„Die Lage kann man nicht schönreden“

Berlin . Arbeitgeberchef Rainer Dulger appelliert an die Bundesregierung, die Zeit bis zur nächsten Wahl nicht tatenlos verstreichen zu lassen, die Investitionsbedingungen schnell zu verbessern und Sozialreformen einzuleiten. Auf den Bundeskanzler ist Dulger nicht gut zu sprechen.

„die lage kann man nicht schönreden“

Präsident der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA): Rainer Dulger (60) aus Heidelberg.

Herr Dulger, die Ampel streitet über die „Wirtschaftswende“, die FDP hat dazu ein Zwölf-Punkte-Papier vorgelegt, das sie auf ihrem Parteitag an diesem Wochenende beschließen will. Sie haben sich hinter die Forderungen gestellt und eine Standortdebatte gefordert. Warum?

Dulger Die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts muss im Mittelpunkt der politischen Debatten stehen. Das FDP-Papier ist hoffentlich ein Kickstart für die dringend erforderliche Debatte in der Koalition zum Standort Deutschland. Im Vergleich mit anderen Industrienationen haben wir immer mehr Standortnachteile. Im Moment ist die Energie für uns alle zu teuer, auch für den Metzger und den Bäcker. Investitionsentscheidungen fallen gegen Deutschland aus, es fließt weniger Kapital aus dem Ausland zu uns. Das mischt sich mit einer maroden Infrastruktur, Inflation, Bürokratie, Arbeitskräftemangel, dem demografischen Wandel, zu wenig Kinderbetreuung und vielem mehr. Die Lage kann man nicht schönreden. Deshalb würde ich mich freuen, wenn die Ampelkoalition die Vorschläge der FDP ernsthaft diskutiert und Reformen anpackt. Die Zeit bis zur kommenden Bundestagswahl darf nicht ungenutzt verstreichen.

Gehen Sie wirklich davon aus, dass die Regierung auf Sie hört? Die SPD hat empört auf die Reform-Forderungen der FDP reagiert.

Dulger Ich bin Unternehmer und deshalb ein optimistischer Mensch. Die Befunde über den Zustand unseres Wirtschaftsstandortes sind eindeutig, da kann sich niemand drüber hinwegsetzen, der Politik ernsthaft betreibt. Deutschland braucht schnelle und nachhaltige Reformen – diese Erkenntnis wird auch in der Regierung reifen. Wir dürfen nicht auf eine bessere weltwirtschaftliche Lage warten, wir müssen jetzt handeln.

Setzt sich diese Erkenntnis auch bei Kanzler Olaf Scholz durch?

Dulger Bei den vergangenen Begegnungen mit Bundeskanzler Olaf Scholz hat er unsere Argumente als Klagen abgetan und uns unterstellt, dass wir die Situation schlimmer darstellen, als sie ist. Dabei ist die Situation offensichtlich, wir sind in einer Rezession, haben viele Defizite, die diesen Standort unattraktiv machen für Investitionsentscheidungen.

Und der Wirtschaftsminister?

Dulger Bei Bundeswirtschaftsminister Habeck und Bundesfinanzminister Lindner sind wir auf offene Ohren gestoßen. Was daraus entsteht, weiß ich nicht, aber uns wurde wenigstens nicht gesagt, dass wir Märchen erzählen.

Ein Punkt im FDP-Papier ist die Rente mit 63. Auch die Arbeitgeber rufen nach Abschaffung. Warum?

Dulger Die Rente mit 63 war damals ein Aderlass für die deutsche Wirtschaft. Und sie ist mittlerweile auch eher eine Rente 64 plus, ich würde daher gerne von einer abschlagsfreien Frührente sprechen wollen. Hier werden Fachkräfte in den Ruhestand entlassen, die man nicht sofort ersetzen kann. Hochqualifizierte Leute verabschieden sich und sagen, es rechnet sich nicht für mich, länger zu arbeiten. Das sind herbe Kompetenzverluste. Diese Erfahrung habe ich auch immer wieder in meinem Unternehmen machen müssen.

Was schlagen Sie also vor?

Dulger Den Renteneintritt an die durchschnittliche Lebenserwartung koppeln, dafür einen guten Schlüssel finden, über den man vorher debattiert. Außerdem wünsche ich mir einmal im Jahr im Bundestag einen Bericht der Bundesregierung über den Zustand unserer sozialen Sicherungssysteme. Es gibt so viele unterschiedliche Bereiche, über die berichtet wird, aber über unsere fünf Sozialversicherungsarten nicht. Wir brauchen eine Nachhaltigkeitsberichterstattung für die Sozialversicherungen. Dann wird transparent, wohin die Reise in den Sozialversicherungen geht, wenn nicht gegengesteuert wird.

Sollte die Regierung auf das Rentenpaket II verzichten, das auch künftigen Generationen ein Rentenniveau von 48 Prozent garantiert?

Dulger Wir befürchten hier ein Überschießen der Lohnzusatzkosten. Es ist ein weiterer Baustein in der Nicht-Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Standorts. Und dabei ist das Rentensystem im Gegensatz zur Kranken- und Pflegeversicherung aktuell finanziell noch einigermaßen stabil, weil die geburtenstarken Jahrgänge erst noch in Rente gehen werden.

Ist es nicht komisch, dass die FDP einerseits dem Rentenpaket II zustimmt, andererseits aber die Abschaffung der Rente mit 63 fordert?

