Deutsche Befindlichkeiten: Es wird Zeit, Israel als Realität wahrzunehmen

deutsche befindlichkeiten: es wird zeit, israel als realität wahrzunehmen

Der israelische Militärsprecher, Konteradmiral Daniel Hagari, zeigt den Medien eine der iranischen ballistischen Raketen, die Israel am Wochenende auf dem Armeestützpunkt Julis im Süden Israels abgefangen hat.

Die für Deutschland beste Lösung hat der Bundeskanzler in Worte gefasst: Nach dem iranischen Drohnen- und Raketenangriff am Wochenende möge Israel seinen Erfolg „nicht verschenken“. Anders als der israelische Krieg im Gazastreifen wäre ein Vergeltungsschlag gegen den Iran nicht von der moralischen Entrüstung gedeckt, die das Hamas-Massaker am 7. Oktober zu Recht ausgelöst hat.

Damit wäre zugleich die von Deutschland erwartete (und zu erwartende) Parteinahme zugunsten Israels problematischer zu rechtfertigen als im Gazakrieg. Zum einen fehlte dem iranischen Angriff die barbarische Qualität: Tötungswahn, Blutgier und schreiende Mordlust. Ein Mädchen wurde verletzt, traurig genug, aber keine 1200 Menschen gemeuchelt, geschändet oder entführt. Zum anderen existierte ein konkreter Auslöser: der mutmaßlich israelische Luftangriff auf das iranische Botschaftsgelände in Damaskus sechs Tage zuvor, am 1. April. Sieben Offiziere der iranischen Revolutionsgarde (IRGC) fanden dabei den Tod, darunter zwei Generäle.

Die Operation erinnerte an die Liquidierung des IRGC-Generals Quasim Soleimani Anfang Januar 2020 durch eine amerikanische Drohne in Bagdad. Fünf Tage später folgte ein iranischer Gegenschlag mit ballistischen Raketen gegen US-Militärbasen im Irak. Auch damals gab es allenfalls Verletzte.

Das Muster war also bekannt; Attentate gegen Führungspersonen werden mit kalkulierten Militärschlägen vergolten. Das israelische Kriegskabinett – weiter unten in der Hierarchie werden solche Entscheidungen nicht gefällt – wusste um die Folgen, als es den Angriff auf die iranische Botschaft befahl.

Hinzu kommt, dass im Fall Soleimani sowohl das Attentat als auch der Vergeltungsschlag im Irak stattfanden, nicht auf iranischem Territorium. Dagegen rührte der Botschaftsangriff an den Sonderstatus diplomatischer Vertretungen – auch wenn Botschaften keine Exterritorialität genießen. Es war absehbar, dass Teheran die Attacke als Angriff gegen den iranischen Staat wahrnahm.

So weit, so eindeutig. Wo der Rechtssatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ historisch und kulturell verwurzelt ist, steht jede Entscheidung, jede Handlung und jede Tat im Kontext von Vergangenheit und Zukunft. Nicht nur Iraner und Israelis, jeder in der Region weiß, dass die eine Tat zum Auslöser der nächsten wird, der dann eine weitere folgt und so fort.

Solcher Kontext kompliziert jedoch die moralischen Zuordnungen, die wir Deutsche so lieben, allen voran die Kriterien „gut“ und „böse“. Israel ist per definitionem gut, das ergibt sich aus unserer Staatsräson –  anders würden wir ja die Existenz des Bösen verteidigen. Und wer Israel der – mittelbaren oder unmittelbaren, impliziten oder expliziten – Teilhabe an einer bösen Tat beschuldigt, ist zumindest ein … Sie wissen schon.

Das vertrackte deutsche Verhältnis zur israelischen Schuldfähigkeit erfuhr am Sonntag die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Aydan Özoğuz (SPD), am eigenen Leib. Bislang kannte die Politikerin vornehmlich den Sturm von rechts; im Bundestagswahlkampf 2017 hatte der AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland angekündigt, man werde die damalige Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, „Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen können“.

