Brief an NATO-Verbündete Die Bundesregierung sucht Patriots für die Ukraine

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Ein Bundeswehrsoldat neben einem Patriot-System

Lange schon fordert Kiew von seinen Verbündeten Hilfe, um die eigene Luftver­teidigung zu verbessern. Am Mittwochmorgen zeigte sich wieder, wie dringend notwendig das ist. Nach ukrainischen Angaben schlugen drei russische Raketen im Zentrum von Tschernihiw ein, etwa 70 Kilometer entfernt von der russischen Grenze. Mindestens 17 Menschen wurden getötet, mehr als 60 verletzt. Wieder forderte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj danach, mehr für die Flugabwehr seines Landes zu tun. Diese Dringlichkeit sieht man auch in Berlin. Dort versuchte man in den vergangenen Tagen nicht nur durch die Lieferung eines dritten eigenen Patriot-Systems zu helfen – sondern auch Partner innerhalb und außerhalb der NATO zu überzeugen, noch mehr bereitzustellen.

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Zerstörtes Gebäude in Tschernihiw

Selenskyj hatte schon am Dienstag den Druck erhöht, um die Luftverteidigung seines Landes zu verbessern. „Die Ukraine wird ein Treffen des Ukraine-NATO-Rats beantragen, um über den Schutz un­seres Himmels, die Versorgung mit Flugabwehrsystemen und Raketen zu reden“, kündigte er in seiner täglichen Video­botschaft an die Bevölkerung an. Am Mittwoch teilte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg mit, dass der Ukraine-NATO-Rat an diesem Freitag tagen soll. Beim vorigen Treffen dieses Gremiums hatte Außenminister Dmytro Kuleba eindringlich davor gewarnt, dass seinem Land die Abfangraketen ausgingen. Allein im März hatte Russland 94 ballistische Raketen auf die Ukraine abgefeuert. Sie können verlässlich nur mit dem Pa­triot-System bekämpft werden.

Kuleba bat auch um weitere Einsatzstaffeln, um Siedlungszentren besser schützen zu können. Kiew hatte Abwehrsysteme zeitweilig näher an die Front verlegt und damit zur Überraschung Russlands etliche Kampfflugzeuge und sogar Flugzeuge zur Luftraumüberwachung abgeschossen. Im Gegenzug konnten die Russen allerdings wertvolle Infrastruktur in der Ukraine zerstören, weil sie nicht mehr geschützt war. Nach Angaben Selenskyjs würde Kiew insgesamt 25 Patriot-Staffeln benö­tigen, um seinen gesamten Luftraum „abzuriegeln“. Kurzfristig hat das Land um sieben weitere Staffeln gebeten; davon wird Deutschland nun eine liefern.

Griechenland hat zwölf Staffeln

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TOPSHOT – Soldiers of the German Armed Forces Bundeswehr stand in front of a Patriot missile system during the German Chancellor’s visit at the military part of the airport in Cologne-Wahn, western Germany, to attend a demonstration of the German army’s Homeland Defence Command, on October 23, 2023. (Photo by INA FASSBENDER / AFP)

Die Beschreibungen Kulebas hatten auch in Berlin tiefen Eindruck hinterlassen. Sie waren der Ausgangspunkt dafür, nicht nur die eigenen Bestände noch einmal zu durchsuchen. Nach dieser Sitzung startete aus dem Außen- und dem Verteidigungsministerium eine neue Initiative, um nicht nur genau auszumachen, wo bei den Partnern überhaupt noch Patriot-Einheiten und andere Systeme zur Luftverteidigung vorhanden sind. Sondern nach Lösungen zu suchen, wie die Systeme schnell in die Ukraine kommen können. Außenministerin Annalena Baerbock und Verteidigungsminister Boris Pistorius haben nicht nur dazu viel telefoniert, sondern auch gemeinsam einen Brief geschrieben an die NATO-Staaten und andere Partner, die über solche Systeme verfügen. Die Zeit für sofortige Maßnahmen zur Luftverteidigung sei jetzt gekommen, heißt es darin.

