Hat die 35-Stunden-Woche ohne Lohnkürzung durchgesetzt: GDL-Chef Claus Weselsky
Die Tinte unter dem neuen Tarifvertrag mit der Deutschen Bahn war noch nicht trocken, da arbeitete sich GDL-Chef Claus Weselsky schon an ganz anderen Dingen ab. In mehreren von einer professionellen Filmproduktionsgesellschaft hergestellten Kurzvideos pries er die Lokführergewerkschaft als eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte. Diese Werbeshow verband der 65-Jährige allerdings mit einer deftigen Attacke – und zwar nicht wie üblich auf den Arbeitgeber. Sein Ziel waren die Arbeitnehmer, in erster Linie jene Bahnbeschäftigte, die er als „Trittbrettfahrer“ ausgemacht hat, weil sie sich den Gewerkschaftsbeitrag sparen und trotzdem vom GDL- Tarif profitieren. „Sie sollten sich schämen“, poltert Weselsky in dem kleinen Film mit dem schönen Titel „Solidarität“.
Solidarität ist ein großes Wort, das sich vielfältig auslegen lässt. Für Weselsky bedeutet es vor allem: Solidarität mit ihm selbst. Wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn und seine Organisation. „Ihr wisst ganz genau, welche der beiden Eisenbahner-Gewerkschaften die richtige ist“, droht er in die Kamera. Klar: Gemeint ist die eigene kleine GDL und nicht etwa die EVG, der große und verhasste Konkurrent. Viel ist in diesen Tagen von einer Spaltung der Gesellschaft die Rede. Weselsky betreibt eine Spaltung der Arbeitnehmerschaft. Das schadet letztlich den Interessen aller Beschäftigten.
Ein teuer erkauftes Ergebnis
Nach der langen und quälenden Tarifauseinandersetzung mit der Deutschen Bahn hat Weselsky zumindest oberflächlich betrachtet den Sieg auf seiner Seite. Den am Dienstag veröffentlichten neuen Tarifvertrag mit der GDL verbucht er als „Erfolg, fast auf der ganzen Linie“. Nicht zu Unrecht: Der Kompromiss geht vor allem zulasten der Bahn – sprich: ihrer Kunden und, als Staatskonzern, aller Steuerzahler. Die 35-Stunden-Woche ohne Lohnkürzung galt dem Management noch vor nicht allzu langer Zeit als „absolut nicht darstellbar“. Nun kommt sie, wenn auch erst in mehreren Schritten im Jahr 2029.
Doch Weselsky könnte das Ergebnis teuer erkauft haben. Im Gewerkschaftslager steht er isoliert da. Das Verhältnis zur EVG ist zerrüttet, sachlich wie persönlich. Dort weist man nicht nur hämisch darauf hin, dass die Mitarbeiter in den DB-Betrieben mit EVG-Abschluss im vergangenen Jahr über die Vertragslaufzeit 3000 Euro mehr in der Tasche hätten und über mehr planbare Freizeit verfügten. Auch von fehlendem Respekt und von persönlichen Anfeindungen ist die Rede, wenig hingegen von Solidarität.
Ganz zu schweigen von der öffentlichen Meinung. Sollte anfangs noch eine Spur von Sympathie und Verständnis für die Anliegen der von der GDL vertretenen Lokführer geherrscht haben: Nach fünf Monaten Krawallrhetorik und sechs Streiks ist sie verschwunden. Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) ist als Vertreter des Bahneigners Bund natürlich befangen, und doch sprach er aus, was auch der GDL Wohlgesinntere ähnlich sehen dürften: Weselsky hat diesmal den Bogen überspannt.
Rufe nach mehr Streikregeln
Was das heißt, dürfte sich in der nächsten Zeit zeigen. Noch gehört Deutschland zu den wenigen Ländern, in denen es kein Streikgesetz gibt. Die Gewerkschaften entscheiden selbst über die Ausgestaltung ihrer Arbeitskämpfe. Schon gibt es jedoch Rufe aus Politik und Wissenschaft nach mehr Regeln. Zur Begründung werden nicht nur die erheblichen volkswirtschaftlichen Schäden angeführt, schließlich soll jeder GDL-Streiktag Kosten von 100 Millionen Euro mit sich gebracht haben. Auch der Klimaschutz wird als Argument herangezogen. Die Bahn gilt in der Bundesregierung als wichtiges Element der Verkehrswende. Die Arbeitsausstände der vergangenen Woche haben die Attraktivität der Bahn, ganz zu schweigen von den übrigen reichlich vorhandenen Problemen, alles andere als gesteigert.
Dazu kommen Diskussionen über Automatisierung und Digitalisierung. Autonom fahrende Züge sind längst keine Zukunftsvision mehr, sondern teilweise schon Realität. In der DB hütet man sich davor, damit zu drohen. Doch es braucht wenig Phantasie für die Vorstellung, dass Lokführer in Regionalbahnen oder ICE-Zügen irgendwann einmal nicht mehr benötigt werden.
Claus Weselsky wird das in seiner aktiven Zeit nicht mehr erleben. Er geht bald in Rente. Zumindest muss er sich mit dem Gedanken anfreunden, diese Entwicklungen zum Schaden der Arbeitnehmer mitbeschleunigt zu haben. Ob sein designierter Nachfolger Mario Reiß die Geschichte der GDL in künftigen Werbevideos noch immer als großen Erfolg verkaufen kann, ist zweifelhaft.
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