Brief aus Istanbul: Tauwetter bei Erdogan?

brief aus istanbul: tauwetter bei erdogan?

Herzliche Begrüßung: Der türkische Präsident (r.) empfängt eine Delegation der Hamas um Ismail Haniyya (l.).

Ist es nicht das Ideal eines jeden von der Politikwissenschaft als „Zoon politikon“ bezeichneten Wesens, wie Recep Tayyip Erdoğan zu sein, der die Türkei seit 22 Jahren regiert? Er hat unbeschränkte Befugnisse und ist niemandem Rechenschaft schuldig. Gelder verteilt er ebenso wie Recht. Und verkrustete Regierungen sind mit Wahlen auch nur schwer abzusetzen, nicht wahr? Doch das gilt nicht mehr. Erdoğan schmückt nicht länger die Träume politischer Wesen. Und das nicht allein aufgrund seiner Niederlage bei den Kommunalwahlen vom 31. März, sondern weil ihm in wichtigen Bereichen, in denen er verlorene Stimmen wieder wettmachen könnte, die Hände gebunden sind.

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Beginnen wir bei der Wirtschaft. Die Wirtschaftskrise, in die der Palast die Türkei gesteuert hat, trägt einen Großteil der Verantwortung dafür, dass Erdoğans AKP zum ersten Mal seit 22 Jahren nur zweitstärkste Kraft wurde. In diesem Land hält die Armut nicht nur die Unterschicht im Griff, sondern auch die Mittelschicht. Gegen 40 Millionen von 85 Millionen Einwohnern laufen Vollstreckungsverfahren, weil sie ihre Kreditkartenschulden nicht bezahlen können. Jahrelang rühmte die Türkei sich ihrer jungen Bevölkerung, hat aber nun auch diesen Vorteil eingebüßt, weil die Geburtenrate infolge der Wirtschaftskrise gesunken ist. Als Erdoğan an die Macht kam, lag der Anteil der Unter-17-Jährigen bei 40 Prozent, heute bei 26 Prozent. Gravierender noch: Wegen der Armut sind 22 Prozent der Minderjährigen erwerbstätig. Obwohl die Bevölkerung in der Ära Erdoğan um 30 Prozent wuchs, fiel die Zahl der Eheschließungen um zehn Prozent und verdoppelte sich die der Scheidungen. Die Krise wirkt sich nicht bloß demographisch aus, sie erschwert den Zugang zu Lebensmitteln. In Deutschland zahlen Sie für eine Portion Döner, wie Sie ihn mit der Arbeitsmigration aus der Türkei seit den 1960er-Jahren kennengelernt haben, etwa acht bis neun Euro. Wir legen in Istanbul für einen Döner, von dem wir sicher sind, dass er Fleisch enthält, rund zwölf Euro hin. Es sei daran erinnert, dass beinahe 60 Prozent der Bevölkerung mit dem Mindestlohn von rund 485 Euro auskommen müssen.

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Bülent Mumay

Die Menschen der Unter- und Mittelschicht sind von Armut geplagt, unterdessen nimmt die Bereicherung von AKP-Führungskadern ebenso zu wie der Unmut in der Bevölkerung. Personen, die Erdoğan in die Politik holte, posieren beim Hummerschlemmern in einem Jachtclub in Monaco, beim Urlaub im türkisfarbenen Meer der Malediven oder halten ihre Rolex im Wert mehrerer Zehntausend Euro in die Kamera. Um dieses ökonomische Zerrbild aufzulösen, kann Erdoğan nur eines tun: Die orthodoxe Wirtschaftspolitik, zu der er nach Aufgabe seiner abstrusen Wirtschaftstheorie wieder übergegangen ist, intensivieren. Was nicht einfach ist. Um die Jahresinflation von 70 Prozent – tatsächlich ist sie doppelt so hoch – zu drücken, muss er die Politik des Gürtel-enger-Schnallens fortsetzen. Das bedeutet, den Kurs zu steuern, der ihn Stimmen gekostet hat. Doch wenn die Massen weiter verarmen, werden sie sich in Scharen von Erdoğan abwenden.

Sonst lässt er dementieren wie der Blitz

Neben der Wirtschaft führte ein weiterer Faktor zum Stimmenverlust: Erdoğans Haltung nach dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober. Die islamistische Partei, die der AKP seit ein paar Jahren Stimmen abjagt, instrumentalisierte in ihrer Wahlkampagne propagandistisch die Tatsache, dass etliche Frachtschiffe, darunter auch solche im Besitz eines Erdoğan-Sohns, trotz der Angriffe gegen Gaza weiter Waren nach Israel transportierten. Die Neue Wohlfahrtspartei forderte ein Embargo gegen Israel, womit sie Erdoğan in Bedrängnis brachte und als drittstärkste Partei aus den Kommunalwahlen hervorging. (Den Aufstieg dieser Partei schilderte ich in meinem vorangegangenen Brief.) Vor den Wahlen ignorierte Erdoğan diese Forderung, verlegte sich aufs Leugnen, musste aber zurückrudern, nachdem er die Rechnung bei den Wahlen präsentiert bekommen hatte: Der Export von 54 Produkten nach Israel, darunter Flugzeugtreibstoff, ist gestoppt.

