Aktivistin starb an Krebs: Michaela Murgias Buch „Drei Schalen“

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Ihre Stimme fehlt: Die Schriftstellerin und Aktivistin Michela Murgia bei einem Workshop 2019 in Rom

Im Mai vor einem Jahr, kurz bevor Michela Murgia auf der Turiner Buchmesse ihr Werk „Drei Schalen“ präsentierte, erschien im „Corriere della sera“ ein langes Interview mit der sardischen Schriftstellerin und Aktivistin. Wer sich die Zeitung nicht schon morgens gekauft hatte, holte das im Laufe des Tages nach, weil das bewegende Interview sofort Gesprächsthema war.

Der Journalist Aldo Cazzullo hatte es geführt. Beim „Corriere“ ist er der Redakteur für besondere Aufgaben. Was er Murgia entlockte, wirkte wie eine Art literarisches, existenzielles und politisches Manifest – und wie ein Testament. Cazzullos erste Frage lautete: „Michela Murgia, Ihr neues, großartiges Buch ‚Drei Schalen‘ beginnt mit der Diagnose einer unheilbaren Krankheit. Ist darin etwas Autobiographisches enthalten?“

„Es stimmt wortwörtlich. Es ist die Erzählung dessen, was mir widerfährt. Dia­gnose inbegriffen.“

„Sie schreiben: ‚Nierenkarzinom im vierten Stadium‘. Gibt es keine Hoffnung?“

„Ab dem vierten Stadium gibt es keinen Weg zurück.“

Das Bekenntnis erschütterte Murgias Leserinnen und Leser und die politische und intellektuelle Szene zutiefst. Die kämpferischste und bedeutendste Intellektuelle des Landes, die von Italiens rechtem Milieu gehasst wurde, seitdem sie 2018 ihre Polemik „Faschist werden: Eine Anleitung“ schrieb, hatte ihre Krankheit bis dahin nicht öffentlich gemacht. Nun erklärte sie dem Journalisten, sie habe schon während der Pandemie gewisse Symptome bemerkt. Wegen des eingeschränkten Zugangs zu Ärzten und Krankenhäusern sei sie jedoch nicht zur Kon­trolle gegangen. Und jetzt: Metastasen in der Lunge, in den Knochen, im Gehirn.

aktivistin starb an krebs: michaela murgias buch „drei schalen“

Michela Murgia: „Drei Schalen“. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Verlag Wagenbach, 160 Seiten, 20 Euro.

Sie habe sich jetzt ein Haus gekauft, groß genug, um die ihr verbleibende Zeit mit ihrer queeren Wahlfamilie verbringen zu können. Ein Haus mit zehn Betten. Und sie werde heiraten, nicht nur wegen der Rechtssicherheit. Einen Mann? „Einen Mann, aber es hätte auch eine Frau sein können. Gegenseitige Fürsorge kennt kein Geschlecht.“

Michela Murgia wirkte bewundernswert ruhig, mutig und klar in dem Gespräch mit Aldo Cazzullo. Nein, sie empfinde keine Wut. Aber tiefe Dankbarkeit, Erfahrungen und Erinnerungen gesammelt zu haben, die „zehn Leben“ füllten. Murgia wusste, die Immuntherapie, die sie machte, würde ihr keine Heilung schenken. Nur ein paar Monate mehr Zeit. Sie wünsche sich, erst dann aus dem Leben zu gehen, wenn Giorgia Meloni nicht mehr Ministerpräsidentin sei, sagte sie.

Drei Monate später, am 10. August 2023, starb Michela Murgia mit 51 Jahren. Wenige Tage zuvor hatte sie noch ein weiteres Buch, „Dare la vita“ („Leben schenken“) vollendet, es versammelt ihre Gedanken zu alternativen Modellen von Elternschaft und Familie und liegt seit Januar in den italienischen Buchläden. Auf Deutsch ist es jetzt unter dem Titel „Drei Schalen“ erschienen. Es war in Italien wochenlang ein Bestseller.

