Vizekusen? Der Witz hat sich bald erledigt. Fans von Bayer 04 Leverkusen beim Heimspiel gegen den 1. FC Köln im Oktober des vergangenen Jahres.
Etwas für unmöglich Gehaltenes wird sich ereignen. Ich glaube daran, doch ich bin ein Zweifler. Der Hinweis auf das Bevorstehende musste mir deutlich vor Augen geführt werden. In der 58. Minute des DFB-Pokal-Viertelfinals im Februar erzielte Chris Führich das 2:1 für den VfB Stuttgart. Sekunden zuvor hatte es einen ruinösen Leverkusener Ballverlust am eigenen Strafraum gegeben; es war nicht der erste an diesem Abend. Anhänger anderer Mannschaften hoffen in solchen Momenten weiter auf den Sieg und halten sich an glorreichen Erinnerungen fest. Ich habe im Stuttgarter Torjubel den Fernseher ausgeschaltet und den Rest des Spiels verpasst.
Zu oft Titel verspielt und verschleudert
Man darf dies Defätismus nennen, ich begreife es als Selbstschutz. Nach Monaten des Erfolgs ging es in diesem Viertelfinale darum, unter großem Druck einen starken Gegner zu schlagen, um die Ernte einzufahren. Seit dem Frühjahr 1996, ich war acht Jahre alt, gehört Bayer 04 Leverkusen zu meinem Leben. Da ich in Sachen Ernte auf eine satt zweistellige Zahl schlechter und nicht eine gute Erfahrung komme, bin ich mit dem Schuss von Chris Führich ausgestiegen.
Unterhaching 2000, das Vizetriple 2002, Pokalfinale 2009 und 2020. Zu oft wurden die Titel verspielt, verschleudert, geradezu mit verneinender Gebärde weggeworfen. Kaiserslautern wurde Meister, Nürnberg Pokalsieger, Leverkusen über alle Wettbewerbe hinweg neunmal Zweiter. Das ist meine Bilanz.
Dieses Viertelfinale war das bis dahin schwächste Spiel der Saison. Nichts war zu sehen vom Xabi-Alonso-Fußball, stattdessen reihenweise Ballverluste. Wieder war ich der Illusion erlegen, diesmal würde es anders. Doch dann geschah das Erstaunliche im Kleinen, das mich an das Große glauben lässt. In der 90. Minute köpfte Jonathan Tah Leverkusen zum Sieg. Die Flanke, die er über die Linie drückte, hatte der beste Spieler geschlagen, der je für Bayer 04 aufgelaufen ist. Zwar machte auch Florian Wirtz ein schlechtes Spiel, doch es reichte, um die Begegnung mit zwei brillanten Vorlagen zu entscheiden.
Solche Auftritte habe ich erlebt, allerdings stets zum Schaden von Bayer 04 durch Spieler wie Zidane oder Messi. Jetzt war es anders. Das Spiel gegen den VfB war das Ringen einer großen Mannschaft an einem schlechten Tag. Dass ich dies zunächst missverstanden habe, tut mir leid, aber alle fußballhistorischen Gesetze, von deren Existenz ich überzeugt bin, waren auf meiner Seite.
Meine Mannschaft scheitern zu sehen, war ein Axiom
Meine Mannschaft im Moment der Entscheidung immer scheitern zu sehen, war ein Axiom, ein Eckpfeiler meiner Existenz. Errichtet worden ist dieses Mahnmal ewigen Misserfolgs im Mai 2000 in Unterhaching. Der schwarze Samstag, an dem Bayer 04 alles verspielte, ist mir präsent. Er ist gespeichert als Protokoll des ersten schmerzhaften Verlustes: Du bekommst nicht alles. Du lebst von nun an mit Unterhaching. Mein Trauma.
2015 ist Bayer 04 im DFB-Pokal noch einmal in Unterhaching, längst unterklassig, angetreten. Für mich und viele andere war im Augenblick der Auslosung klar: Da können wir nicht hinfahren. Schon der Gedanke an den Sportpark-Unterhaching-Schriftzug auf dem trostlosen Vereinsheim bereitet mir körperlichen Schmerz.
Hinzu kommt, dass die Identitätspolitik die durch Sport definierte Zugehörigkeit noch nicht für sich entdeckt hat. Leverkusener sind seit Unterhaching ungehemmtem Spott ausgesetzt. Den erleben auch Fans anderer Vereine. Der angeblich nach Fisch stinkende Bremer findet aber Frieden im Trophäenschrank: Sollen sie reden, wir waren deutscher Meister. Was konnte ich auf Vizekusen-Witze antworten, außer, dass sie einen wahren Kern haben?
Ich habe gelitten und leide immer noch
Wenn der Satz stimmt, man suche sich seinen Verein nicht aus und könne nichts für dieses Identitätsmerkmal, müsste vom woken Standpunkt aus höchste Sensibilität gefordert werden. Mir scheint allerdings, dass die Fußballleidenschaft, bei der es sich um eine entschieden vorrationale Angelegenheit handelt, an einschlägigen Lehrstühlen nicht weit verbreitet ist. Und ja, ich habe gelitten und leide noch, aber ebenfalls ja, so viele Schicksale wiegen schwerer.
