„Ein fauler Friede“ - Historiker erklärt, welches „Schreckensszenario“ er im Ukraine-Krieg fürchtet

„ein fauler friede“ - historiker erklärt, welches „schreckensszenario“ er im ukraine-krieg fürchtet

Russische Raketen werden von der Region Belgorod aus auf die Ukraine abgefeuert. Evgeniy Maloletka/AP/dpa

In der Ukraine herrscht bereits seit mehr als zwei Jahren Krieg. Ein Ende ist nicht in Sicht. Der Historiker Jörn Leonhard erklärt in einem Interview, warum so wenige Kriege mit Friedensverhandlungen enden – und er mit noch mehr Gewalt rechnet.

Die Nordseeinsel Norderney ist eher als Urlaubsort denn als Schauplatz großer politischer Debatten bekannt. Doch genau dazu wurde sie in den vergangenen Tagen. Auf Norderney trafen sich zahlreiche SPD-Spitzenpolitiker, darunter auch Bundeskanzler Olaf Scholz.

Sie sprachen über innenpolitische Themen, aber auch diplomatische Bemühungen um ein Ende des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Konkret ging es um den Friedensgipfel, der im Juni in der Schweiz stattfinden soll. Russland selbst wird zwar nicht teilnehmen. Dafür aber viele Staaten des globalen Südens, die mit Russland befreundet sind, unter anderem Brasilien, Südafrika und China.

Scholz sagte auf Norderney, dass man sich über die Notwendigkeit solcher Friedensgespräche mit China einig sei. Erst vor wenigen Tagen war der Kanzler nach Peking gereist und hatte sich mit Präsident Xi Jinping ausgetauscht.

„Es gibt Kriege, die gewissermaßen ausbrennen“

Der Friedensgipfel mag ein Hoffnungsschimmer sein. Allerdings endet nicht jede Auseinandersetzung irgendwann am Verhandlungstisch. „Es gibt Kriege, die gewissermaßen ausbrennen, ohne dass es regelrechte Verhandlungen gibt. Andere Kriege enden mit einem absoluten Minimum an Kommunikation“, sagte Jörn Leonhard zuletzt im Gespräch mit „ntv“.

Leonhard ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg, erst vor kurzem ist sein Buch mit dem Titel „Über Kriege und wie man sie beendet“ erschienen. Frieden schaffen – aber wie?, das ist das zentrale Thema seines Werks.

Dass viele Kriege nicht in Verhandlungen münden, hat Leonhard zufolge mehrere Gründe. „Zum einen gibt es immer mehr Konflikte, in denen Bürgerkriegskonstellationen dominieren“, sagte er zu „ntv“.

„Der Krieg in Syrien seit 2011 etwa enthält Elemente eines Bürgerkriegs und eines Religionskriegs, dazu eine Internationalisierung durch die Beteiligung einer Vielzahl von Akteuren.“ Allein die Entscheidung, wer am Verhandlungstisch sitzen sollte, sei so schwierig, dass es „gar nicht zu ernsthaften Gesprächen kommt“, so der Professor.

„Heute sind die Polarisierungen unübersehbar“

Zum anderen hätten viele Akteure Angst davor, sich durch einen Friedensvertrag völkerrechtlich zu sehr zu binden. Waffenstillstände würden von den Kriegsparteien oft nur als taktische Pausen angesehen.

„Die völkerrechtliche Bindung durch ein völkerrechtlich bindendes Dokument wie einen Friedensvertrag bedeutet dagegen, dass ein Bruch von Bedingungen den eigenen Status beschädigt – gleichsam vor den Augen der Weltöffentlichkeit“, erklärte Leonhard.

In seinen Augen wird es insgesamt immer schwieriger, eine gemeinsame Wertordnung – und damit eine Basis für Gespräche – zu definieren. „Heute sind die grundsätzlichen ideologischen Polarisierungen unübersehbar“, sagte er zu „ntv“. „Das alles macht den Weg zu klassischen, großen Friedenskonferenzen und daraus hervorgehenden Friedensverträgen jedenfalls immer schwieriger.“

Zwei Faktoren begünstigen einen stabilen Frieden

Dabei können Friedensverhandlungen durchaus erfolgreich verlaufen. Dazu müssen laut dem Historiker aber zwei Bedingungen erfüllt sein. Zum einen eine „relative Asymmetrie auf dem Schlachtfeld“, zum anderen die Answesenheit eines starken Vermittlers.