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Foto Cecilia Fabiano /LaPresse 12– 8— 2023—Roma — Italia — Cronaca — Funerale di Michela Murgia — Nella Foto : Roberto Saviano porta la bara.August 12, 2023 —Rome Italy — News — Michela Murgia funeral — in the Photo : the funeral (Credit Image: © Cecilia Fabiano/LaPresse via ZUMA Press

Das Buch entfaltet sich in zwölf Erzählungen, deren Protagonisten lose mitein­ander verknüpft sind, ohne in direktem Bezug zueinander zu stehen. Der Onkologe etwa, der in der ersten Erzählung der Protagonistin mitteilt, dass sie einen Tumor an der Niere hat, steht in einer späteren im Vordergrund. Es ist, als habe Murgia sich beim Schreiben den Blick aus dem Himmel auf das irdische Beziehungsgeflecht vorgestellt. Sie verengt die Perspektive, zoomt nah an jemanden heran, verfolgt mit fast wissenschaftlich-interessiertem, aber zärtlichem Blick dessen Nöte und intimsten Geheimnisse, erweitert die Perspektive dann wieder und schwenkt weiter.

Alle bleiben namenlos, was den Eindruck verstärkt, Zeugin oder Zeuge eines laufenden Geschehens zu sein: Eine Frau verliebt sich in die Pappfigur eines koreanischen Sängers, den sie vor ihrem Mann im Kleiderschrank versteckt, und ein Mann – der Onkologe – kann nicht mehr von einem Miniatur-Prätorianer lassen; eine Frau hasst Kinder, trägt in ihrem Uterus aber ein Baby für einen Freund und dessen Partnerin; ein Mann verlässt seine Freundin, bleibt aber in gemeinsamen Erinnerungen gefangen; eine Schülerin ritzt sich, eine Frau täuscht einen Orgasmus vor, eine andere erbricht sich wochenlang aus Wut und enttäuschter Liebe.

Der Kleiderschrank als Rüstkammer

Es sind Frauen und Männer, deren Welt sich auf eine Weise verändert, dass die Zerbrechlichkeit ihres Selbst zum Vorschein kommt, oder die nach einer medizinischen Diagnose einen radikalen Wandel durchleben. Alte und neue Rituale werden zu vermeintlichen Überlebensressourcen, aber der menschliche Körper stirbt eben trotzdem – und das ist der rote Faden dieser Geschichten. Murgia webt daraus kein Klagetuch. Die Protagonisten verheimlichen ihre Zweifel und Krankheiten nicht, und Murgia erzählt sie nicht im Duktus der Katastrophe. Sie gehören zum Leben dazu.

Diese Haltung spricht besonders aus der ersten Geschichte. In einer schnörkellosen, poetischen Sprache schreibt Murgia über eine Frau, die in einem Krankenhaus in Rom, man trägt noch Maske, mit einer schwerwiegenden Diagnose konfrontiert wird. Sie ist Autorin, spricht mehrere Sprachen, lernt Koreanisch – der autobiographische Bezug ist unübersehbar. Die Frau legt auch Wert auf ihre Garderobe, da sie nicht reich geboren wurde.

Sie weiß, Kleider wirken mehr auf die, die sie sehen, als auf die, die sie tragen: „Die Kleiderwahl für diesen Termin war sie planmäßig angegangen, nur erstklassige Designer, dabei schlicht, nicht wie für ein Date, sondern eher, um eine vornehme Dame mit generationenaltem Reichtum zu beeindrucken oder um bei einer wichtigen Vertragsverhandlung nicht zu interessiert zu wirken oder um sich Respekt zu verschaffen. Ihr Kleiderschrank war eigens dafür gemacht, eine Rüstkammer mit verschiedenen gut geschnittenen Waffen namhafter Hersteller, eine für jeden der Kriege, in denen sie sich keine Niederlage erlauben durfte.“

