SPIEGEL-Bildungsnewsletter: Elterntaxis - »Die Situation vor der Schule war gefährlich«

Viele Eltern fahren ihr Kind mit dem Auto zur Schule – weil es auf dem Arbeitsweg liegt und vermeintlich sicherer ist. Ein Mobilitätsforscher erklärt, was mehr Sicherheit bringt.

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SPIEGEL-Bildungsnewsletter: Elterntaxis – »Die Situation vor der Schule war gefährlich«

Ich habe sicherlich gut reden: Ich komme in einer halben Stunde mit dem Rad zur Arbeit – und finde das selbst bei Regen besser, als im Stau oder einer vollen S-Bahn zu stehen. Die Frage, ob ich meine Kinder künftig mit dem Auto in die Schule bringe, stellt sich mir auch deshalb nicht. Für andere Eltern passt es aber eben in ihr »Mobilitätsmuster«, wie es der Wissenschaftler Dirk Wittowsky nennt, die Kinder auf dem Weg zur Arbeit an der Schule abzusetzen. Das ist einfacher und doch auch sicherer, oder?

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Nein, sagt Wittowsky, der am Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung der Uni Duisburg-Essen zu Elterntaxis forscht. Denn durch die Autos vor der Schule gerieten viele andere Kinder in Gefahr. Eltern sollten ihren Kindern eine »eigenständige Mobilität für eine bewusste und gesundheitsförderliche Mobilitätsentwicklung zutrauen«. Das sei auch gut für die Verkehrserziehung, sagt selbst der ADAC, der ja nicht gerade für Auto-Bashing bekannt ist, und rät von Elterntaxis ab. Dennoch stauen sich vor vielen Schulen die Autos.

Nordrhein-Westfalen hat deshalb jüngst einen Erlass veröffentlicht, damit Kommunen vor Schulen Straßensperren einrichten können. Ein anschauliches Beispiel dafür ist ein Modellversuch in Essen, den Wittowsky wissenschaftlich begleitet. Warum der Versuch nun in die Verlängerung geht, erklärt er im Interview »Debatte der Woche«.

Wie kommen Ihre Kinder zur Schule? Und was halten Sie von den Straßensperren und der Diskussion ums Elterntaxi? Schreiben Sie gern an [email protected]

Für das Bildungsteam beim SPIEGEL

Herzlich, Swantje Unterberg

Das ist los

1. Tabuthema Nahost

»Ich beobachte, dass viele Lehrkräfte bei den Themen Gazakrieg, Nahostkonflikt, Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus sehr unsicher sind«, sagt Bildungsforscher Karim Fereidooni im Interview – und erklärt, wie und warum das Thema in die Schule gehört. Denn bei TikTok und Co. werde jeden Tag darüber geredet, würden jeden Tag Falschmeldungen verbreitet; »und damit lassen wir Schülerinnen und Schülern zu oft allein«, sagt Fereidooni.

2. Aussagekraft von Zensuren

Können Jugendliche mit einer Eins in Mathe automatisch herausragend gut rechnen? Nicht unbedingt, zeigt eine neue Studie. »Die Ergebnisse legen nahe, dass Schülerinnen und Schüler mit gleichen Schulnoten substanziell unterschiedliche Kompetenzen aufweisen«, schreiben die Autoren – und dürften damit die Diskussion über den Sinn der Bewertung neu anfachen.

3. Unterricht am Limit

92 Prozent der Lehrkräfte in Nordrhein-Westfalen beklagen Überbelastung. Das hat eine Umfrage der Bildungsgewerkschaft GEW unter knapp 24.000 Lehrkräften ergeben. »Die Beschäftigten sind am Limit«, interpretiert die GEW. Immer mehr Arbeit müsse von wenigen geschultert werden.

4. Protestkultur an Schulen

NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU) ruft Lehrkräfte auf, mit Schülern gegen Rechtsextremismus zu protestieren – und bekommt dafür Unterstützung von der KMK-Präsidentin. »Kinder- und Jugendliche brauchen Vorbilder. Ich kann also nur unterstützen, wenn auch Lehrkräfte ein Zeichen setzen und an Protesten gegen Rechtsextremismus teilnehmen«, sagte die saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD) der Nachrichtenagentur dpa. Die AfD in NRW prüft laut »Neue Westfälische« rechtliche Schritte gegen Feller.

Und sonst so

Lesen gegen Lerndefizite: Bei Leistungsvergleichen schnitten Brandenburger Kinder und Jugendliche vor allem in Deutsch nicht gut ab. Das Bildungsministerium will gegensteuern, berichtet der »Tagesspiegel« – indem es Bücher finanziert, die die Kinder mit nach Hause nehmen dürfen.