Meine Geschichte beginnt am 10. Dezember 1995 vor dem Müngersdorfer Stadion in Köln. Um auf den Eintritt beim FC eine Kinderermäßigung zu erhalten, führte die Frau im kölschen Kassenhäuschen aus, müsse man auch bei Dauerfrost zwei Stunden vor Anpfiff an der Arena sein. Das Heimspiel der Kölner gegen den FC Hansa Rostock – mit dem ich damals, wegen der stolzen Kogge im Wappen, sympathisierte – war mein erstes, im Nachhinein irrelevantes Bundesligaspiel. Prägendes entwickelte sich danach. Im Zorn über die Ticketpreisgestaltung sandte mein Vater einen Leserbrief an unsere rheinische Lokalzeitung, auf den der FC – warum sollte er auch – bis heute nicht reagiert hat.
Und dann kam das Paket von Bayer 04
Einige Tage nach der Veröffentlichung trudelte ein Paket bei uns ein, das in meiner Erinnerung so groß ist, dass ich darin hätte verschwinden können. Dieses Paket kam von Bayer 04 Leverkusen und war, im Verhältnis von Aufwand zu Ertrag, vermutlich die beste Maßnahme der Vereinsgeschichte. Auf ein paar Freikarten, Autogramme und Fanartikel antworte ich mit lebenslanger Treue.
Im Frühjahr 1996 war ich Zeuge, als Ulf Kirsten und Rudi Völler einen 2:1-Sieg gegen 1860 München herausschossen. Auch ich habe mir meinen Verein nicht gesucht, er hat mich gefunden. Offensichtlich gibt es Argumente dafür, sich über die damalige Leverkusener Anwerbungspolitik lustig zu machen. Aber man sollte sich vergegenwärtigen, welch faszinierende Wirkung davon auf einen kleinen Jungen ausging: Komm zu uns, wir brauchen dich hier.
In der folgenden Sommerpause wies Bayer 04 uns per Anruf darauf hin, dass die Mannschaft ein Testspiel in der Nähe bestreite. Als ich nach Abpfiff in meinem mit „Alka-Seltzer“ bedruckten Trikot über den Dorffußballplatz rannte, nahm Reiner Calmund mich kurz in den Arm und sagte „Juuut, mein Junge“. So lief das, als das Haberland-Stadion in Leverkusen noch ein Hufeisen mit Rasenhügel hinter einem der Tore war.
Betrachte ich heute, fast 30 Jahre später, Professionalisierungsgrad, Stadion und Fanszene, muss ich zugestehen: Das hat sich alles prächtig entwickelt. Aus den Augen verloren habe ich meine Mannschaft nie, aber die Tuchfühlung ist in der zweiten Hälfte der Zehnerjahre abhandengekommen. Ob Leverkusen in der Bundesliga Zweiter oder 15. wird, war mir gleichgültig. Der Abstieg durfte es nicht sein. Und wer zog 2020 in das Pokalfinale ein und lag nach 20 Minuten schon mit 0:2 zurück? Bayer Leverkusen.
Mich interessieren Titel. Vor allem möchte ich erkennen können, dass der Verein gewinnen will. Wittere ich dies, bin ich leicht entflammbar. Die Struktur des Profifußballs, die wachsende Konzentration auf wenige Großklubs macht es einem Verein wie Leverkusen allerdings immer schwerer. Mit den von Kritikern gern bemühten Bayer-Millionen kommt man heute nicht weit. Im Pokal kann immer was gehen, aber den Gewinn der Meisterschaft hatte ich abgeschrieben und zu den unerfüllbaren Lebensträumen in den Giftschrank gelegt.
Auf einmal passt alles zusammen
Nun also diese Saison, in der alles zusammenpasst. Eine erfolgsversessene Klubführung, ein bei soliden Finanzen brillant zusammengestellter Kader und eine, ich muss den Begriff bemühen, Lichtgestalt als Trainer. Plötzlich ist der Spieß umgedreht, das neue Ausmaß an Inspiration beunruhigt mich. Schauen Mannschaft und Trainer nicht fordernd in meine Richtung? Wie kann ich meinen Mitarbeitern in der Firma ein Xabi Alonso sein? Bin ich der Florian Wirtz unter den Söhnen und Ehemännern, eigne ich mich als Vater? In einer Welt, in der selbst Bayer 04 reüssiert, wo geht da für mich die Reise hin? Die Ansprüche sind so hoch, dass ich scheitern muss, aber sie stellen die Spannung wieder her.
Dauerkarte und Mitgliedschaft habe ich vor Jahren abgegeben. In dieser Saison schaffe ich es deshalb kaum, ein Ticket zu ergattern. Wenn es so weit ist, werde ich in einer Leverkusener Kneipe stehen. Irgendein Schiedsrichter wird irgendein Spiel, hoffentlich schon das kommende gegen Werder Bremen, abpfeifen und damit den Augenblick besiegeln, auf den ich 28 Jahre lang – das macht ziemlich genau 950 Bundesligaspiele – gewartet habe.
Ein Teil der Lebenslast, von der man weiß, man trägt sie bis zum Ende, wird vergehen. Ein irreversibler Verlust wird ausgeglichen. In meiner Wahrnehmung werde ich ein buchstäbliches Wunder erleben, und es ist schwer auszurechnen, wie sich das anfühlen wird.
Eines ist bereits vereinbart. Sobald die Tränen trocken sind, werde ich mit einem Gleichgesinnten für einige Stunden im Auto sitzen. Angekommen in Unterhaching, werden wir Frieden mit dem Sportpark schließen. Vielleicht gibt es im Vereinsheim sogar nette Menschen und eine anständige Currywurst.
Der Autor arbeitet für einen deutschen Netzbetreiber am Ausbau der Offshore-Windenergie. Er lebt mit seiner Frau 40 Kilometer von der BayArena entfernt in Wuppertal.
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