Sie habe eine Neoplasie an der Niere, sagt der Arzt. Eine Neubildung, ein neues Leben eigentlich, das aber zum Tod der Frau führen wird. Was habe ich falsch gemacht?, fragt die Frau, die nicht raucht, selten trinkt, Vegetarierin ist. Er würde nicht von einem Fehler sprechen, sagt der Arzt. Menschen seien hoch entwickelte Organismen und als solche eher anfällig für Fehlleistungen: Einzellige Organismen haben keine Neoplasmen, „aber sie sprechen auch keine Sprachen. Amöben schreiben keine Bücher.“

Die Frau beschließt, den Krebs als Komplizen ihrer Komplexität zu begreifen, „als ein verirrtes Teil ihres hoch entwickelten Körpers“, als „einen Fehler, den es zu beheben gilt“, und „nicht als Feind, den man bekriegt“ – denn das bedeutete, Krieg gegen sich selbst zu führen. Sie gibt dem Tumor einen koreanischen Namen. Das Wort vom anderen Ende der Welt soll Distanz zwischen ihr und der Diagnose schaffen. Sie würde sie sonst nicht aushalten.

Von einer anderen Art des Nicht-mehr-aushalten-Könnens erzählt „Familienverhältnisse“. Auch hier steht eine Frau im Zentrum. Murgia hat eine schöne Sex-Szene für sie geschrieben. Zunächst ist in der Erzählung jedoch Sonntag, und wie jeden Sonntag haben die Frau und ihr Ehemann, ein dreiundzwanzig Jahre älterer Regisseur und Professor an der Filmhochschule, Freunde und Bekannte aus dem kulturbetrieblichen Dickicht Roms zum Mittagessen eingeladen.

„Die Organisation dieses allwöchentlichen Rituals kostete sie viel Kraft, und gerne hätte sie dafür eine Haushaltshilfe geholt, doch ihr Mann fand, er sei zu links, um sich gegen Bezahlung von jemandem bedienen zu lassen.“ Also bedient seine Frau, die früher seine Studentin war und ihn nach langer Affäre dazu brachte, seine Familie zu verlassen. Das erreichte Ziel entpuppt sich immer mehr als Verlustgeschäft. Sie wird weder von ihm noch von den Künstlerfreunden als ebenbürtig betrachtet. Das Maß ist voll, als er einer Sterilisation zustimmt, ohne sich zuvor mit ihr, die Kinder möchte, zu besprechen und damit auch über ihren Körper verfügt.

Über Körper hat Michela Murgia immer wieder geschrieben. Auch über ihren eigenen. Er war oft das Ziel verbaler Hetze aus rechten Kreisen, da er sich gängigen weiblichen Schönheitsidealen entzog. Für Murgia war ihr Körper ein politischer, der wie bei Pier Paolo Pasolini in den Kampf geworfen wird. Bis zuletzt postete sie Fotos aus dem Krankenbett, lächelnd, mit kahlem Kopf.

Sie hat erzählt, wie sie an ihrem fünfzigsten Geburtstag fünfzig Kleider aus ihrer „Rüstkammer“ nahm, sie an Bäume hängte, und jeder ihrer Freunde suchte sich eines aus, als Erinnerung und um dem Stück ein weiteres Leben zu geben. Am Ende ihres Buches zelebriert eine Frau das gleiche Trauerritual. Die einstige Besitzerin, ihre Schwester, ist jedoch schon tot, und jeder, der sie liebte und möchte, darf ein Kleid mitnehmen.

Nur durch den Krebs hätte sie die Energie gefunden, ihre „Drei Schalen“ in nur drei Monaten zu schreiben, sagte die Schriftstellerin gegenüber dem „Corriere“. Michela Murgia hat aus etwas Schrecklichem etwas sehr Schönes gemacht. Wie gute Literatur das eben kann.

Michela Murgia: „Drei Schalen“. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Verlag Wagenbach, 160 S., 20 Euro.

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