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German Chancellor Olaf Scholz meets with members of the Patriot air defense missile system unit as he visits the Cologne-Bonn Air Force base to attend a demonstration of the capabilities of the Territorial Command of the German army Bundeswehr in Wahn, a suburb of Cologne, Germany, October 23, 2023. REUTERS/Wolfgang Rattay

Bisher verfügt die Ukraine lediglich über drei Staffeln, zwei aus Deutschland und eine aus den USA. Eine Staffel oder Feuereinheit besteht aus einem Multifunktionsradar zur Erfassung, Verfolgung und Bekämpfung von Luftzielen, mehreren Abschussgeräten (bis zu acht bei der Bundeswehr), einem Feuerleitstand für die Zielplanung und einem Aggregat zur Stromversorgung – alles mobil. Werden mehrere Feuereinheiten unter­einander verschaltet, ist außerdem eine An­ten­nen­mastanlage erforderlich.

In Europa betreiben mehrere Staaten das Patriot-System in unterschiedlichen Varianten. Griechenland verfügt über zwölf Staffeln, Rumänien, die Niederlande und Schweden haben jeweils vier Staffeln. Polen hat acht Feuereinheiten bestellt, von denen zwei geliefert worden sind. Spanien hat im vorigen Jahr vier Feuereinheiten bestellt, die Schweiz wartet seit 2021 auf fünf Einheiten. Außerhalb Europas verfügen neben den Vereinigten Staaten, die das System ent­wickelt haben, Japan, Südkorea, Taiwan und fünf Golfstaaten über Patriots. Daher gingen die Briefe der deutschen Minister auch nicht nur an die NATO-Partner.

Die Bundeswehr hat nur wenige Patriots

Die Bundeswehr verfügt zwar insgesamt über zwölf Patriot-Staffeln, mit der neuen Zusage werden aber bald drei davon in der Ukraine sein. Seit Monaten wird versucht, diese ohnehin kargen Bestände möglichst klug zu positionieren und möglichst viele Staffeln zum sowieso lückenhaften Schutz Deutschlands und der Verbündeten bereit zu haben. Der Inspekteur der Luftwaffe, Ingo Gerhartz, hat noch vor Kriegsausbruch zwei Kampfstaffeln der Flugabwehrraketengruppe 26 in die Slowakei geschickt. Das sollte die Bereitschaft der NATO unterstreichen, das eigene Gebiet bei einem russischen Überfall zu verteidigen. Die Patriots sollten dort den Militärflugplatz in Sliac gegen eventuelle Übergriffe sichern. Bald stellte sich heraus, dass es dort außer ein paar alten MiG-Kampfflugzeugen praktisch nichts zu verteidigen gibt. Die slowakische Seite wollte zwar die Systeme behalten, war aber nicht bereit, die nötige In­frastruktur bereitzustellen. Schon im Dezember 2022 reiste Gerhartz an, um die damalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht bei einem Besuch in Sliac von der Notwendigkeit eines Abzugs zu überzeugen. Vergeblich.

Wenig später musste die Luftwaffe weitere Staffeln der Flugabwehrraketengruppe 24 entsenden. Diesmal nach Po­len, weil dort ein Flugkörper die Grenze überquert hatte, sei es von russischer, sei es versehentlich von ukrainischer Seite. Gleichzeitig war klar, dass Deutschland der Ukraine Patriots zur Selbstvertei­digung liefern würde. Mit einem diplo­matischen Trick gelang es Gerhartz, die Patriots aus der Slowakei und Polen zurückzuholen, indem er den Schutz des Luftraums zum NATO-Gipfel im litau­ischen Vilnius übernahm und dafür die ausgeliehenen Patriots zurückbrachte. En­de Dezember 2023 waren die verbliebenen Staffeln wieder beim Flugabwehrraketengeschwader im schleswig-holsteinischen Husum. Ein Teil davon wird nun abermals an die Ukraine geliefert. So hat die Bundeswehr, die ihre Heeresflugabwehr 2012 abgeschafft hat und ei­ne Neuaufstellung ebenso beabsichtigt wie die Beschaffung der offenkundig wirksamen IRIS-T-Flugabwehr, derzeit nur noch neun von zwölf Staffeln. Prekär wird die Lage auch dadurch, dass die Nachbestellung der Erstabgaben fast ein Jahr dauerte und der bestellte Ersatz etwa 2029 eintreffen soll. So ist jede Abgabe mit politischen, aber auch militärischen Risiken verknüpft.

