„Es sind nicht nur wir. Diese Extremisten, diese Terroristen können zu euch kommen“

136 Israelis sind seit 101 Tagen in der Gewalt der Hamas-Terroristen. In Berlin schildern Angehörige der Entführten, in welchem Albtraum sie gefangen sind. Und sie stellen klar, worum es in Israels Krieg ebenfalls gehe: Islamisten bedrohten auch Europa – der Terror könne jeden treffen.

„es sind nicht nur wir. diese extremisten, diese terroristen können zu euch kommen“

Angehörige der Hamas-Geiseln besuchen Berlin (v. l.): Idit Ohel, Raz Ben Ami, Yehiel Yehoud Martin U. K. Lengemann/WELT (3)

Yehiel Yehoud hat Albträume. Wieder und wieder höre er seine Tochter Arbel um Hilfe schreien. „Papa, wo bist du?“, rufe die 28-Jährige.

Die Deutsch-Israelin ist in Gaza, seit 101 Tagen von Terroristen der Hamas als Geisel festgehalten. Wo sie ist, wie es ihr geht, ob sie noch lebt – all das weiß ihr Vater Yehiel Yahoud nicht.

In seinen Gedanken verfolgten ihn die Sorgen, berichtet er. Gedanken an die sexualisierte Gewalt gegen israelische Frauen, an die Vergewaltigungen durch Hamas-Terroristen. Immer der Gedanke, wie sie heute umgeben von männlichen Geiselnehmern irgendwo in Gaza festgehalten wird.

Sein Leben lang habe er ihr geholfen, wenn sie rief. „Doch seit 100 Tagen kommt Papa nicht.“

Vor 101 Tagen fielen Terroristen der palästinensischen Hamas in Israel ein, ermordeten mehr als 1200 Menschen bestialisch und nahmen über 200 Geiseln. Insbesondere Frauen wurden Opfer brutalster Verstümmelungen und Gewalt. Israels Militär antwortete mit einer groß angelegten Operation im Küstenstreifen, im November kamen einige israelische Geiseln im Tausch gegen palästinensische Gefangene frei. 136 Geiseln sind bis heute in Gaza – ihr Zustand ist ungewiss.

Neben seiner Tochter Arbel vermisst Yehiel Yehoud auch seinen Sohn Dolev. Der 35-jährige Sanitäter lebte mit Frau und drei Kindern in Nir Oz, einem Kibbuz an der Grenze zu Gaza. Die Geburt des vierten Kindes verpasste Dolev Yehoud, er war zu diesem Zeitpunkt schon in Gaza.

Der Vater ist nach Berlin gekommen, um auf die Entführungen aufmerksam zu machen. Mit Angehörigen neun weiterer Geiseln trifft Yehoud unter anderem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Sie erhoffen sich mehr diplomatischen Einsatz, auch über Deutschlands Kontakte nach Katar. Einzelne Geiseln haben auch die deutsche Staatsangehörigkeit.

Die deutliche Solidarität deutscher Politiker loben sie alle. Am Sonntag demonstrierten die Angehörigen neben dem israelischen Botschafter Ron Prosor in Berlin, auf einem gelben Flügel in der James-Simon-Galerie spielte der Pianist Igor Levit ein kurzes Solidaritätskonzert mit den Entführten. Das Klavier erinnert an Alon Ohel, einen jungen Pianisten.

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Idit Ohel und der Pianist Igor Levit. Bei der Aktion des World Jewish Congress wird an öffentlichen Orten auf einem gelben Flügel gespielt, um an die Hamas-Geiseln zu erinnern dpa/Jörg Carstensen

Am Montagmorgen sitzt seine Mutter Idit in einem Konferenzraum der israelischen Botschaft in Berlin und zeigt ihre schönste Erinnerung an Alon. Ein Foto von einem Flughafen in Thailand, nur wenige Wochen vor seiner Entführung geschossen. Der junge Mann umarmt darauf seine Mutter, sein ganzes Gesicht strahlt vor Glück. Die Mutter zeigt das Foto und weint. „Ich will meinen Sohn genau so sehen, stark, wie er mich mit seiner Hand greift und lacht.“

Doch Idit Ohel hat auch andere Bilder. Auf ihrem Tablet zeigt sie Fotos von ihrem Sohn in einem Raketenschutzbunker, eng neben anderen jungen Besuchern des von Terroristen überfallenen Nova-Musikfestivals. Sie versteckten sich dort, bis auch sie gefunden wurden, Terroristen warfen Handgranaten in den Bunker. Nur wenige überlebten.

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Das Treffen in der israelischen Botschaft in Berlin Martin U. K. Lengemann/WELT

Auf einem Video ist zu sehen, wie ein junger Mann auf einen Pick-up-Truck geladen wird. Wo seine Hand war, hängen Fleischfetzen.