Millionenteure Lizenz: Mitten in der Pandemie investierte NRW 2,6 Millionen Euro für digitales Lernen, ein Großteil davon ging in eine dreijährige Brockhauslizenz. »Viele Schülerinnen und Schüler werden daraufhin erst mal gegoogelt haben, was Brockhaus ist«, schreibt das Portal berlinstory-news.de. Und rechnet vor, dass jeder Klick ins Lexikon den Steuerzahler mehr als 20 Euro gekostet habe.

Zahl der Woche

20 Milliarden

Wir haben Sie in unserem vorausgegangenen Newsletter gefragt: Was würden Sie mit 20 Milliarden Euro tun, um das Bildungssystem in Deutschland substanziell zu verbessern? Dieser Betrag fließt in den kommenden zehn Jahren in das Startchancenprogramm. Sie haben uns geschrieben, wie er sich aus Ihrer Sicht gewinnbringend einsetzen ließe:

Korinna Strobel, Mutter einer Siebenjährigen in Berlin, ist für mehr individuelle Förderung – auch an Schulen, die nicht als »Brennpunkt« gelten, wie die ihrer Tochter: Denn auch dort stelle sie fest, »dass sich klassischer Unterricht bei einem Anteil von circa 40 Prozent Kindern aus nicht deutschsprachigen Haushalten schwierig gestaltet – manche Kinder haben einfach keine Chance, den Inhalt mitzubekommen. Ich selbst stelle mich einmal pro Woche zur Verfügung und übe mit den Kindern Lesen. Das ist aber ein Tropfen auf den heißen Stein. Was diesen – teilweise gut begabten – Kindern wirklich helfen würde, wäre 1:1 Coaching und intensiver Sprachunterricht 3–4-mal die Woche in sehr kleinen Gruppen. Was wir im Moment anbieten können, reicht einfach mengenmäßig nicht, um die Kinder auf ein Sprachniveau zu bringen, das echte Teilhabe ermöglicht.« Sie empfiehlt »breit aufgestellte Netzwerke aus Lehrkräften und Ehrenamtlichen wie mir, die sich so organisieren, dass wir eine große Zahl an Kindern individuell unterstützen können. Seitens der Schule bräuchte es Koordinator:innen, Räume, Material, Anleitung und Supervision. Als Ehrenamtliche sind wir nämlich Dilettanten, denen Profis helfen müssen, wenn etwas qualitativ Gutes dabei herauskommen soll.«

Auch Paula Molina de Rohde, Lehrerin für Deutsch als Zweitsprache (DAZ) und selbst zugezogen, empfiehlt aus ihrer Erfahrung mehr Unterstützung für Migrantinnen und Migranten: Um Chancengleichheit zu wahren, müsse eine »zuverlässige und professionelle Nachmittagshausaufgabenhilfe entstehen«. Die Betreuung könnte etwa durch »Studierende erfolgen, koordiniert von einer lehrenden Person, die im engen Kontakt mit den Eltern das Lernen begleitet und ermutigt«.

Carsten Wiemann, Quereinsteiger an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen, sagt: »die Antwort ist einfach: kleinere Klassen, damit am Ende deutlich mehr für den einzelnen rauskommt.« Das Problem der fehlenden Lehrkräfte würde er »durch mehr Seiten- und Quereinstieg lösen, bis der notwendige Nachwuchs ausgebildet ist«.

Christian Bauer schlägt folgende fünf Punkte vor:

    »1. Den Föderalismus in der Bildungspolitik abschaffen (kein Geld der Welt würde dafür reichen, aber ich bin hier ja bei Wünsch-dir-was).

    2. Schuluniformen für alle und Klassen setzen sich aus Schülern mit guter Leistung und schlechter Leistung zusammen im Verhältnis 80:20.

    3. Lehrpläne ab Klasse 7/8 in jedem Fach um die Hälfte radikal streichen, Stundendauer verringern und mehr freiwillige Fächer anbieten (in denen man auch bewertet wird).

    4. Das Leistungsprinzip muss leider erhalten bleiben, weil unsere Welt nun mal so funktioniert.

    5. Mehr Personal und mehr Instandhaltung.

Da alle bei Bildungsinvestitionen nur an Nummer 5 denken, wird es nie strukturelle Veränderungen geben und in 20 Jahren wird das PISA-Ergebnis noch dasselbe sein.«

Debatte der Woche

Was spricht gegen Elterntaxis? Und helfen Straßensperren, damit Eltern und Kinder auf andere Verkehrsmittel umsteigen? Prof. Dr. Dirk Wittowsky, Jahrgang 1971, leitet das Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung an der Universität Duisburg-Essen und untersucht, wie sich Verkehr und Stadtstruktur sozial und ökologisch gerecht organisieren lassen. Dazu evaluiert er auch ein Modellprojekt in einer Essener Straße mit einer Grundschule und einem Gymnasium: Die Straße ist zu den Bring- und Abholzeiten für Autos gesperrt.