Es schien nichts mehr möglich zu sein

So erklärt sich, dass Baerbock noch vergangene Woche in der Regierungsbefragung im Bundestag auf eine Frage aus den Reihen der CDU geantwortet hatte, Deutschland könne nicht mehr liefern aus eigenen Beständen. Es schien nichts mehr möglich zu sein. Die Absprachen zwischen den beiden Ministerien waren in diesen Tagen schon eng. Erst aus Rückläufen aus der Instandsetzung aber war schließlich am Samstag die Zusage zur Lieferung ei­ner weiteren Staffel möglich. Politisch dient diese Zusage an die Ukraine aber auch als Motivation für die Partner, selbst noch einmal alles zu durchforsten. In dem Brief der Minister an die Partner wird daher auch auf diese dritte Patriot-Lieferung verwiesen, aber auch auf die mehr als 50   Gepard-Flugabwehrpanzer und vier IRIS-T-Systeme, die Deutschland bereits geliefert habe. Jeder könne etwas beitragen, heißt es, womöglich auch mehr, als man es in der Vergangenheit für möglich gehalten habe. Es müsse nur schnell gehen.

In Berlin macht man dabei deutlich, dass jedes einzelne System helfen kann. Und man denkt dabei nicht nur an direkte Lieferungen an die Ukraine. Japan dürfte das auch gar nicht – aber hatte zumindest die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, um Amerika Patriot-Einheiten zu senden als Ersatz für deren Lieferungen an die Ukraine. So hatte es das Weiße Haus schon im Dezember mitgeteilt. Denkbar wäre auch, dass neue produzierte Systeme nicht sofort an den Besteller gehen, sondern erst mal einige Monate an die Ukraine geliehen werden, bevor sie weitergereicht werden. Das wirft aber die Frage auf, ob es dafür einen finanziellen Ausgleich gibt – und bringt das Risiko mit sich, dass das System womöglich Schaden er­leidet. Die Auftragsbücher des Herstellers Raytheon sind jedenfalls gut gefüllt, für die Hardware wie auch für Abfangraketen. Angeblich kann er eine vollständige Feuereinheit pro Monat fertigen. Anfang des Jahres bestellten vier NATO-Staaten bis zu 1000 Lenkflugkörper für ihre Systeme, darunter 500 für die Bundeswehr. Sie werden in Kooperation mit MBDA in Schrobenhausen gefertigt und sollen zwischen 2030 und 2034 ausgeliefert werden.

Über die bessere Ausstattung der Ukraine wollten am Mittwochabend auch die Staats- und Regierungschefs der Euro­päischen Union beraten. „Der Europäische Rat hebt die Notwendigkeit hervor, die Ukraine dringend mit Luftverteidigungssystemen auszustatten“, hieß es in den vorbereiteten Schlussfolgerungen, „und die Lie­ferung aller nötigen militärischen Un­terstützung zu intensivieren, einschließlich Artilleriemunition und Raketen“. Auch auf dem G-7-Gipfel der Außenminister, der am Dienstagabend auf der italienischen Insel Capri begonnen hat, sollte das Thema angesprochen werden. Aus der Ukraine drohen jeden Tag wieder neue Nachrichten über russische Angriffe, die an der Dringlichkeit keine Zweifel lassen sollten.

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