Am Sonntag kam der Sturm auch aus der Mitte. Als die iranischen Drohnen noch unterwegs waren, hatte Özoğuz auf X, vormals Twitter, gepostet: „Warum musste diese Situation noch provoziert werden? Bombardierung der iranischen Botschaft hat Nahost weiter gefährdet.“ Eine berechtigte Frage. Wie oben dargelegt, muss allen Beteiligten klar gewesen sein, dass der israelische Angriff nicht folgenlos bleiben wird. Doch schon der Ansatz einer analytischen Kausalkette ist tabu, wenn ein Schatten davon auf Israel fällt.

Das Keulen-Argument war rasch zur Hand. „Ist Ihnen klar, welches alte antisemitische Narrativ Sie hier bedienen? ‚Die Juden sind selbst schuld.‘“, zitierte die Bild-Zeitung den Berliner Soziologie-Professor Stefan Liebig. Özoğuz ist also auch eine … Sie wissen schon.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Matthias Hauer fand ihren Tweet ebenfalls „schäbig“: „Das fällt Frau Özoğuz ein, wenn der Iran einen unserer engsten Verbündeten Israel angreift.“ Dabei sind Israel und Deutschland gar keine Verbündeten. Laut Webseite des Auswärtigen Amts ist das „einzigartige Verhältnis“ der beiden Länder begründet durch „die Verantwortung Deutschlands für die Shoah, dem systematischen Völkermord an etwa sechs Millionen Juden Europas in der Zeit des Nationalsozialismus“.

Die Bedeutung des Kontexts zeigt sich an Özoğuz’ Tweet, wenn man ihn in voller Länge liest: „Zu viel Kriege, zu viele Menschenleben gefährdet, Geiseln nicht befreit, Menschen in Hungerkatastrophe. Mache mir um alle Menschen Sorge in #Ukraine #Israel #Gaza. Warum musste diese Situation noch provoziert werden? Bombardierung der iranischen Botschaft hat Nahost weiter gefährdet.“

Die Drohnen waren noch in der Luft, als sie den Post absandte. Den vielleicht entlarvendsten Kommentar kann man in der Welt lesen. Ihre einleitenden Worte – „Mache mir um alle Menschen Sorge in #Ukraine #Israel #Gaza“ – werden dort als „eher befindlichkeitsfixierte Einordnung“ abgetan. Was für eine atemberaubende Empathiefreiheit! Zehntausende sind bereits gestorben, Zehntausende werden noch sterben, und der schneidige Kommentator nennt Özoğuz’ Sorge „befindlichkeitsfixiert“. Was will er uns damit sagen? Wo gehobelt wird, da fallen Späne? Hunde, wollt ihr ewig leben?

Aydan Özoğuz hat ihren Tweet gelöscht. War der Hamburgerin nicht bewusst, mit welcher Kaltschnäuzigkeit hierzulande Solidarität eingefordert wird? Der Grüne Volker Beck, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, antwortete ihr: „Israel wird fast täglich von der Hisbollah angegriffen. Israel wurde heute Nacht vom Iran angegriffen. Und Sie meinten, Israel habe provoziert? Hatten Ihre Brüder Ihren Account gehackt?“

Das war nun unter der Gürtellinie (Özoğuz’ Brüdern wird Nähe zum Islamismus vorgeworfen). Aber wo tritt man nicht überall hin, wenn ein Tabu in Gefahr gerät? Das Tabu liegt offen zutage: Israel darf kein normaler Staat sein. Als solcher würde Israel provozieren und sich provozieren lassen, angreifen und sich verteidigen – wie jeder andere Staat in einer uralten Konfliktregion.

Die ganze Welt nimmt Israel so wahr: als ein Land unter vielen, eingebettet in tausend Kausalzusammenhänge, getrieben von ähnlichen Interessen, Ängsten, Hoffnungen und Zielen wie andere auch. Nur wir Deutsche dürfen das nicht – jedenfalls wenn es nach einer öffentlich einflussreichen Fraktion geht. Zu der gehört die Bild-Zeitung, die Özoğuz’ Tweet mit den Worten abkanzelte, sie äußere „sich zum iranischen Raketen-Angriff auf Israel, aber NICHT, indem sie diesen verurteilte. Sondern: Israel die Schuld zuschob“.