„Im Ersten Weltkrieg spielte Woodrow Wilson diese Rolle“, so Leopold. Wilson hatte am 8. Januar 1918 seine „14 Punkte“ als sein Programm für einen sofortigen Friedensschluss formuliert. Er verhandelte in Versailles mit Großbritannien, Frankreich und Italien über eine Nachkriegsordnung.

„Einen solchen starken Vermittler gibt es im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine nicht. Die USA und Europa sind ebenso wie China zwar nicht unmittelbar, aber doch mittelbar in diesen Konflikt involviert“, erklärte Leonhard im Gespräch mit „ntv“.

Da wären zwar noch Indien oder Brasilien. Sie könnten aber weder einen Waffenstillstand, geschweige denn einen Frieden mit militärischen Mitteln durchsetzen, glaubt er. Die Vereinten Nationen (UN) wären eine Option, „wenn es ein belastbares Fenster der Diplomatie gäbe, etwa mit einer Blauhelmmission“. Allerdings schätzt Leonhard ihren Einfluss für eine „große Lösung“ aktuell als zu gering ein.

„Mein Schreckensszenario wäre ein fauler Friede“

Wie und wann der Ukraine-Krieg endet, ist unklar. Aktuell wird immer wieder über einen Sieg Russlands diskutiert. In mehreren Medienberichten war zu lesen, dass es der Ukraine zunehmend an Soldaten, Verteidigungsanlagen und Munition fehlt.

Dass Russland den Krieg gewinnt, wäre laut Leopold „die schlechteste aller Optionen“. „Aus historischer Perspektive wissen wir, dass sich Aggressoren, zumal solche mit imperialen Zielen, nach einem Erfolg selten zufriedenzugeben“, sagte er.

Der Historiker beschrieb auch, was er besonders alarmierend fände: „Mein Schreckensszenario wäre ein fauler Friede nach einem russischen Erfolg, mit territorialen Gewinnen für Russland und fragilen Sicherheitsversprechen für die Ukraine.“

Die Wahrscheinlichkeit neuer Krisen im „von Russland beanspruchten Raum“ wäre seiner Meinung nach groß. Nicht nur das Baltikum, auch der Kaukasus oder Transnistrien könnten ins Visier des Kremls geraten.

Zugeständnisse könnten zu noch mehr Gewalt führen

Fraglich ist, ob der Konflikt in der Ukraine schon reif für diplomatische Initiativen ist. „Durch den Präsidentschaftswahlkampf sind die USA blockiert, und in Europa nehmen die politischen Auseinandersetzungen um Fortsetzung und Ausmaß der Ukraine-Hilfe zu“, so der Professor.

Laut Leonhard gab es in der Vergangenheit viele ähnliche Situationen, in denen die Kriegsgewalt am Ende zunahm.

„Auch 1917 kam es zu vielen Friedensinitiativen, die aber zum größten Teil taktischer Natur waren, weil letztlich alle Kriegsparteien noch an einen Erfolg auf dem Schlachtfeld glaubten. Mit den Friedensinitiativen ging es auch darum, die Erschöpfung des Gegners zu testen.“

Das bedeutet: Macht eine Seite Zugeständnisse, kann das auch für ihre Erschöpfung sprechen. Der Gegner wird also möglicherweise „alles daran setzen, die eigenen Kräfte noch einmal zu mobilisieren, um vielleicht doch noch einen Siegfrieden zu erreichen“.

„Das spricht eher für eine Zunahme von Kriegsgewalt“

Dazu kommt, dass ein langer Krieg in der Regel viele Opfer fordert. „Es wird gegenüber der eigenen Gesellschaft schwierig, diese Opfer zu rechtfertigen, wenn eine Regierung dem Gegner Konzessionen macht, weil sie sich so dem Vorwurf aussetzt, die Opfer zu verraten“, so Leonhard.

Putin sieht seiner Meinung nach gerade die Möglichkeit, Erfolge auf dem Schlachtfeld zu erzielen, die er vor zwei Jahren noch nicht hätte erzielen können. „Mit dem Erfolg aber lassen sich die enormen Opfer rechtfertigen. Das spricht eher für eine Zunahme von Kriegsgewalt und derzeit jedenfalls nicht für eine glaubwürdige und beiderseitige Konzessionsbereitschaft.“

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