Michael Hüther im Interview: "Ludwig Erhard würde fragen: Passt die Schuldenbremse in die Zeit?"

IW-Chef Hüther plädiert für eine Reform der Schuldenbremse, um den Umbau der Wirtschaft zu finanzieren: “Kein Unternehmen würde seine Investitionen nur aus dem Cashflow bestreiten.” Union und FDP wirft er vor, sich der Diskussion zu verweigern.

Michael Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW).

Michael Hüther: Die Haushaltssperre führt dazu, dass die Verunsicherung über die budgetpolitisch begründeten Rahmenbedingungen deutlich zunimmt, da es nicht mehr nur um die Ausgaben des Klima- und Transformationsfonds und des Wirtschaftsstabilisierungsfonds geht. Die Bundesregierung muss nun schnellstens einen verfassungskonformen Haushalt für 2024 erstellen. Die lähmende Wirkung auf die ohnehin in der Stagnation verharrende deutsche Volkswirtschaft kann man vermutlich nicht überschätzen.

Auf diese Alternative lasse ich mich nicht ein. Ich will die Schuldenbremse nicht abschaffen, sondern reformieren. Die öffentliche Diskussion krankt genau an dieser zugespitzten Fragestellung. Schon ein kritischer Hinweis wird von den Gralshütern der Schuldenbremse als Angriff auf den Grundgedanken gewertet. Natürlich brauchen wir eine Fiskalregel. Das Grundgesetz hatte auch immer eine. Das Grundgesetz von 1949 hatte eine Schuldenregel, das Grundgesetz von 1969 ebenfalls, und dann ist 2009 die jetzige in die Verfassung gekommen. Man muss nur fragen, ob sie ihre Aufgabe erfüllt und angemessen ist.

Aus meiner Sicht ist die Schuldenbremse in ihrer heutigen Form aus der Zeit gefallen. Die Beschränkung der Neuverschuldung auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ist nicht begründet, weder theoretisch noch empirisch. Zudem muss sie in Einklang gebracht werden mit einem anderen Verfassungsgerichtsurteil, das es zwischenzeitlich gab – dem zum Klimaschutz.

Auch dieses Urteil bindet die Politik durch das Klimaschutzgesetz: 2045 soll Deutschland klimaneutral sein. Das ist eine historische Aufgabe und erfordert erhebliche Investitionen, selbst wenn man – wie die EU – 2050 als Zieljahr nimmt.

Sie schlagen eine Reform der Schuldenbremse vor, um diese Investitionen zu ermöglichen.

Investitionen in die Transformation der deutschen Wirtschaft werden vor allem den künftigen Generationen nutzen. Deshalb halte ich es für legitim, wenn die künftigen Generationen auch an der Finanzierung beteiligt werden. Das war 2007 auch die Position des Sachverständigenrats in seiner Expertise zu einer angemessenen Gestaltung einer Schuldenregel. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium und auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium haben damals dagegen eingewandt, Staatskonsum und staatliche Investitionen ließen sich nicht leicht trennen. So kam es zu der Ersatzlösung mit der festen Quote. Allerdings sind die Transformationsinvestitionen, die wir zu tätigen haben, relativ klar identifizierbar. Ein Klima- und Transformationsfonds scheint mir dafür ein passendes Vehikel zu sein.

Die Investitionen sind auf mehrere Jahre angelegt, ein Fonds bildet einen verlässlichen Rahmen. Eine solche Umgestaltung der Wirtschaft kann der Staat nicht zu einer Zwölfmonatsperspektive machen. In der gegebenen Situation wäre der einfachste Weg daher, den Klima- und Transformationsfonds analog zum Sondervermögen für die Bundeswehr ins Grundgesetz aufzunehmen. Damit wäre die Schuldenbremse nicht berührt.

Man sollte trotzdem überlegen, ob andere Fiskalregeln nicht klüger sind. Die Schweiz beispielsweise hat eine Ausgabenregel, keine reine Defizitregel. Man kann auch fragen, ob andere Indikatoren wie die Zins-Steuer-Quote nicht ebenfalls wichtig sind. Ein richtiger Gedanke ist auch, eine Investitionsklausel ins Grundgesetz aufzunehmen. Selbst das Bundesfinanzministerium hat in einem Non-Paper zur Diskussion über die Fiskalregeln der Europäischen Union gefragt, ob man nicht eine Investitionsausnahme einführen könnte.

Ihnen geht es ausdrücklich nicht darum, die Schuldenbremse zu lockern, um beispielsweise in der Sozialpolitik größere Spielräume zu schaffen.

Nein, um Gottes willen – das darf natürlich keinesfalls passieren. Was aus dem normalen Haushalt zu finanzieren ist, muss aus dem normalen Haushalt mit Steuern und Abgaben finanziert werden. Das betrifft die Sozialpolitik wie auch andere konsumtive Ausgaben. Es beträfe eigentlich auch die Verteidigungsausgaben, nur haben wir bei der Bundeswehr das Problem, dass man 16 Jahre Unterfinanzierung nicht in einem Steuerhaushalt korrigieren kann.

