„Nicht nur der Mob auf der Straße – die Bedrohung kann für Einzelne ganz konkret werden“

Beleidigungen, Drohanrufe, Gewalt: An deutschen Hochschulen nimmt der Antisemitismus zu, Uni-Leitungen reagieren zögerlich. Für die Jüdische Studierendenunion war der jüngste Gewaltexzess gegen einen Studenten in Berlin nur „eine Frage der Zeit“. Jüdische Hochschullehrer schließen sich zusammen.

Noam Petri müsste eigentlich für seine Medizin-Klausuren lernen. Doch stattdessen ist der 20-Jährige an die Freie Universität Berlin gekommen, um gegen Judenhass zu demonstrieren.

Vor wenigen Tagen wurde der jüdische Student Lahav Shapira in Berlin zusammengeschlagen, befindet sich mit Brüchen im Gesicht im Krankenhaus. Ein 23-jähriger propalästinensischer Student soll ihn am Wochenende vor einer Bar niedergeschlagen haben, die Polizei geht von einem antisemitischen Motiv aus. Es ist der vorläufige Höhepunkt einer judenfeindlichen Eskalation an deutschen Universitäten seit dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023.

„Ich habe leider nur auf den ersten Fall gewartet“, sagt der 20-jährige Petri. „Aus Worten werden Taten, es war nur eine Frage der Zeit.“

Die FU geriet in den vergangenen Wochen immer wieder in die Schlagzeilen. So besetzten propalästinensische Studierende einen Hörsaal, es soll zu Angriffen auf einzelne Gegendemonstranten gekommen sein. Unter den Besetzern waren Linke, die den Hamas-Terror als „Widerstand“ bejubelten.

Erst am Donnerstag riefen jene Gruppen wieder zum Protest – und taten sich schwer, den Angriff auf Shapira zu verurteilen. Am Donnerstagabend brach die Humboldt-Universität in der Hauptstadt eine Veranstaltung mit Daphne Barak-Erez, Richterin am Obersten Gericht in Israel, ab. Propalästinensische Demonstranten schrien sie an, unterstellten Israel einen „Genozid“ in Gaza.

„Mainz, Bayreuth, Frankfurt, München, Berlin, das Problem ist riesig“, berichtet Petri, der Vizepräsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands ist. Berlin sei zwar derzeit der Brennpunkt, doch sein Verband höre ständig von neuen Vorfällen überall in Deutschland: „Aufrufe zur Intifada und Hörsaalbesetzungen, aber auch Drohanrufe und Drohnachrichten.“ An westdeutschen Universitäten steckten vor allem linke und muslimische Studierende dahinter, während im Osten die AfD und der Rechtsextremismus bedrohlicher würden.

Die Verunsicherung unter jüdischen Studierenden nehme entsprechend zu. „Es ist nicht mehr nur der Mob auf der Straße – die Bedrohung kann für Einzelne ganz konkret werden.“ Viele versteckten ihre Identität seit Monaten, manche mieden den Campus und lernten zu Hause. Wieder andere dächten ans Auswandern, so Petri.

Die zögerlichen Reaktionen auf die jüngsten Ereignisse ärgern den Medizinstudenten. Berlins Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra (SPD) regte zwar ein Hausverbot für den Studenten an, der Shapira angegriffen hatte. Doch sie betonte auch den „Austausch“ an der Universität, der zu „Konflikten“ führe.

Der Zentralrat der Juden hält Czyborra nicht mehr für geeignet. In einer ersten Reaktion auf den Angriff zeigte sich die FU Berlin „betroffen“ und distanzierte sich „von jeglicher Form von Hetze und Gewalt“.

„Das Problem wird nicht anerkannt“, sagt Petri. Es gehe nicht um Diskurs und Austausch, sondern um Antisemitismus. „Wir sprechen immer von ‚wehrhafter‘ Demokratie, aber wollen nicht durchgreifen“, sagt der 20-Jährige. „Man kann sich das ‚Nie wieder‘ sparen, wenn keine Taten folgen.“

Petri seufzt, wickelt sich eine Israel-Flagge um die Schultern und stellt sich zu den anderen Demonstranten.

„Die Uni-Leitung reagiert wachsweich“

Auch die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang ist zum Protest der Gruppe „Fridays for Israel“ gekommen, der Bundestagsabgeordnete Max Lucks und Volker Beck sind da (beide Grüne), die Bundestagsabgeordnete Ottilie Klein (CDU). Insgesamt stehen etwa 100 Menschen auf dem kleinen Platz vor der Mensa auf dem Campus in Berlin. Die FU hat rund 39.000 Studierende.

