Bundesverfassungsgericht: Kritik an der Bundesregierung ist erlaubt

bundesverfassungsgericht: kritik an der bundesregierung ist erlaubt

Julian Reichelt, ehemaliger Chefredakteur der Bild-Zeitung

Der frühere Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, Julian Reichelt, hat mit einer Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolg. Der Chef des Portals „Nius“ hatte sich gegen eine Entscheidung des Kammergerichts Berlin gewendet. Das Kammergericht hatte eine einstweilige Verfügung erlassen, der zufolge es Reichelt untersagt sein sollte, die Entwicklungshilfepolitik der Bundesregierung in Afghanistan zu kritisieren (Az. 10 W 184/23). Das Bundesverfassungsgericht befindet nun, dies stelle einen Eingriff in Reichelts Recht auf freie Meinungsäußerung aus Artikel 5 Grundgesetz dar. Die Entscheidung des Kammergerichts habe den Sinn von Reichelts angegriffener Bemerkung „und deren Charakter einer Meinungsäußerung erkennbar verfehlt“. Der Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts erging einstimmig (1 BvR 2290/23). Das Kammergericht muss sich mit dem Fall nun erneut befassen.

Reichelt hatte auf der Plattform X (vormals Twitter) geschrieben: „Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 Millionen Euro (!!!) Entwicklungshilfe an die Taliban (!!!!!!)“. Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?“ Verbunden war diese brachiale Einschätzung mit einem Link zu einem Artikel, der darlegte, dass die Bundesregierung in den vorangegangenen zwei Jahren rund 370 Millionen Euro an Entwicklungshilfe für Afghanistan geleistet hatte, mit dem Hinweis, diese sei an Hilfsorganisationen und nicht direkt an das Taliban-Regime geflossen (das indirekt von den Geldern selbstverständlich profitiert).

Das Landgericht ließ die Äußerung noch gelten

Bundesentwicklungshilfeministerin Svenja Schulze (SPD) wollte Reichelt die Äußerung verbieten lassen und stellte einen Antrag auf einstweilige Verfügung. Das Landgericht Berlin wies diesen in erster Instanz mit dem Verweis auf das Zusammenspiel zwischen Tweet und Artikel ab und legte dar, dass es sich bei der angegriffenen Sentenz um eine Meinungsäußerung handele (Az. 27 O 410/23). Das Kammergericht Berlin interpretierte die Publikation genau umgekehrt, meinte, der durchschnittliche Leser müsse dies so verstehen, dass die Bundesregierung direkt Geld an die Taliban gebe, zudem sei die Ministerin in ihrer Ehre angegriffen worden. Das Kammergericht gab gab dem Antrag in zweiter Instanz statt.

Reichelts Anwalt Joachim Nikolaus Steinhöfel stieg daraufhin nicht in ein Hauptsacheverfahren ein, sondern wählte den direkten Weg nach Karlsruhe, weil er die Grundrechte seines Mandanten verletzt sah. Das Bundesverfassungsgericht gibt ihm Recht. Die Karlsruher Richter bestätigen, dass die Verfassungsbeschwerde zulässig sei, weil „dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt“ sei. Auch müsse Reichelt nicht erst den üblichen Weg durch die Instanzen gehen, weil „die Durchführung des Hauptsacheverfahrens unzumutbar“ sei. Das zu erwartende Verfahren erscheine nämlich angesichts der bisherigen Entscheidung als „aussichtslos“.

In der Sache stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass auch staatliche Einrichtungen vor verbalen Angriffen geschützt werden müssen. Dies dürfe jedoch nicht dazu führen, sie „gegen öffentliche Kritik – unter Umständen auch in scharfer Form – abzuschirmen, die von dem Grundrecht der Meinungsfreiheit in besonderer Weise gewährleistet werden soll“.

Das Kammergericht, so stellen die Verfassungsrichter dar, habe weder den Zusammenhang von Reichelts Äußerungen hinreichend gewürdigt noch erkannt, dass es sich hier um eine Meinungsäußerung handele. Aus der Sicht eines Durchschnittslesers sei der Kontext zwischen der Kurznachricht und dem als Vorschau verlinkten Artikel erkennbar gewesen. Auch sei es falsch, Reichelts Anreißer-Text als unwahre Tatsachenbehauptung aufzufassen, denn man habe zu berücksichtigen, dass die Zahlungen der Bundesregierung in Afghanistan wenigstens mittelbar dem Taliban-Regime nützten. Reichelts Kritik an der Bundesregierung, so schreiben die Karlsruher Richter zusammenfassend, sei schließlich auch dann von der Meinungsfreiheit geschützt, wenn sich in ihr „Tatsachen und Meinungen vermengten“.

Reichelts Anwalt Joachim Nikolaus Steinhöfel sagte auf Anfrage der F.A.Z., die Bundesregierung sei „mit ihrem offensichtlich verfassungswidrigen Versuch gescheitert, einem Journalisten mit gerichtlicher Hilfe eine Meinungsäußerung zu verbieten„. Das Bundesverfassungsgericht habe der Regierung „eine Lektion darüber erteilt, was wirkliche Demokratieförderung ist. Den Steuerzahler könnten die Verfahren insgesamt einen sechsstelligen Betrag kosten. Der Staat ist jetzt verpflichtet, wegen offenkundiger Beratungsfehler Schadensersatzansprüche gegen seine anwaltlichen Vertreter zu prüfen.“

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