunem Inkarnat wirkt wie die Schwester einer Skulptur von Wilhelm Lehmbruck, die nicht weit entfernt steht. Plötzlich erscheint der bisherige Einzelgänger, der sich nicht recht einordnen ließ, als künstlerischer Europäer, der mit Picasso, Rodin, Schiele, den Brücke-Malern erstaunlich viel gemeinsam hat.

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