„nicht nur der mob auf der straße – die bedrohung kann für einzelne ganz konkret werden“

Grünen-Bundesvorsitzende Ricarda Lang (M.) nimmt am „Fridays for Israel“-Protest teil, rechts neben ihr zu sehen: Volker Beck, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Marlene Gawrisch/WELT

Mit dabei ist der Philosophiestudent Tom W., der mit einem Espresso in der Hand am Rand steht und eigentlich anders heißt. Er habe nichts von dem Protest gewusst. „Ich wollte mir meinen ersten Kaffee holen und habe mich über die Israel-Fahnen gefreut“, sagt er. „Auch diese Position muss mal sichtbar sein.“ Als Jude schaue er sich neuerdings auf dem Campus um, fühle sich nicht immer wohl – auch wenn ihm persönlich noch nichts passiert sei.

„nicht nur der mob auf der straße – die bedrohung kann für einzelne ganz konkret werden“

Doch auch in seinem Wohnheim hätten seit dem 7. Oktober israelfeindliche Plakate gehangen. Und eine Freundschaft habe unter den Differenzen in der Bewertung des Hamas-Terrors gelitten. Eine „sehr intellektuelle, zivilisierte Diskussion“ darum habe er mit einem Freund geführt. Tom habe im Austausch bleiben wollen, auch wenn die Meinungen völlig unterschiedlich seien. Doch seit diesem Gespräch herrsche Funkstille.

Ein Ehepaar steht am Rande, auch die Rentner wollen anonym bleiben. Eine kleine Israel-Fahne hätten sie an ihr Fenster gehängt, kürzlich sei „Zion = Nazis“ an die Hauswand gesprüht worden. Der Herr hält einen Schuhkarton-Deckel in der Hand, „Antisemit:innen raus aus der Uni“ steht darauf. „Die Uni-Leitung reagiert wachsweich und vieldeutig“, findet der Rentner.

„Sich gegen Diskriminierung stellen, ohne das Problem des Antisemitismus zu benennen, finde ich schwierig“, sagt auch Hannah, die ihren Nachnamen aus Sicherheitsgründen nicht nennen will. Sie will Solidarität zeigen. „Dass einem jüdischen Studenten aufgelauert und ins Gesicht geschlagen wird, darf nicht unkommentiert bleiben“, so die 26-Jährige.

„nicht nur der mob auf der straße – die bedrohung kann für einzelne ganz konkret werden“

Studentin Hannah Marlene Gawrisch/WELT

Das Zeichen der Solidarität an diesem Freitagmittag ist klein. Den rund 100 Demonstranten stehen Dutzende Journalisten gegenüber.

„Juden müssen sich frei bewegen, studieren und lernen können“

„Die Masse schweigt und wirkt dadurch mit“, sagt Julia Bernstein, Professorin an der University of Applied Sciences in Frankfurt am Main, am Donnerstag am Telefon. „Schweigen, Ignorieren und Wegschauen stützen eine Normalität, in die Antisemitismus längst Eingang gefunden hat.“

Bernstein ist eines der Gründungsmitglieder des „Netzwerks jüdischer Hochschullehrender“. Mehr als 80 Personen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz schlossen sich hier im Januar zusammen, um einen Ort des Austauschs zu schaffen. Informatiker, Mathematiker, Sozialwissenschaftler, Psychologen, Juristen, Mediziner. Sie alle hatten das Bedürfnis nach einem „sicheren Ort“ und Austausch. Veranstaltungen zu Israel oder Antisemitismus können häufig nur unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen, wie Einlass- und Taschenkontrollen oder Polizeischutz stattfinden.

„nicht nur der mob auf der straße – die bedrohung kann für einzelne ganz konkret werden“

Julia Bernstein, Frankfurter Uni-Professorin und Gründungsmitglied des „Netzwerks jüdischer Hochschullehrender“ via Julia Bernstein

Auch Bernstein, die seit vielen Jahren zu Antisemitismus in Deutschland forscht, erreichen immer mehr Berichte von Studierenden über antisemitische Vorfälle. „Man achtet darauf, nicht als Jude aufzufallen, versteckt die Davidstern-Kette, spricht kein Hebräisch“, so Bernstein. „An einigen Universitäten ist die Bedrohung konkret: verbale Beleidigungen oder Nachstellungen.“ Viele fühlten sich völlig alleingelassen, weil die Solidarität nur zögerlich komme. Die Reaktion der FU zeige, dass die Benennung des eigentlichen Problems immer noch schwerfalle.

„Diese Zustände können wir gerade in Deutschland nicht hinnehmen“, betont Bernstein. „Juden müssen sich frei bewegen, studieren und lernen können. Ohne Angst.“

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