Alon Ohel liegt neben dem Auto auf dem Boden, ein Terrorist schleift ihn an den Haaren über den Staub. Idit Ohel will zeigen, was ihrem Sohn zugestoßen ist. Im Februar wird er 23 Jahre alt. „Ich will ihn davor zurück.“

Sie selbst kam frei, ihr Mann ist in der Gewalt der Hamas

Raz Ben Ami ist zurück, nach 54 Tagen verließ sie die Geiselhaft in Gaza. Doch der Schrecken ist noch da. „Ich bin immer noch eine Geisel“, sagt die 57-Jährige aus dem Kibbuz Be’eri an diesem Montagmorgen. Denn ihr Mann Ohad wird bis heute als Geisel gehalten.

„Ich weiß, wie es dort ist“, sagt Ben Ami. Nie wisse man, ob man etwas zu essen bekomme. Nie wisse man, wann man wieder Tageslicht sehe. Nie wolle man die Augen schließen, weil Terroristen eine Pistole auf den Kopf richten könnten. „Eine Geisel zu sein heißt, sich hilflos zu fühlen, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren.“

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„Mein Ohad, ich verspreche dir, wir kommen zurück“, sagt Raz Ben Ami an ihren Mann gerichtet Martin U. K. Lengemann/WELT

Nach Berlin begleitet wird Ben Ami von ihrer Tochter. Sie habe von der Entführung ihrer Mutter damals aus dem Internet erfahren. Auf Facebook habe sie ihre Mutter in einem Video gesehen, barfuß und im Pyjama, umgeben von Hamas-Terroristen, kurz vor dem Grenzzaun. Ihren Vater Ohad habe sie auf Telegram-Videos erkannt.

„Ohad ist die optimistischste und romantischste Person, die ich je kannte“, erzählt seine Frau in der israelischen Botschaft. Er sei verletzt, brauche dringend medizinische Behandlung. Jede Minute zähle für den ebenfalls 57-Jährigen. Die Freilassung der Geiseln müsse höchste Priorität haben.

„Mein Ohad, ich verspreche dir, wir kommen zurück“, spricht Ben Ami zu ihrem Mann. „Unsere Liebe ist die stärkste der Welt. Sie wird gegen die Hamas und andere Terroristen gewinnen.“

Eine Flasche Rotwein steht vor Efrat Machikawa, daneben eine Sanduhr. „Gadi hat keine Zeit, er wird 80 Jahre alt im März“, sagt sie. „80 Jahre alt, in Gefangenschaft.“

„es sind nicht nur wir. diese extremisten, diese terroristen können zu euch kommen“

Efrat Machikawa Martin U. K. Lengemann/WELT

Ein Foto zeigt Machikawas Onkel, einen fröhlichen Mann. Überall in der Welt habe der frühere Agronom mit Landwirtschaftsprojekten geholfen. Mit seinen Freunden stelle Moses den Wein als Hobby in Nir Oz her. Der kleine Kibbuz lebte von jener Landwirtschaft, in den 1950er-Jahren wurde er von sozialistischen Zionisten übernommen. Sie glaubten an Gemeinschaft, an Koexistenz mit den Arabern, an Frieden.

Jeder vierte Bewohner von Nir Oz wurde entweder ermordet oder verschleppt. „Eins, zwei, drei, ich. Eins, zwei, drei, er“, zählt Machikawa auf. Die Welt müsse verstehen, dass es jeden treffen könnte. „Es sind nicht nur wir“, sagt die Frau. „Diese Extremisten, diese Terroristen können zu euch kommen.“

„Israel ist das Schild gegen den Terror in Europa“, warnt auch Alon Nimrodi. „Wir sind das Schild, das euch vor dem Terror beschützt.“

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Alon Nimrodi Martin U. K. Lengemann/WELT

Im November wurde Nimrodis Sohn Tamir 19 Jahre alt. Zu seinem Geburtstag seien weltweit rund eine halbe Million gelbe Luftballons in den Himmel emporgestiegen, erzählt Nimrodi. Sein Sohn war als Soldat am Grenzübergang Eretz stationiert, habe als Lehrer in seiner Einheit gedient. Mit zwei Kameraden sei er als einer der Ersten entführt worden. Deren Leichen wurden mittlerweile geborgen. Von Tamir Nimrodi keine Spur.

„Mein Tamir hat viele Werte“, sagt der Vater. Auf der Militärbasis seines Sohnes habe man Bewohnern Gazas geholfen, etwa wenn sie eine Arbeitsgenehmigung in Israel hatten. Drei Regeln habe der junge Mann sich für seine Zeit als Soldat gesetzt. Er schrieb sie auf eine kleine Tafel, die sein Vater mit nach Berlin gebracht hat und vorliest. „Die Erste: So vielen Menschen helfen, wie ich kann. Die Zweite: Eine große Gruppe guter Freunde finden. Und die Dritte: Verletze niemanden“, übersetzt Nimrodi. „Das ist mein Sohn, 19 Jahre alt.“

Die Geiseln hätten keine Zeit, betont der Mann. Viele von ihnen seien verletzt, brauchten Medikamente. Den Schrecken in Gaza könne man sich kaum vorstellen.

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