SPIEGEL: Herr Wittowsky, was gibt es bei einer Straßensperrung denn zu untersuchen?

Wittowsky: Ganz schön viel, denn es geht darum, wie Kinder sicher zur Schule kommen. Wie können wir die Wege so gestalten, dass Kinder eigenständig unterwegs sein können? Und wie lassen sich Konflikte reduzieren?

SPIEGEL: Welchen Konflikt gab es denn?

Wittowsky: Die Situation vor der Schule war wegen der sogenannten Elterntaxis gefährlich. Bis zu 60 Autos sind morgens binnen 20 Minuten vorgefahren. Sie halten auf dem Gehweg, Türen öffnen sich, Pkw fahren an, dazwischen Schüler auf Rollern, Fahrrädern oder zu Fuß. 1800 Kinder und Jugendliche gehen dort zur Schule.

SPIEGEL: Und durch die Sperrung gab es den nächsten Konflikt?

Wittowsky: Nein, die Eltern waren sehr verständnisvoll. Wenn man einen einheitlichen und gut kommunizierten Rahmen schafft, wird das akzeptiert. Natürlich haben sie Gewohnheiten, aber wir haben Alternativen geschaffen: Jetzt können Eltern ihre Kinder an drei Haltestellen in der näheren Umgebung absetzen. Da ist es während der Stoßzeiten zwar auch manchmal eng und nicht jeder hält sich an die Vorgaben. Aber die Probleme sind viel kleiner als vorher und das Schulumfeld ist sicher.

SPIEGEL: Wie werden die Elterntaxis von der Einfahrt in die Schulstraße abgehalten?

Wittowsky: Es gibt entsprechende Schilder. Und engagierte Eltern, die dort dreimal täglich stehen und Pylonen aufstellen, also Warnhütchen. Ganz am Anfang war die Verkehrspolizei dabei, falls jemand wenig Verständnis hat oder sich über die alternativen Halteangebote aufregt.

SPIEGEL: Das Modellprojekt läuft seit September und war höchstens für ein halbes Jahr angedacht, wird nun aber verlängert. Warum?

Wittowsky: Im nächsten Schritt geht darum zu untersuchen, was passiert, wenn die Eltern nicht mehr am Eingang der Straße stehen. Reichen die Schilder oder müssen wir noch besser aufklären oder gar über eine Schranke oder einen Poller nachdenken?

SPIEGEL: Bei dem Projekt geht es nur um die letzten Meter zur Schule. Findet bei den Eltern trotzdem ein Umdenken statt, also kommen mehr Kinder mit anderen Verkehrsmitteln?

Wittowsky: Nein, so schnell kann man Mobilitätsroutinen nicht aufbrechen. Der Anteil der Kinder, die mit dem Auto gebracht werden, ist mit etwa 25 Prozent an der Grundschule und 15 Prozent am Gymnasium relativ stabil geblieben, witterungsbedingt ging er sogar ein bisschen hoch.

SPIEGEL: Straßensperren allein reichen also nicht für eine Verkehrswende. Was empfehlen Sie?

Wittowsky: Wir brauchen natürlich sichere und attraktive Schulwege, die die Kinder dazu einladen, zu Fuß zu gehen oder Rad zu fahren. Und das Thema gehört in den Lehrplan: Wenn nachhaltige Mobilität in der Schule mehr stattfindet, bildet sich bei den Kindern, Eltern und Lehrern dafür ein Bewusstsein. Wir brauchen ein schulisches Mobilitätsmanagement, also einen wirklichen Planungsprozess. Das muss auch in den Städten viel stärker verankert werden.

SPIEGEL: Was gibt es konkret für Ansätze?

Wittowsky: Zunächst müssen wir Fuß- und Radwege ausbauen und den Parkraum an der Schule reduzieren. Daneben gibt es viele Ansätze wie einen Walking-Bus, bei dem Kinder gemeinsam zur Schule gehen. Oder ein Anreizsystem, bei dem die Klasse Kilometer für aktive Mobilität sammelt und als Belohnung etwa einen Teil des Unterrichts selbst gestalten oder einen Film schauen kann. Kinder brauchen ein Recht auf Mitsprache bei der Gestaltung des öffentlichen Raums. Und wir alle brauchen mehr Mut für Innovation und Investition, statt Bedenkenträger zu sein.

Das war’s für dieses Mal. Vielen Dank für Ihr Interesse und bis zum nächsten Mal! Wenn Ihnen ein Thema auf dem Herzen liegt: Sie erreichen uns unter [email protected]

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