Als er mit dieser verspäteten Reaktion die islamistischen Kreise nicht zufriedenstellen konnte, legte Erdoğan noch eins drauf. Er lud den politischen Führer der Hamas in die Türkei ein. Die aber steht beim Club des Westens, zu dem er seine Beziehungen aufzupolieren bestrebt ist, auf der Liste der Terrororganisationen. Es wurden Fotos lanciert, die zeigen, wie er Ismail Haniyya umarmt. Während das Treffen Erdoğan innenpolitisch teilweise dienlich war, führte es zu Stirnrunzeln im Westen, von dem er doch Investitionen und politische Unterstützung erwartet. US-Präsident Biden empfing Erdoğan in den viereinhalb Jahren seit seinem Amtsantritt aller Erwartungen Ankaras zum Trotz bisher nicht im Weißen Haus. Nachdem Ankara seine Blockadehaltung in der NATO aufgegeben hatte, war es ihm in Folge der Wiederannäherung gelungen, einen Termin für den 9. Mai im Weißen Haus zu bekommen. Die um einige Punkte in der Wählergunst willen veröffentlichten Bilder der Freundschaft mit Haniyya aber gefährdeten diesen Termin nun. Kann Biden, der an der Seite Israels steht, Erdoğan die Hand schütteln, wenige Wochen nachdem dieser Haniyya umarmt hat? Vor ein paar Tagen verbreitete sich die Nachricht, der Termin im Weißen Haus sei abgesagt. Vonseiten Erdoğans, der normalerweise wie der Blitz dementieren lässt, kam kein Ton dazu.

Der Boden, den Erdoğan sondiert, trägt nicht

Erdoğan versucht gern, sich Konflikte zwischen Dritten zunutze zu machen, um diplomatische Triumphe einzufahren, kann diese Taktik aufgrund des Stillstands in der Gazakrise aber nicht länger nutzen. Nach dem 7. Oktober hatte Erdoğan gehofft, den Vermittler geben zu können, verlor diese Rolle aber aufgrund der selbst verschuldeten Unzuverlässigkeit an Ägypten und Qatar. Doch er kann zur Überwindung der innenpolitischen Klemme seinen auf Polarisierung gerichteten autoritären Regierungsstil revidieren, den die Wählerschaft längst satthat. Wenn er die Türkei mit einer gemäßigten Politik Richtung Demokratie steuert und die Maske des „Muslim-Demokraten“, die er bei seinem Regierungsantritt 2002 trug, wieder anlegt, kann er einen Teil der verlorenen Stimmen zurückgewinnen. Schritte wie das relativ milde Statement am Abend nach der Wahlniederlage, die Ankündigung, mit dem Chef der siegreichen Oppositionspartei CHP sprechen zu wollen, die Vertagung der Verhandlung, in der das Urteil lebenslange Haft für den kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş zu erwarten steht, und seine Erwähnung einer Revision des zum Ein-Mann-Regime gewordenen Präsidialsystems lassen fragen: „Signalisiert Erdoğan Tauwetter?“ Nicht von ungefähr schrieb ein für seine Nähe zu Erdoğan bekannter Kolumnist, es wäre gut für die Türkei, den seit sieben Jahren inhaftierten Menschenrechtler Osman Kavala freizulassen.

Doch aus zwei Gründen kann Erdoğan solcherlei demokratische Maßnahmen nicht ergreifen: Es ist die Aussetzung der Demokratie, die Erdoğans Macht verlängert. Erhält die Türkei echte Demokratie zurück, bedeutet das Meinungsfreiheit. Die Opposition könnte sich frei politisch betätigen, Journalisten und Intellektuelle würden nicht inhaftiert werden. Wir hätten wieder die Freiheit zu protestieren. Erdoğan weiß genau, dass es seine Macht schwächen würde, wenn das Volk außer der Möglichkeit zu wählen wieder unmittelbar an der Demokratie beteiligt ist. Frank und frei Kritik zu äußern würde sein politisches Leben im Palast verkürzen. Selbst für den Fall, dass er dieses Risiko eingeht, kann sein Bündnispartner, die ultranationalistische MHP, der er auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, Schritte dieser Art nicht zulassen. Nachdem Erdoğan die Brücken zu allen anderen, von Kurden bis zu säkularen Kreisen, abgebrochen hatte, waren ihm als Bündnispartner einzig die Ultranationalisten geblieben. Ohne Unterstützung der MHP, mit der gemeinsam er Justiz und Polizei lenkt, kann Erdoğan sich nicht an der Regierung halten. Die harsche Reaktion der MHP auf den regierungsnahen Kolumnisten, der die Freilassung Kavalas aufs Tapet brachte, bewies, dass der Boden, den Erdoğan sondiert, nicht trägt.

Ergänzen Sie die angeführten Gründe noch um folgende Punkte: Erdoğans Führungskult hat sich abgenutzt, und das Dogma seiner Unbesiegbarkeit ist dahin. Außerdem ist die Opposition in der Lage, Wahlen zu gewinnen, die errungenen Kommunen erfolgreich zu regieren und zudem Kandidaten aufzubauen, die Erdoğan besiegen können. Würden Sie da, wenn Sie ein Zoon politikon wären, heute noch wie Erdoğan sein wollen?

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.

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