Dulger Dieses Rentenpaket wäre das teuerste Sozialgesetz, das eine Bundesregierung im 21. Jahrhundert beschlossen hat. Es hat nur keiner gemerkt. Es ist ein mehrere hundert Milliarden schweres Paket – und niemand hat gezuckt. Nichts gibt sich leichter aus als das Geld der nächsten Generation. Es ist der Inbegriff der Generationenungerechtigkeit. Daher finde es richtig, dass die FDP jetzt auf Änderungen drängt und dafür Vorschläge vorgelegt hat.

Die FDP will auch Überstunden steuerfrei stellen, um Mehrarbeit zu belohnen. Ist das der richtige Weg?

Dulger Es muss generell mehr Netto vom Brutto für unsere Arbeitnehmer in den Lohntüten ankommen. Die Menschen können jeden Cent mehr in der Tasche gebrauchen, weil alles teurer geworden ist. Und die Arbeitgeber können nicht beliebig die Bruttolöhne erhöhen. Wir haben jetzt schon zu hohe Arbeitskosten im internationalen Vergleich. Der Staat muss einfach mit dem, was er an Steuern einnimmt, haushalten. Bund, Länder und Gemeinden werden in diesem Jahr wahrscheinlich 1000 Milliarden Euro einnehmen, so viel wie noch nie. Der Staat hat kein Einnahmenproblem, sondern ein Ausgabenproblem.

Die Erwerbsquote von Ukrainern ist im EU-Vergleich sehr gering. Liegt das auch an der Wirtschaft, die zu wenig Ukrainer einstellt?

Dulger Das weise ich entschieden zurück. Es gibt viele ukrainische Geflüchtete, die gern arbeiten würden, es aber nicht können, weil etwa Kita-Plätze fehlen. Auch die Einstellungshürden für Erzieherinnen und Erzieher sind einfach zu hoch.

Brauchen wir eine Bürgergeld-Reform, wie sie etwa die FDP vorschlägt? Müssen die Sanktionen für Arbeitsverweigerer erhöht werden?

Dulger Ich halte das Bürgergeld-System insgesamt nicht für Erfolg stiftend, weil es den Wert von Arbeit an sich inflationiert. Wer zur Arbeit geht und zufällig neben jemandem wohnt, der Bürgergeld bezieht und zuhause bleibt, der fragt sich nicht selten, warum mache ich das eigentlich und gehe arbeiten? Wer eine größere Familie hat und sich im Sozialrecht gut auskennt, geht im Einzelfall mit nur ein paar hundert Euro weniger im Monat heim als der, der jeden Tag arbeiten geht. Das ist sozial unausgewogen. Arbeit muss sich immer erkennbar mehr lohnen als Nicht-Arbeit. Der Abstand ist hier nicht mehr groß genug.

Welchen Reformbedarf sehen Sie beim Bürgergeld? Ein Beispiel?

Dulger Der Sozialstaat muss genauer hinsehen und treffsicherer werden. Wir haben im Moment 5,6 Millionen Bürgergeldempfänger, davon stammt ein wesentlicher Teil nicht aus Deutschland. Und wir haben insgesamt fast vier Millionen Menschen im Bürgergeldsystem, die arbeiten können – das ist zu hoch. Damit die dringend benötigten Arbeitskräfte in den Betrieben ankommen, muss der Fokus viel stärker auf Aktivierung und Vermittlung in Arbeit liegen.

Die Regierung plant die Kindergrundsicherung, die Kinder aus der Armut holen soll. Die zuständige Ministerin spricht von einer Bringschuld des Staates. Nachvollziehbar?

Dulger Ich habe mich gefragt, ob ich die Äußerung von Bundesministerin Paus richtig verstanden habe, dass sie 5000 neue Beamtenstellen schaffen will, die dazu da sein sollen, den Menschen aktiv Sozialleistungen anzubieten. Das heißt ja, wir bauen einen Sozialleistungsvertrieb auf, der quasi aktiv an den Haustüren klingelt, um das Geld des Staates loszuwerden. Ich halte das für keinen guten Weg. Den dürfen wir nicht einschlagen. Die Leistungen des Staates können auch einfacher, transparenter und nachvollziehbarer werden, ohne dass Tausende neue Stellen geschaffen werden. Kinder und Eltern haben deutlich mehr von Investitionen in Kitas und Schulen als in die Verwaltung.

Stehen Sie in der Debatte um die Schuldenbremse auf der Seite derer, die sie reformieren möchten, um mehr Investitionen zu ermöglichen?

Dulger Wenn ich in meinem Unternehmen in eine schwierige Situation gerate, macht es wenig Sinn, die Probleme mit neuen Schulden zu lösen. Ich muss stattdessen bereit sein umzustrukturieren, auf Ausgaben zu verzichten, um Gelder umzuleiten. Beim Staat ist bisher keiner bereit, das zu tun. Niemand möchte auf irgendwelche Leistungen verzichten. Der Staat muss aber lernen, mit dem Geld, was er hat, nachhaltiger umzugehen.

Bei allen Nachteilen, die derzeit beklagt werden: Was zeichnet den deutschen Wirtschaftsstandort aus?

Dulger Wenn ich nicht vom Wirtschaftsstandort Deutschland überzeugt wäre, wäre ich als Unternehmer längst fortgegangen. Und dann würde ich hier nicht als Arbeitgeberpräsident sitzen und mich nicht täglich bei der Politik für die Anliegen der deutschen Wirtschaft einsetzen. Wir haben ein mittelständisches Unternehmertum, das ein so starkes Rückgrat ist, dass wir im Zweifel immer stärker dastehen werden können als alle anderen europäischen Industrieländer. Darauf können wir stolz sein. Das ist aber ein Schatz, den wir hegen und pflegen müssen. Im Moment tun wir das nicht.

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