So sieht es aus: Wir Deutsche müssen verurteilen, wo andere erklären. Vielleicht sollten wir uns einfach eingestehen unfähig zu sein, die Vorgänge im Nahen Osten nüchtern und mit kühlem Verstand zu begreifen. Kein anderes Land der Welt leistet sich eine Diskussion darüber, ob der iranische Raketen- und Drohnenangriff provoziert war oder nicht. Unsere Unfähigkeit gründet darin, dass Israel – deutsche Staatsräson, geboren aus deutscher Schuld – für uns keine Realität ist, sondern ein Ideal. Ein Heiligtum, dem wir aus Abscheu vor unseren Verbrechen Opfer darbringen. Und dieses Heiligtum muss rein sein, unbefleckt, nur dann bannt es diese unsere Abscheu vor unserem unbewältigten Selbst.

Seit der Shoah sind fast 80 Jahre vergangen. Die deutsche Auseinandersetzung um die mehr als 30.000 toten Palästinenser im Gazakrieg zeigt, wie das Konstrukt des reinen Israels allmählich brüchig wird. Täter und Opfer … nach drei Generationen verschwimmen die Konturen. Selbst das Keulenargument greift nicht mehr; offensichtlich ist nicht jeder, der Israel kritisiert, ein … Sie wissen schon.

Umso mehr klammert das Juste Milieu der deutschen Mitte an den ererbten Sprach- und Denkregeln. Doch die Solidaritätsbekenntnisse zum jüdischen Staat wirken wie aus der Zeit gefallen. Erst kürzlich hat der indische Autor Pankaj Mishra dieses Unverständnis im Gespräch mit der Berliner Zeitung deutlich gemacht. Das heilige Bild eines unbefleckten Israels ist nicht aufrechtzuerhalten. Was als idealistisches Siedlerprojekt begann, ist heute ein Knotenpunkt in den Netzwerken regionaler Allianzen und Rivalitäten. Mit allem, was dazugehört, mit guten und mit bösen Taten. Es wird Zeit, Israel als Realität wahrzunehmen.

News Related

OTHER NEWS

Ukraine-Update am Morgen - Verhandlungen mit Moskau wären „Kapitulationsmonolog" für Kiew

US-Präsident Joe Biden empfängt Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus. Evan Vucci/AP/dpa Die US-Regierung hält Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zum jetzigen Zeitpunkt für „sinnlos”. Bei einem Unwetter in Odessa ... Read more »

Deutschland im Wettbewerb: Subventionen schaden dem Standort

Bundeskanzler Olaf Scholz am 15. November 2023 im Bundestag Als Amerikas Präsident Donald Trump im Jahr 2017 mit Handelsschranken und Subventionen den Wirtschaftskrieg gegen China begann, schrien die Europäer auf ... Read more »

«Godfather of British Blues»: John Mayall wird 90

John Mayall hat Musikgeschichte geschrieben. Man nennt ihn den «Godfather of British Blues». Seit den 1960er Jahren hat John Mayall den Blues geprägt wie nur wenige andere britische Musiker. In ... Read more »

Bund und Bahn: Einigung auf günstigeres Deutschlandticket für Studenten

Mit dem vergünstigten Deutschlandticket will Bundesverkehrsminister Wissing eine junge Kundengruppe dauerhaft an den ÖPNV binden. Bei der Fahrkarte für den Nah- und Regionalverkehr vereinbaren Bund und Länder eine Lösung für ... Read more »

Die Ukraine soll der Nato beitreten - nach dem Krieg

Die Ukraine soll nach dem Krieg Nato-Mitglied werden. Die Ukraine wird – Reformen vorausgesetzt – nach dem Krieg Mitglied der Nato werden. Das hat der Generalsekretär des Militärbündnisses, Jens Stoltenberg, ... Read more »

Präsidentin droht Anklage wegen Tod von Demonstranten

Lima. In Peru wurde eine staatsrechtlichen Beschwerde gegen Präsidentin Dina Boluarte eingeleitet. Sie wird für den Tod von mehreren regierungskritischen Demonstranten verantwortlich gemacht. Was der Politikerin jetzt droht. Perus Präsidentin ... Read more »

Novartis will nach Sandoz-Abspaltung stärker wachsen

ARCHIV: Das Logo des Schweizer Arzneimittelherstellers Novartis im Werk des Unternehmens in der Nordschweizer Stadt Stein, Schweiz, 23. Oktober 2017. REUTERS/Arnd Wiegmann Zürich (Reuters) – Der Schweizer Pharmakonzern Novartis will ... Read more »
Top List in the World