Das würde voraussetzen, dass wir sicher erwarten können, über diesen Weg bis 2045 klimaneutral zu werden. Das scheint aber mir nicht plausibel, denn allein durch eine Erhöhung des CO2-Preises entsteht noch keine Energiewende. Wir müssen jetzt in Offshore-Windenergie und in die Netzinfrastruktur investieren, und auch die Ladeinfrastruktur fällt nicht vom Himmel, um nur ein paar Beispiele öffentlich zu begleitender Investitionen zu nennen. Es reicht nicht, das irgendwann zu tun, es muss jetzt passieren. Ohne diese Investitionen werden wir das Ziel der Klimaneutralität zeitlich nicht erreichen. Wer das nicht will, soll es sagen.

Ich würde gern noch ein weiteres Argument anführen: Mit der Schuldenbremse in ihrer heutigen Form ließe sich keine große Steuerreform umsetzen. Die Steuerreform unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, eingeführt in drei Stufen 1986, 1988 und 1990, hatte erhebliche Steuerausfälle zur Folge. In der Logik der damaligen Schuldenregeln war das möglich, weil man argumentieren konnte, dass diese Steuerreform gesamtwirtschaftliche Aktivität mobilisiert und sich so irgendwann refinanziert. Das war auch bei der ebenfalls dreistufigen Steuerreform unter Gerhard Schröder so, 2001, 2003 und 2005. Heute haben wir Unternehmenssteuersätze, die im internationalen Vergleich sehr hoch sind. Unabhängig von der Transformationsaufgabe besteht auch an dieser Stelle Handlungsbedarf. Dass eine deutliche Senkung der Unternehmenssteuersätze allerdings unter den Bedingungen der Schuldenbremse möglich sein soll, sehe ich nicht.

Ich halte das für kein überzeugendes Argument, denn Deutschland hat noch eine andere Wirkung auf die EU: Normalerweise sind wir wirtschaftlich stark genug, um der EU Impulse zu geben. Im Augenblick tun wir das nicht. Wir stecken in einer Stagnation fest, die Wachstumsprognose des Sachverständigenrates liegt bei einem knappen halben Prozentpunkt bis zum Ende des Jahrzehnts. Das kann Europa nicht freuen. Wenn wir das durch eine kluge Investitions- und Transformationspolitik ändern könnten, wäre das im Interesse aller.

In diesem Jahr hat Deutschland allein für die Zinsen knapp 30 Milliarden Euro ausgegeben. Wird das nicht langsam zu teuer?

Die Frage ist nicht, wie hoch Schulden sind, sondern wie tragfähig sie sind. Die Schuldenstandsquote hat einen Zähler und einen Nenner: Im Zähler stehen die Schulden, im Nenner steht das Bruttoinlandsprodukt. Im letzten Jahr lag die Schuldenquote bei 66,3 Prozent – wir stehen also relativ gut da. Kein Unternehmen würde seine Investitionen nur aus dem Cashflow bestreiten. Wenn wir Investitionen allein aus dem Jahreshaushalt finanzieren, hieße das, dass die jeweilige Generation keinen Anlass hat, etwas zu tun, denn sie selbst hat davon ja keinen Nutzen. Für mich beispielsweise muss keine Transformation organisiert werden, ich bin 61, mit kann der Klimawandel völlig egal sein. Aber für meine Kinder und Enkelkinder ist das Thema wichtig. Es wäre zu kurz gedacht, Generationengerechtigkeit nur fiskalisch zu verstehen.

Das mag so sein, aber das werfe ich den beiden Parteien auch vor. Ich finde es intellektuell unwürdig, eine einmal zufällig gefundene Regel als heilige Veranstaltung zu bewerten. Die von Ihnen genannten Parteien berufen sich gern auf Ludwig Erhard oder auf Ordnungsökonomen wie Walter Eucken. Aber von denen hätte keiner so dürftig argumentiert, sie hätten immer gefragt: Passt die Regel in die Zeit? Ich bin der Meinung, dass wir diese Diskussion führen müssen. Sie nicht zu führen, hat uns genau dahin gebracht, wo wir jetzt stehen. Dieses Urteil ist ja nicht nur ein Desaster für die Regierung, sondern genauso für die klagende Oppositionspartei, die keine Antwort darauf hat, wie die Transformationsinvestitionen finanziert werden sollen. Eine ernsthafte, erwachsene Debatte muss doch ermöglichen, dass wir über eine Regel nachdenken, die in ihrer Zeit eine gute Begründung hatte. Dieses Tabu rund um die Schuldenbremse ärgert mich wirklich maßlos. Wenn Politik so stattfindet, dann ist sie am Ende.

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